Marslandschaften

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Angela und Karlheinz Steinmüller

Marslandschaften

Phantastische Erzählungen und ein Hörspiel

Angela und Karlheinz Steinmüller

Werke in Einzelausgaben. Band 10

Herausgegeben von Erik Simon

Impressum

Angela und Karlheinz Steinmüller: Marslandschaften

Phantastische Erzählungen und ein Hörspiel

(Werke in Einzelausgaben. Band 10)

Herausgegeben von Erik Simon

Vignette von Thomas Hofmann

Originalausgabe

Erste Auflage 2020

© 1978–2020 Angela und Karlheinz Steinmüller

(für die Erzählungen, das Hörspiel und das Vorwort)

Die Daten der Erstpublikationen sind der »Publikationsgeschichte« am Ende des Bandes zu entnehmen.

© 2020 Erik Simon und Memoranda Verlag

(für die Zusammenstellung dieser Ausgabe)

© 2020 Thomas Hofmann (für die Vignette)

© dieser Ausgabe 2020 by Memoranda Verlag, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

Redaktion: Erik Simon

Korrektur: Christian Winkelmann

Gestaltung: Hardy Kettlitz & s.BENeš [www.benswerk.com]

Memoranda Verlag

Hardy Kettlitz

Ilsenhof 12

12053 Berlin

www.memoranda.eu

www.facebook.com/MemorandaVerlag

ISBN: 978-3-948616-42-7 (Buchausgabe)

ISBN: 978-3-948616-43-4 (E-Book)

Inhalt

Inhalt

Impressum

Reisen auf der eigenen Zeitlinie

Hier

Die Aura

Bertram C.

Auf schwankendem Boden

Upgrade für Sandra Meier

Begegnung im Terminal

Schneller als Einstein erlaubt

Jaschtschik P-302

Dort

Kontakttest

Immer schön abtauen

Gulasch à la Ganymed

Krieg im All

Wiedergeburt

Dann

Churchill im Fernsehen

Zeit-Kur

Mit Einstein auf dem Gurten

Fernschach

Bücher müssen brennen!

Marslandschaften

Publikationsgeschichte

Bücher bei MEMORANDA

Reisen auf der eigenen Zeitlinie

Ein Vorwort der Autoren

Eigene Texte aus vergangenen Jahrzehnten sind eine Einladung zur Zeitreise. Sechs Erzählungen und ein Hörspiel aus DDR-Zeiten haben wir in diesen Band aufgenommen, und während wir sie noch einmal abtippten und für den Druck vorbereiteten, riefen die Sätze Erinnerungen wach: Ja, über diese Formulierung haben wir damals gestritten. War sie zu emotional oder nicht? Dagegen das Technik-Stakkato in »Zeit-Kur«! Und wie knapp wir uns bei dem armen, wettergeplagten Bertram C. ausdrückten …

Vor allem aber stiegen Erinnerungen an die bröckelnden Fassaden im Prenzlauer Berg wieder empor, an den allgegenwärtigen Geruch von Zweitaktern und Ofenheizung, an die parteiamtliche Phrasendrescherei. Man wartete jahrelang auf einen Telefonanschluß und noch länger auf einen Trabant oder Wartburg. Es gab Betriebsgewerkschaftsgruppen und Aufmärsche zum »Internationalen Kampf- und Feiertag der Werktätigen«, und fast jeder zweite war (wie wir) zwangsweise freiwillig Mitglied der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft. Am Abend saßen wir bei einer Flasche Rosenthaler Kadarka (zu süß) oder Erlauer Stierblut (zu sauer) mit Freunden und Bekannten zusammen und diskutierten die angespannte Weltlage – auch mit einem Diplom-Mathematiker und Hobby-Lyriker, der später als IM enttarnt wurde.

In der Regel vermieden wir in unseren Storys allzu direkte Schilderungen der meist grauen, hier und da auch plastquietschbunten DDR-Realität. Die ferne Zukunft und der Weltraum boten einen Freiraum, den wir in Storys wie »Kontakttest« oder »Krieg im All« nutzten. Gedankenspiele waren aber auch viel näher an unserem damaligen Hier und Heute möglich, etwa wenn wir den tristen Büroalltag unseres Antihelden Jochen Matzek beschrieben oder die Datschen-Idylle des Fernschach-Spielers Paul Rohte ausmalten. Dessen Familie flieht aus der Gegenwart in eine bessere Zukunft, deren geographische Lage der geübte DDR-Leser leicht erahnen konnte. Selbst in den Titel unseres Hörspiels »Gulasch à la Ganymed« ist ein Stück längst verflossene Realität eingedrungen: Ganymed, so hieß eines der wenigen Gourmet-Restaurants Ostberlins.

Über dreieinhalb Jahrzehnte sind diese Texte inzwischen gealtert, wir haben ihnen keine verbale Verjüngungskur verpaßt; die würde doch nur wie grelle Schminke wirken. Auch gibt es kein einziges Wort, das uns heute als Lippendienst an die Staatsideologie peinlich wäre. Man fragt sich allerdings: Haben wir damals anders geschrieben? Sicher, manches würden wir heute anders ausdrücken, schon weil sich der Wortschatz gewandelt hat. Mit den modischen umgangs- und bürosprachlichen Anglizismen haben wir uns aber nicht anfreunden können – außer wir brauchen sie gerade in einem Text.

Wahrscheinlich ist der Kontrast zu den neuen Storys gar nicht so groß. Auch die Erzählungen, die wir in den letzten Jahren verfaßt haben, verleugnen den Geist ihrer Zeit nicht. Wir leben heute wie die Neu-Atlantier auf schwankendem Boden und wundern uns nicht selten, in was für eine Epoche es uns verschlagen hat. Computer tragen wir wundervoll miniaturisiert in der Jackentasche, wir sind vernetzt und mobil, wir sind wie manche unserer Helden viel zu häufig auf Reisen, wenn wir auch noch nie ein Upgrade ins Oberdeck des Airliners erhalten haben (aber immerhin schon einmal einen Begrüßungs-Champagner). Wir kennen die Blitzer in Wolfsburg, und wir wissen inzwischen, wie man Einkommensteuererklärungen (im Steuerrecht ohne Fugen-s!) und Umsatzsteuer-Voranmeldungen abgibt. Ja, genauso haben wir uns lebenslanges Lernen immer vorgestellt … Wo wir früher unter Informationsmangel litten, werden wir heute mit Texten und Bildern förmlich zugeschüttet, und häufig überlegt man: Fakt oder Fake News? Das war ehedem gewiß nicht besser, noch nicht einmal im antiken Alexandria. Und sind wir nicht selbst eifrige Produzenten von Fake Futures?

Wer will, findet in unseren neueren Storys einen Nachhall der Finanzkrise, einen Kommentar zu Putins Rußland und sicherlich auch einen Schuß Nostalgie nach einer Weltraum-Zukunft, die es nie geben wird. Wie damals reiben wir uns an der Realität, seien es bornierte Zeitgenossen, aufdringliche Medienvertreter oder die unablässige Aufgeregtheit und Sensationshascherei. Spätestens dann ist es wieder da, das uns von früher vertraute allgegenwärtige Gefühl, daß es bei allem Tempo und aller Hektik kaum vorangeht, man sich bestenfalls im Kreis dreht. Bis dann eine Pandemie zuschlägt, und die Verhältnisse ins Rutschen kommen.

Ein wenig werden wir auf unserer Zeitlinie selbst zu Zeitreisenden, die zwischen den Jahrzehnten hin und her springen und doch nur wenig vom Fleck kommen. Vielleicht sollten wir in weiteren dreieinhalb Dekaden wieder einmal auf unsere Texte schauen – als Cyborgs, die regelmäßig zur Inspektion müssen, die den Ersatzteilen aus afrikanischer Produktion mißtrauen und überhaupt Mühe haben, den Allround-Service versichert zu bekommen. Vielleicht werden wir dann zurückschauen: Ach, was waren das für gemütliche Zeiten, als Erzählungen noch von Menschen verfaßt wurden und sich nicht nach dem einmaligen Lesen in virtuelle Luft auflösten!

Hier

Die Aura

oder Im Zustand der Gnade

»Schau dir diesen Humbug an!« Selten hatte Sebastian Gruber seinen Freund Devin so aufgebracht erlebt. Er beugte sich nach vorn, um den Bildschirm von Devins Tablet besser zu sehen, rückte die Brille zurecht. Da lief eine ganz gewöhnliche Straßenszene, aufgezeichnet am Marktplatz mit seinen Händlerbuden. Passanten wechselten mehr oder weniger gestreßt und eilig über den Fahrdamm. Unter ihnen ein Mann in graubrauner Lederjoppe. Ihn umgab von Kopf bis Fuß eine Art heller, milchiger Nebel. Ein Bildfehler? Ein Beleuchtungseffekt?

 

»Mann, hast du eine lange Leitung«, grummelte Devin. »Da hat uns jemand den Heiligenschein gestohlen!« Er betonte jede Silbe: »ge-stoh-len«. »Eine Unverschämtheit. Verletzung unserer Patentrechte!«

Sebastian lehnte sich zurück. Er kannte Devin gut genug, um zu wissen, daß sein Freund, hatte er sich erst einmal in eine Idee verbissen, nicht lockerlassen würde.

Devin kam um den niedrigen Glastisch herum, nahm neben Sebastian Platz auf der Sitzbank. Grell fiel das Licht aus der breiten Fensterfront in den »Inspiration Space«, den Raum für lockeres Nachdenken mit seinen grün bewachsenen Raumteilern, den beiden rosaroten Hängesitzen und dem abstrakten Wandgemälde in Schwarz, Weiß und Dunkelblau, das angeblich von einer Robbe im Tierpark gemalt worden war. In der Ecke am Espressoautomaten tuschelten Torsten und Annika, zwei ihrer jungen Mitarbeiter.

»Also wie unser Heiligenschein sieht das nicht aus«, wandte Sebastian ein. Drei Jahre war es her, kurz nach seiner Scheidung. Damals hatten sie eine App auf den Markt gebracht, die, wenn man das Handy als Kamera benutzte, Personen, die man durch Antippen auswählen konnte, einen Heiligenschein verpaßte. Das machte sich auf Selfies oder Bildern von Kameraden ganz gut: Seht mal, hier wandelt ein Heiliger unter Normalmenschen! Devin und er hatten damals überlegt, ob sie die Funktion mit einer Gesichtserkennung kombinieren sollten, so daß ausgewählte Personen – spezielle Freunde oder alle Kontakte im Adreßbuch – stets so einen Heiligenschein erhielten. Merkwürdigerweise hatte er sich stets Laura, seine besserwisserische Ex, als so eine Schein-Heilige vorgestellt. Letztlich hatte sich die App jedoch nicht sonderlich gut verkauft, außerdem hatten einige Nutzer – wohl allesamt Katholiken – protestiert. Daraufhin hatte Raitan Gruber App Solutions, wie ihre Firma damals noch hieß, die Entwicklung eingestellt.

»Hörst du mir zu, Basti?« Devin rückte noch ein Stück näher. »Ich will zuerst einmal wissen, wie das technisch funktioniert. Die Szene hat mir meine Tochter geschickt. Liane schwört, sie hätte keine spezielle App installiert, und auch bei ihren Freundinnen wären schon solche, wie sie sagt, ›Strahlemänner‹ aufgetaucht.«

»Dann wird es wohl ein Virus sein, der die Bildverarbeitung befällt, oder vielleicht, noch einfacher, ein Bug in der Kamerasoftware.«

»Herstellerübergreifend? Modellunabhängig? – Da ist uns jemand nicht bloß eine Nasenlänge voraus!«

»Die benutzen alle dieselben Chips. Nur die Namen, die Marken – und die Preise – unterscheiden sich. Vielleicht haben sogar alle Freundinnen deiner Tochter dasselbe Modell. Weil das gerade Mode ist wie damals, als alles mit einem i beginnen mußte.«

»Mann, stellst du dich heute wieder stur, Basti.« Devin atmete tief ein und fuhr sich dann mit der Hand durch das graue Haar. »Nicht allein auf Smartphones, auch auf Tablets …«

»Alles Android oder iOS oder Windows mobile … Und wenn, dann brauchen wir als erstes mehr Beispiele, mehr Bilder oder Videos mit diesen umflorten Gestalten. Wenn uns deine Tochter und ihre Freundinnen mehr davon schicken würden? Und dann sollten wir ihren Handy-Speicher auslesen.« Devin mußte wissen, daß sich die jungen Leute kaum darauf einlassen würden. Damit hatte sich die Angelegenheit erledigt, und er, Sebastian, konnte sich wieder seinen neusten Ideen zur Emotionserkennung bei Tieren zuwenden.

In dem Moment kam Annika heran, Torsten im Schlepptau. »Chefs, eine Sekunde?« fragte sie, wobei ihr Pferdeschwanz wippte. Sebastian nickte, doch Devin ging sofort in Abwehrhaltung. Sebastian versetzte ihm einen sanften Rippenstoß: Gerade im »Inspiration Space« sollte man immer Zeit für die Mitarbeiter haben. Interaktion brachte Innovationen hervor.

»Da ist was im Busch.« Annika, resolut und selbstbewußt, legte ihr Smartphone neben das Tablet auf den Tisch. »Das geht schon den ganzen Morgen so. Facebook, Twitter, einfach überall.« Auch Torsten hielt nun sein Gerät Sebastian und Devin hin, Annika wischte von einer Seite zur nächsten. Und jetzt erkannte Sebastian, was sie zeigen wollten: Menschen mit diesem ominösen Strahlenkranz! Auf Privatfotos, Medienseiten, selbst in YouTube-Videos. Hier ein Fußballstar, der gerade den Verein wechselte, da eine Touristin vor der Porta Nigra in Trier, dort ein chinesischer Wachsoldat, der mit seinen Kameraden an irgendeiner Parade teilnahm, eine ältere Frau mit Rollator. – Letzteres war offensichtlich die Aufnahme einer Überwachungskamera. Und sie alle umgab ein feines, durchsichtiges, helles, fast schon strahlend weißes Gebilde. Es hüllte den gesamten Körper von Fuß bis Kopf ein, machte jede Bewegung mit, klebte wie ein privater Nebel an der Person.

In den sozialen Medien gab es bereits die ersten Kommentare: Überall auf der Welt würden »Leute mit Aura« gesichtet. Erste Beobachtungen etwa ab null Uhr GMT. Eine Werbeaktion – von wem? Was konnte es sonst sein? Kunst?

Sebastian lehnte sich zurück. Bei ein, zwei vereinzelten Vorfällen hätte er an einen ziemlich aufwendigen Scherz glauben können, so einen, wie sie sich Nerds ausdachten. Aber bei Hunderten von Fällen? Und wieso war er nicht selbst darauf gestoßen? Er langte nach Devins Tablet, tippte und wischte: Die Aura war inzwischen sogar in die Nachrichtenportale gelangt. Einer der Kommentatoren ereiferte sich heftig gegen den »esoterischen Begriff aus der Blogosphäre«. Streng genommen handele es sich um eine Aureole! Die wenig beliebte französische Landwirtschaftsministerin besaß eine solche Aura oder Aureole, ebenso ein Regenschirmträger des Bundespräsidenten. Hatte das etwas zu bedeuten?

»Besprechung«, befahl Devin. »Trommelt das Team zusammen, Annika, Torsten. Das geht uns alle an.«

Fünf Minuten später trafen sie sich – alle fünfzehn Mitarbeiter – im Meeting Room, einem fensterlosen Raum mit einer hellblau erleuchteten Decke, die einen leicht bewölkten Himmel nachahmte. Normalerweise galt hier Smartphone-Verbot – heute jedoch nicht. Der Anlaß hatte sich herumgesprochen. »Das ist eine Invasion«, witzelte Steve, der für die Hardware zuständig war. »Nur nicht die Invasion der Body Snatcher, sondern der Body Wrapper.« »Der moldawische Präsident soll auch eine Aura haben.« »Virales Marketing, was sonst …« »Das haben sich Hacker ausgedacht! Die treffen sich doch gerade … Soll vielleicht auf das Hackathon hinweisen.«

Sebastian ließ sich in einen Sessel fallen und lehnte sich zurück. Kaum passiert etwas, dachte er, spielen alle verrückt. Überdreht sind unsere »High Potentials« sowieso, aber jetzt … Selbst Devin fiel es schwer, »das Gequatsche«, also den lebhaften informellen Meinungsaustausch, zu unterbinden. Das Räuspern, mit dem er sonst Meetings einleitete, ging in dem Lärm unter. Er hieb mit der flachen Hand kräftig auf den Tisch. »Also Leute!« Schlagartig war Ruhe.

Sebastian erhob sich, straffte sich und ging in den Workshop-Modus über. Er nickte Annika zu, die stellte sich an das Flipchart, um Notizen zu machen. »Tragen wir zusammen, was wir wissen. Welche Geräte, welche Plattformen sind betroffen, welche nicht? Wissen wir etwas über die Verbreitungswege?«

Das Bild erhielt mehr Details, aber nichts fügte sich zu einem Ganzen. Anscheinend waren tatsächlich beliebige Smartphones, Kameras und andere Handhelds, Tablets, Laptops betroffen. Zumindest die neueren Modelle. Angeblich konnte man, einem Tweet zufolge, der heftig weitergegeben wurde, auf einem inzwischen über zehn Jahre alten Smartphone die »persönlichen Strahlenkränze« nicht sehen. Hieß das, daß nur die neueren Betriebssysteme befallen wurden? Alle schienen sich einig zu sein, daß nur eine Art Virus – ein sehr potentes Virus – die Anomalie hervorrufen konnte. Aber Annika malte ein Fragezeichen hinter das Wort.

»Ist das BSI schon dran? Was sagen McAfee, Bullguard, Norton dazu? Gibt es Warnungen aus der Datenschutz-Szene?« Er mußte nicht erwähnen, daß es sich um den gravierendsten Sicherheitsbruch seit den Attacken mit Erpresser-Software vor einigen Jahren handelte, das verstanden alle im Raum, selbst die Grafikdesigner, die derartige Fragen eigentlich nichts angingen.

Bert, der Datenschutzverantwortliche, fühlte sich jetzt doch angesprochen. »BSI – niente, ich bekomme nur Kontakt mit dem üblichen Abwimmel-Bot. EuroSec – rien. Kaspersky – null Komma nichts, nein, doch, gerade eine kurze Verlautbarung: Vermutlich harmlos, aber sie arbeiten dran. – Also, ich bleibe an der Sache. Aber ich bin sicher, das ist kein normales Virus, kein Wurm, auch kein Trojaner, der irgendwelche Sicherheitslücken nutzt.« Was es dann sei, konnte er aber nicht sagen.

Das war zwar unbefriedigend, aber es entsprach Sebastians Bauchgefühl. Er ging zum nächsten Problemkreis über: Was wußten sie über die »Strahlemänner und -frauen«, die »Aura-Träger«? Gab es Gemeinsamkeiten? Es handelte sich doch nicht ausschließlich um VIPs, oder? – Wie zu befürchten, hagelte es eine wilde Mischung von Beispielen, sogar – wohl beim Selfie-Schießen entdeckt? – aus dem persönlichen Umfeld: Hier eine Mitschülerin, da der Busfahrer, eine Nachbarin. Auf den ersten Blick herrschte hier der Zufall. Und auf den zweiten? Hatte jemand eine Idee? Auf den verstreuten Beispielen ließ sich auch keine Statistik aufbauen, akzeptiert. Immerhin hatte Torsten eine Website gefunden, auf der Bilder mit »Auratischen« gesammelt wurden. Na, fabelhaft – keiner verstand, was vor sich ging, aber einen Begriff hatte man schon. Nun wohl, am Ende würde man sehen … Es würde ihn wundern, wenn nicht bereits Dutzende von Teams weltweit an dem Problem saßen. Je unverständlicher das Ganze, desto geringer waren allerdings ihre Chancen, mit einer Patentverletzungsklage durchzukommen …

Plötzlich lief eine Welle der Unruhe durch den Meeting Room. Alex lachte nervös, Sylvia, die Praktikantin, fiel ein, Bert griff nach seinem Smartphone – und mit einem Mal hatten alle ihre Teile in der Hand und drehten die Rückseiten ihm, Sebastian, zu. Was sollte das? Das war hier kein Foto-Shooting … Und Selfies machte er immer noch selbst von sich.

»Ich fürchte, Basti«, meinte Devin, der ebenfalls sein Telefon hochhielt, halb belustigt, halb irritiert, »dich hat es auch erwischt.«

Da saß er nun an seinem Schreibtisch und wischte sich durch die Bilder, die die Kollegen von ihm gemacht hatten. Auf allen war er die Hauptperson, eben ein »Auratischer«. Er stand am Kopfende des Tischs, hatte die Hände gehoben, keine fragende Geste, eher eine der Überraschung, der Verlorenheit, der Abwehr. Und rings um ihn war dieser Strahlenkranz, diese Ganzkörperaura – als sondere er Helligkeit ab. Nein, als ein Leuchten von innen konnte man es nicht bezeichnen, eher wirkte es wie diese Kirilian-Fotografien, die vor ein paar Monaten in der Ausstellung »EsoKult – Esoterische Kunst aus Rußland« gezeigt worden waren. Wäre nur er betroffen gewesen, hätte er an einen schlechten Witz geglaubt. Und immer noch war er sich nicht sicher, ob es sich nicht doch um eine Kunstaktion oder einfach um eine besondere Werbemaßnahme handelte. Obwohl er immer noch nicht den geringsten Schimmer davon hatte, wer das veranstaltete und auf welche Weise. Die eigenen Mitarbeiter, Bert, Steve, Torsten, auf die er für gewöhnlich große Stücke hielt – schließlich hatte er sie selbst eingestellt –, versagten offensichtlich bei dieser Frage. Das war eben etwas anderes, als eine App zu entwickeln, die den Gemütszustand von Hunden anhand der Körpersprache identifizierte. Aber nichts gegen die App. »Your Dog Speaks« lief wahnsinnig gut. Schon in dritter Version.

Dann ein Screenshot. Hier hatte Alex die Aura entdeckt: Auf ihrer Firmen-Webpräsenz! Da war sein Konterfei, das eines energischen Mitinhabers eines dynamischen und innovativen Unternehmens, modebewußt in schwarzem Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln. Sebastian rief die Seite auf: Die Aura war noch da, hob ihn hervor. Wie blaß Devin dagegen wirkte! Er schaute weiter. Selbst sein Porträt bei LinkedIn war von dem hellen Strahlenkranz umgeben. Wer brachte dergleichen zustande? Wer schaffte es, zugleich Telefone und Websites zu manipulieren … Die einfachste Erklärung war noch immer, daß er spann, sozusagen sein eigenes Gespenst sah. Doch diese gespensterhafte Erscheinung war allen Kollegen erschienen, und er war beileibe nicht der einzige mit der Aura. – Was, zum Teufel, hatte das zu bedeuten? Was für ein Spiel wurde hier gespielt? Und von wem?

Er erhob sich, spazierte reichlich unentschlossen auf den Flur. Vor dem intelligenten Spiegel, den Devin einst angeschafft hatte, um Krawatten virtuell anzuprobieren, hielt er kurz inne. Auch der mannshohe Bildschirm des Spiegels zeigte ihn mit Aura, einer lichten Ganzkörper-Aura, sinnigerweise in Kopfhöhe umgeben von einer zweiten Aura aus Börsen-Charts und Ticker-Meldungen … Schwarze Striche – Pixelausfall – verliehen dem Ganzen einen künstlerischen Anstrich. Kurz entschlossen klopfte er an Devins geöffnete Tür. »Du, was hältst du davon, wenn ich mal bei den Hackern vorbeischaue?«

 

Devin nahm seine Denkerpose ein, lehnte sich vor, faßte sich ans Kinn, zog die Stirn in Falten. »Die meisten«, überlegte er, »halten die Aura für eine Auszeichnung. In den sozialen Medien brüstet man sich damit: Schaut her, ich bin auserwählt! – Was für ein Humbug!« Er richtete sich auf: »Ich bin immer noch überzeugt, daß hier unsere Patentrechte verletzt werden. Das sollte uns schon etwas wert sein. Wenn mir jemand Roß und Reiter nennt, den Algorithmus bringt – das wäre mir …« Er überlegte, fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Was hältst du von 10 000? Gut, 5000 Belohnung – oder Erfolgshonorar – könnten auch genügen. Wir wollen es nicht übertreiben. Aber es geht um die Ehre. Und nun sieh zu, du Strahlemann, Aura-Träger, Auratischer, wie du das Ding wieder loswirst! Ist ja peinlich, so ein Weihnachtsbaum-Kostüm!«

Wenn ihn nicht alles trog, war Devin ein wenig neidisch.

Die riesige Markthalle, die früher Massen von Fischhändlern beherbergt hatte, lag in Halbdunkel, erhellt vor allem durch Hunderte und Aberhunderte von Bildschirmen, vor denen die Nerds saßen, knieten, standen. Ab und zu reckte sich einer, spazierte zwischen den Reihen entlang. In seiner Studienzeit hatte Sebastian selbst an dem einen oder anderen Hackathon teilgenommen. Er kannte den Geruch von warmer Technik und verschwitzten Menschenleibern, von verschütteten Energydrinks – damals, zu seiner Zeit, war Red Bull angesagt gewesen. Vorsichtig stieg er über Kabel, ab und zu knirschte es unter seinen Füßen.

Es hatte wilde Hackathons gegeben, bei denen man Brain Food, Chips und Studentenfutter in kleinen Tütchen mit einer Art Schneekanone in den Raum geblasen hatte. Nach wie vor waren die Mädels in der Minderzahl. – Bei manchen hatte man damals gemunkelt, daß sie nur teilnahmen, weil sie in den Software-Assen künftige Multimillionäre vermuteten. Auf so einem Hackathon war auch Laura, seine Ex, an ihn herangekommen. Den ersten Schritt zum Reichtum war er – dank Devin – auch gegangen, hatte ein Start-up gegründet. Nur die Multimillionen ließen auf sich warten.

Er stieg über einen dürren, am Boden liegenden Mann hinweg. Auf dessen Stirn klebte ein Post-it: »Bitte 07.00 pm wecken!« Keine Zeit, zwischendurch im Hotel zu schlafen.

Endlich hatte sich Sebastian zur Regie durchgekämpft. Zwei Männer und eine Frau hingen hier erschöpft in Klappstühlen, als Zeichen ihres Amtes trugen sie grüne Kappen mit dem Logo des Hackathons.

»Wie läuft’s?« erkundigte sich Sebastian unverfänglich.

»Bist du angemeldet?« fragte die Frau – Augen überschminkt, etwas Glitter auf den Wangen – zurück. »Der hat auch ’ne Aura«, unterbrach sie ihr Nachbar.

Was sagte man darauf? Eine Entschuldigung? Sebastian entschloß sich zu einem Witzchen: »Gibt’s Rabatt?«

»Da wärst du nicht der erste.«

»Hat überhaupt schon einer gefunden, was es mit den Dingern auf sich hat? Ich hätte meine nämlich gern wieder los.«

Die drei lachten. Was glaube er wohl, was heute Challenge Numero Uno sei? Weshalb sie die ursprüngliche Aufgabe geändert hätten? Weshalb heute alle so verbiesterte Gesichter zogen? »Mindestens die Hälfte versucht jetzt, die Aura zu knacken … Firmennetze, Maschinensteuerung, Geheimdienste, Games-Welten, das war gestern. Heute geht es um die heilige Aura!«

Devins fünftausend Euro spielten offensichtlich keine Rolle, wenn der Ehrgeiz die Hacker gepackt hatte. Und die Idee von einem exklusiven Zugriff auf die Aura-Software konnte sich Devin auch abschminken. Sebastian mußte sich eingestehen: Er war hier ein Fremdkörper. Zu lange raus aus der Szene.

Er wollte sich gerade unauffällig zurückziehen, da drängte ein junger Mann heran: »Erinnern Sie sich an mich?« Sein T-Shirt zeigte den Klassiker unter den Nerd-Sprüchen: »Es gibt nur 10 Typen von Menschen, die, die binär verstehen, und die, die das nicht können.«

Schon immer war Sebastian mit der Gesichtserkennungssoftware in seinem eigenen Gehirn unzufrieden gewesen. Wie er auch suchte: Sie lieferte keinen Treffer. Erst als der junge Mann sich vorstellte (»Ralph – Ralph mit P-H«), machte es klack: der Praktikant! Fünf Jahre mußten seither vergangen sein, und das Milchgesicht von damals hatte sich Bart und einen dicken Zopf zugelegt.

Einige Minuten später war Sebastian in Besitz einer verbilligten Last-Day-Anmeldung und saß neben Ralph zwischen mehreren Laptops. Der Datenverkehr über das WLAN in der Halle war so heftig, daß sich einem davon die Haut kräuselte. Ralphs »Kumpel«, ein Brocken von Mann, dessen XXXL-Hose von breiten Hosenträgern gehalten wurde, stellte Sebastian unaufgefordert einen Plastikbecher mit einem dunkelbraunen Gesöff hin – irgend etwas aus dem Niemandsland zwischen Kaffee und Pilzsoße. »Wie fühlt es sich an in einer Aura?« Er klopfte Sebastian auf die Schulter. »Durch eine Datenbrille sieht das echt edel aus. Und dabei stecken nicht einmal hundert Kilobyte Code dahinter.« Tatsächlich merkte jetzt Sebastian, daß ihn ab und zu einer der Nerds durch eine Brille begaffte oder mit einer Handykamera anvisierte. Womöglich hatte ihn Ralph allein wegen der Aura angesprochen. Man gilt einfach mehr, wenn einen ein Strahlen umgibt.

Immerhin, erfuhr Sebastian, hatte jemand das kleine Softwarepaket aufgespürt, das die Abbilder von Personen mit dieser digitalen Hülle umgab. Wollte man es herunterkopieren und analysieren, wurde es gelöscht – oder löschte sich selbst. Sobald der Bildbetrachtungsmodus wieder aktiv war, wurde das Miniaturprogramm neu geladen. Irgendwoher aus dem Netz – soviel wußte man. Aber die wirklich relevante Frage, wie die Auratischen ausgewählt wurden – und von wem! –, blieb offen.

»Ganz klar, hier ist eine KI am Werk.« Ralphs Kumpel, der den Spitznamen Humpty trug, hatte sich schon eine feste Meinung gebildet. »Ist doch eindeutig ein Fall von Big Data Analytics. Ein Algorithmus wertet deine Daten aus und setzt ein Häkchen dran, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind. Dann heißt es, willkommen im Club.« Welche Bedingungen, nun ja, daran arbeiteten sie noch. Ein paar Kollegen hätten schon massenhaft Profile bei den »üblichen Verdächtigen«, Amazon, Alibaba, Facebook, Google, Baidu … abgecheckt – kein Hit, keine auffälligen Gemeinsamkeiten. Und auf welchen Servern der Algorithmus lief, habe auch noch keiner ermitteln können. Wahrscheinlich auf vielen. Irgendwo gut verteilt in der Cloud. Aber Humpty, Ralph und andere bauten bereits eine Datenbank der Auratischen auf, um später Ähnlichkeiten feststellen zu können. Ungefähr jeder hundertste, so schätzten sie, habe die »Markierung«.

Wer aufmerksam war, konnte die Veränderung im Straßenbild bemerken. Jetzt heißt es Kopf hoch statt Kopf runter, überlegte Sebastian. Es hatte ihn immer irritiert, wenn nicht geärgert, daß so viele Menschen, vor allem jüngere Leute, Stöpsel im Ohr, Kopf gesenkt an den Auslagen vorbei oder quer über die Straße liefen, versunken in irgendwelche Facebook-Seiten oder im Dauerchat mit Gleichgesinnten. Heute bot die Straße ein anderes Bild. Immer wieder begegnete Sebastian Passanten, die ihr Smartphone in Augenhöhe hielten. – Auf der Jagd nach Auratischen! Anders konnte man es ja nicht bezeichnen. Und schnell hatten sie ihn im Visier. Bestimmt schoß gerade dieser sportlich gekleidete Mann ein Bild von ihm. Und dort, auf der anderen Straßenseite das Schulmädchen hatte ihn auch schon ausgemacht. So hatte man früher Pokémon-Monster gejagt! Er war, ob er es wollte oder nicht, Teil eines gigantischen Games geworden. Er konnte nur hoffen, daß sie der Aura-Jägerei bald überdrüssig wurden, ihnen die Arme ermüdeten; mit dem Handy auf Auratische zu zielen, brachte ja nichts, keine Punkte oder sonst eine Belohnung. Oder doch? Vielleicht hatten die Jungs von Hackathon Preise für Bilder ausgelobt, damit sie ihre Datenbank möglichst schnell füllen konnten?

An der Ecke Hauptstraße und Ringdamm, wo die Trams in der Kurve kreischten und Banken mit billigen Konsumentenkrediten lockten, entdeckte Sebastian ganz ohne technische Unterstützung seinesgleichen. Ein älterer Herr ging da, nein stolzierte, gemächlich und abgemessen an den breiten Fenstern mit der Kreditwerbung entlang, aufgereckt, den Kopf erhoben, im vollen Bewußtsein, daß er zu den Strahlemännern zählte, auserwählt war, ein Objekt der Bewunderung. Und wie sich alle Handy-Halter nach ihm umdrehten!

Das hatte sich Sebastian schon damals, als sie den Heiligenschein auf den Markt brachten, gefragt: Wie würden die Menschen reagieren? Der Strahlenkranz um den Kopf war ja nur als Scherz gedacht, eine Art pseudoreligiöse Karnevalsverkleidung, die man sich nicht einmal selbst aufsetzte, sondern von anderen verpaßt bekam. Jetzt hatte eine unbekannte Macht im Hintergrund die Glorien verteilt – aus Gründen, die keiner kannte, an Alte und Junge, Männlein und Weiblein, Gerechte und Ungerechte. Ob er es wollte oder nicht, seine Gedanken gerieten in religiöses Fahrwasser, dabei handelte es sich doch wohl eher um ein technisches Problem, irgendeine hochkomplexe Fehlfunktion, so daß man sich wieder einmal fragte, ist es ein Bug oder ein Feature?

Und was mochte die Muslima, die ihm jetzt entgegenkam, denken? Sie hatte den Kopf gesenkt, das bunte Tuch weit in die Stirn gezogen – und von links und rechts wurde sie anvisiert, abfotografiert. Es war ihr peinlich, lieber wäre sie unsichtbar. Das nächste Mal würde sie sich wohl nur mit Burka unter die Leute trauen. Ob die Aura dann auch noch an ihr klebte? Oder funktionierte das Ganze ohne Gesichtserkennung nicht? Man sollte es einmal ausprobieren … Als Muslima hätte er die Möglichkeit. Aber als Mann versteckte man sich nicht in einem Ganzkörperschleier. Es war ja nicht Karneval. Oder vielleicht doch? Eben die Aktion einer Kunst-Guerilla, die damit eine wichtige soziale Botschaft verbreiten wollte?