Medientheorien kompakt

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Medientheorien kompakt
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[2][3]Andreas Ströhl

Medientheorien kompakt

UVK Verlagsgesellschaft mbH · Konstanz mit UVK/Lucius · München

[4]Dr. Andreas Ströhl arbeitet als Leiter der Abteilung Kultur beim Goethe-Institut. Er unterrichtete Medientheorie an der Universität Innsbruck, leitete von 2004 bis 2011 das Filmfest München und promovierte 2009 über den Kommunikationsphilosophen und Medientheoretiker Vilém Flusser.

Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de.

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Dieses eBook ist zitierfähig. Es ist dadurch gekennzeichnet, dass die Seitenangaben der Druckausgabe des Titels in den Text integriert wurden. Sie finden diese in eckigen Klammern dort, wo die jeweilige Druckseite beginnt. Die Position kann in Einzelfällen inmitten eines Wortes liegen, wenn der Seitenumbruch in der gedruckten Ausgabe ebenfalls genau an dieser Stelle liegt. Es handelt sich dabei nicht um einen Fehler.

© UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz und München 2014

Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

Satz und Layout: Claudia Wild, Konstanz

UVK Verlagsgesellschaft mbH

Schützenstr. 24 · D-78462 Konstanz

Tel.: 07531-9053-0 · Fax 07531-9053-98

www.uvk.de

UTB-Band Nr. 4123

ISBN(eBook) 978-3-8463-4123-0

eBook-Herstellung und Auslieferung:

Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

[5]Vorwort

Medientheorien kompakt soll einen Überblick über die wichtigsten Medientheorien geben. Nicht nur als Einführung dient der Band jedoch, sondern zugleich auch als kurze Kulturgeschichte dieser Medientheorien, insbesondere der eher philosophischen oder auch spekulativen Theorien. Selbstverständlich kann ein derartiger Abriss niemals Vollständigkeit beanspruchen. Beim Verfassen bestand also eine Herausforderung darin, Akzente zu setzen, den zum Weglassen nötigen Mut aufzubringen – und doch zugleich nichts Wesentliches zu übersehen. Der Band setzt wenig Vorbildung voraus und holt die zum Verständnis moderner Medientheorien wichtigsten geistesgeschichtlichen Voraussetzungen in Kürze nach. Dabei wurde nach dem Grundsatz verfahren, auch komplexe Theorien so knapp es geht zu beschreiben und so einfach wie möglich zu erklären.

Um den unterschiedlichen Gebrauchsweisen des Buches – als Selbstlern-, als Lese- und als Nachschlagewerk – gerecht zu werden, wurde ein eher ungewöhnlicher Aufbau gewählt: Zwölf Schlaglichter erhellen die Theorien besonders wichtiger Denker oder Denktraditionen. Sie haben die Geschichte der Medientheorien besonders nachhaltig geprägt und finden deshalb in eigenen Kapiteln Niederschlag, die in einen allgemeinen Einführungs- und Überblickstext eingebettet sind. Diese beiden Bestandteile des Gesamttextes werden durch unterschiedliche Schriftarten kenntlich gemacht und voneinander abgehoben. Die mit blauen Überschriften gekennzeichneten zwölf Hauptkapitel stehen auch für sich und sind jeweils mit einer Vorschau, einer Zusammenfassung und Übungsaufgaben ausgestattet. Um die Handhabbarkeit des Buches noch weiter zu erhöhen, kommen zum Inhaltsverzeichnis und Personenregister, zu Schaubildern und Tabellen sowie zu den Vorschauen, Zusammenfassungen und Verständnisfragen, noch Randnotizen und Querverweise hinzu. Dank dieser Hilfsmittel entsteht so etwas wie ein Hypertext, das heißt das leser- und vor allem recherchefreundliche Angebot, an jeder beliebigen Stelle mit der Lektüre einzusetzen und lesend, vom Thema gesteuert, hin und her zu springen.

Eine über die Möglichkeit des gedruckten Buches hinausgehende fachliche Vertiefung bietet die zu diesem Band gehörende Website http://www.utb-shop.de/medientheorien-kompakt-2.html. Dort finden Sie Musterantworten auf die Fragen zur Verständnisüberprüfung, weiterführendes Material, Lesetipps und -listen sowie ggf. Aktualisierungen.

[6]Medientheorien kompakt zu schreiben, hat Spaß gemacht. Selbstverständlich soll die Lektüre helfen, das Wissen der Leserinnen und Leser zu mehren. Vor allem aber soll sie Ihnen Vergnügen bereiten.

Andreas Ströhl

[7]Inhalt

Vorwort

Einführung

Wozu braucht man Medientheorie?

Seit wann gibt es Medientheorien?

Was sind Medien?

Verwirrende Disziplinen

Zeitungswissenschaft/Kommunikationswissenschaft

Medienwissenschaft

Medientheorie(n)

Medienphilosophie(n)

Eine kurze Geschichte der Medientheorien

Die philosophische Vorgeschichte: Medientheorie vor der Medientheorie

Das vedische Konzept von Maja

– Schatten in der Höhle: Platons Ideenlehre, Höhlengleichnis und Erkenntnistheorie

Immanuel Kants Erkenntnistheorie

Georg Wilhelm Friedrich Hegel

Die Dialektik

Das unglückliche Bewusstsein

Metaphern prägen unser Mediendenken

Anatomie und Blutkreislauf

Friedrich List und Adam Heinrich Müller

Die zweite Industrialisierung und das Rieplsche Gesetz

[8]Medientheorien im 20. Jahrhundert

– Kommunikation statt Distribution: Bertolt Brechts Radiotheorie und die Folgen

– Von der Aura zum Chock: Walter Benjamin - die Kunst, ihre Reproduzierbarkeit und die Technik

Die Nachkriegszeit: Moderne Medientheorien

Kommunikationsmodelle: Karl Bühler, Claude Shannon, Warren Weaver und Roman Jakobson — und die Lasswell-Formel

– Das Medium wird Botschaft … und Marshall McLuhan ist sein Botschafter

– Marxismus, Frankfurter Schule, Kritische Theorie: Adorno und Horkheimer, Enzensberger und Habermas als Medientheoretiker

– Melancholische Meditationen über die Fotografie: Roland Barthes und Susan Sontag

Der Konstruktivismus

Der erkenntnistheoretische Radikale Konstruktivismus

Konstruktivistische Medientheorie

 

– Teilnahmsloser Beobachter dritter Ordnung: Niklas Luhmanns Systemtheorie der Medien

– Wait a minute, Prof. Postman! Oder: Die schlechte Laune der Kulturpessimisten

– Vom Dialog, von Kanälen und Codes: Vilém Flussers bodenlose Phänomenologie der Kommunikation

Everything Turns: Die Lawine der Wenden im 20. Jahrhundert

Die linguistische Wende

Der Semiotic Turn und der Iconic Turn

Ein kurzer Überblick über die verschiedenen Wenden

Die mediale Wende

Der Mensch als Medientier

Medientheorien in der Postmoderne und Gegenwart

– Das Komplott der Simulakra: Jean Baudrillard

– Rasender Stillstand: Paul Virilio - der Krieg, die Beschleunigung, das Verschwinden

– Der Geist singt nicht mehr im Signifikantenstadel: Friedrich Kittler und das technische Apriori

[9]… und jetzt?

Das Erbe der Gründerväter und der Versuch, Abschied zu nehmen

Nach dem Abschied vom Abschied von den Medientheorien

Was also sind Medien?

Literaturverzeichnis

Zitierte Filme

Zitierte Musik

Personenregister

Abbildungsverzeichnis

Einführung[10][11]

Mein Angesicht kannst du nicht sehen; denn kein Mensch wird leben, der mich sieht.

(2. Mose 33.20)

Gott war für die Autoren des Alten Testaments gewaltig, überwältigend und unzugänglich. So unerträglich stellten sie ihn sich vor, dass ein gewöhnlicher Sterblicher seinen Anblick nicht überleben würde. Und doch wurde diesem Gott unterstellt, er wolle mit seinen Geschöpfen, zumindest mit einigen von ihnen, kommunizieren.

Das hatte zwei Konsequenzen: Um mit seinem auserwählten Volk sprechen zu können, brauchte Gott erstens einen Mittelsmann: Moses. Nur Moses ist autorisiert. Der göttliche Autor, der Schöpfergott, hat allein ihm die Fähigkeit verliehen, seinen Anblick zu ertragen, ihn sehen und hören zu können, und dann dem Volk wie ein Dolmetscher seine jenseitigen Nachrichten zu überbringen. Selbst er, der Allmächtige, ist auf den Mittler angewiesen, auf das Medium Moses. Nur durch dessen Vermittlung können die Israeliten das Göttliche überhaupt wahrnehmen. Ohne das Medium wäre ihr Bund mit dem neuen Gott nicht möglich; Kommunikation könnte ohne Medium gar nicht stattfinden.

Zugleich zeigt sich schon hier die Zweischneidigkeit jeder medialen Vermittlung: Es gibt keinen direkten Zugang zur Quelle, zur Wahrheit. Alles, was die Israeliten von Gott wahrnehmen, ist das, was Moses über ihn sagt. Das Medium schiebt sich zwischen die Wahrnehmenden und die wahrgenommene Sache. Nicht die Sache wird eigentlich sichtbar, sondern – und auch dies nur bei konzentriertem Hinsehen – das Medium. Aber ohne das Medium gäbe es diese Wahrnehmung überhaupt nicht.1

Zweitens aber befanden sich die Autoren dieser Erzählung in einer mediengeschichtlich beispiellosen Situation: Sie schrieben. Und zwar schrieben sie, anstatt zu modellieren oder zu malen. Die Schrift steht am Beginn des Monotheismus, der mit einer magischen Weltvorstellung aufräumen sollte, mit der Vorstellung, ein Götzenbild oder eine Ikone symbolisiere nicht nur eine Gottheit, sondern sei diese selbst. Die sogenannten Schriftreligionen sind Aufklärungsbewegungen. Geschrieben wurden sie vor allem gegen etwas, gegen die Anbetung von Bildern.

[12]Wie wird dieser Vorgang in der Bibel selbst dargestellt? Gottes Finger schreibt den Grundtext, die zehn Gebote, auf Gesetzestafeln und übergibt sie Moses, der die Tafeln vom Berg Sinai herunterbringt. Da sieht Moses unten die Israeliten ums Goldene Kalb tanzen. Vor Wut und Empörung zerschmettert er den Urtext. Doch dessen Autor zeigt Verständnis. Moses geht ein zweites Mal auf den Berg. Diesmal schreibt der Prophet selbst die Worte auf, die ihm der Autor diktiert. Dann überbringt er seinem reuigen Volk die zweite Auflage der zerstörten Erstausgabe: Die Schrift an sich also ist wertlos; sie ist eine Kulturtechnik, weiter nichts. Heilig ist der Inhalt des Textes, nicht aber das ihn bedeutende Zeichen, welches bloß auf den Inhalt verweist. Die Israeliten gehen in diesem Moment, in dem sie den Inhalt von den Zeichen seiner Wiedergabe trennen, einen gewaltigen zivilisatorischen Schritt, einen Schritt, der unsere Kulturen und unser Bewusstsein bis heute prägt.

Die Kapitel 31 bis 34 des 2. Buch Mose enthalten im Grunde alles, was zur Begründung einer Theorie des Medialen notwendig ist. Ebenso wie andere große archaische Erzählungen ist die Bibel voll von solchen Motiven. Ist nicht der Mittelsmann Moses eine Präfiguration, eine Vorwegnahme von Gottes menschgewordenem Sohn, der zwischen diesem und den Menschen vermitteln soll? Sind die Engel nicht Boten, Kuriere und göttliche Nachrichtentechniker? Das Alte Testament ist nur ein willkürlich gewähltes Beispiel unter vielen. Ebenso gut hätten wir unsere Expedition in die Medientheorie auch mit irgendeinem anderen Text beginnen können, mit der Ilias zum Beispiel oder dem Mahābhārata. Aber was ist eigentlich ein Text und:

Wozu braucht man Medientheorie?

Moses muss zwischen dem Auserwählten Volk und seinem Gott vermitteln, denn dessen bloßer Anblick würde die Israeliten töten. Die Wahrheit an sich ist als solche entweder gar nicht wahrnehmbar für die menschlichen Sinne oder so gewaltig, dass sie dem Menschen zum Verhängnis würde. Mediale Vermittlung ist deshalb eine existentielle Notwendigkeit. Dieses Motiv des Alten Testaments steht in der Ideengeschichte der Menschheit nicht allein da. In seinem berühmten Höhlengleichnis (→ S. 36) beschreibt der griechische Philosoph Platon im 4. Jahrhundert vor Christus, wie der Bewohner einer Höhle »nachdem er an das Sonnenlicht gekommen, die Augen voll Blendung haben und also gar nichts von den Dingen sehen können« würde. In Friedrich Schillers Gedicht Das verschleierte Bild zu Sais (1795) weigert sich »ein Jüngling, den des Wissens heißer Durst[13] nach Sais in Ägypten trieb«, das Verbot der direkten Teilhabe an der Wahrheit zu akzeptieren:

»Was ists,

Das hinter diesem Schleier sich verbirgt?«

»Die Wahrheit«, ist die Antwort. – »Wie?« ruft jener,

»Nach Wahrheit streb ich ja allein, und diese

Gerade ist es, die man mir verhüllt?«

Daraufhin enthüllt er das Bild der Wahrheit, welches den Sterblichen aus gutem Grund unzugänglich ist, und vegetiert schließlich infolgedessen in geistiger Umnachtung »besinnungslos und bleich« dahin. Auch hier ist uns die reine Wahrheit selbst unzugänglich. »Kein sterblicher Mensch hat meinen Schleier aufgehoben« (Schiller 1962, 507), warnt sie uns bei Schiller höchstpersönlich.

Ein vom Vorgang seiner Vermittlung abgetrennter, also nicht medial gedachter Inhalt ist, um weiter mit Schiller zu sprechen, »nimmermehr erfreulich«. Früh schon in der Kulturgeschichte der Menschheit hat sich ein Gefühl dafür entwickelt, dass die Wahrnehmung des Menschen nicht gleichzusetzen ist mit der ihn umgebenden Wirklichkeit, dass er der Wahrheit nicht unmittelbar teilhaftig werden kann. Das ist sehr weitgehend Konsens in der Geschichte der Philosophie. Aber es gibt verschiedene Möglichkeiten, mit diesem Grunddilemma umzugehen. Einer zufolge ist eine mittelbare Erkenntnis der Welt möglich. Dieser Denkweg versteht Mediation, Medien, Medialität als Voraussetzung der Möglichkeit von Wahrnehmung und Erkenntnis. Ein anderer Ansatz verneint diese Möglichkeit jedoch zur Gänze. Die Welt ist dann bloße Illusion, reines Scheingebilde. Dieses Verständnis der Welt führt zu keiner fruchtbaren Theorie der Erkenntnis, der Kommunikation oder der Wahrnehmung. Doch ganz egal, welche von beiden Reaktionen die richtige ist: In keinem Fall ist die Welt einfach so, wie sie sich für uns scheinbar darstellt. Das Wissen um diesen Umstand ist so fundamental, so essentiell, dass sich durchaus argumentieren ließe, dass es eben diese Erkenntnis von der Unmöglichkeit einer unmittelbaren Erkenntnis, von einer nicht-medialen Wahrnehmung ist, die das Menschsein eigentlich ausmacht und definiert. Der Mensch ist demnach dasjenige Wesen, das weiß, dass das von ihm Wahrgenommene nicht einfach die Wirklichkeit ist.

Noch ein dritter Ansatz soll hier vorab Erwähnung finden. Es ist der des (radikalen) Konstruktivismus (→ S. 125), einer Theorie, die den Medien nicht die Rolle als Mittler einer unabhängig von ihnen bestehenden Wirklichkeit zuschreibt. Der (stets mediale) Wahrnehmungsvorgang selbst ist es[14] hingegen, der nach Meinung radikaler Konstruktivisten das Wahrgenommene erst erzeugt und so die Welt eigentlich erschafft, die wir wahrzunehmen glauben.

Schon dieser sehr flüchtige Blick auf die Bedeutung von Medien und auf ihre Rolle in unserer Wahrnehmung der Welt zeigt, dass es sich lohnt, ihre Funktion und Wirkungsweise einer genaueren Betrachtung zu unterziehen. Genau dies haben sich Medientheorien zur Aufgabe gemacht. Medientheorien sind notwendig, sobald man sich bewusst macht, dass in der Kommunikation zwischen einem Ich und einem Du ein Drittes steht – eben das Medium. Die Klärung von Funktionen und Eigenschaften des Medialen wird unumgänglich, sobald ich verstehe, dass meine gefühlte Teilhabe an der mich umgebenden Wirklichkeit nicht so direkt und unkompliziert abläuft, wie es mir erscheint, solange ich meine Wahrnehmungsweisen nicht infrage stelle.

Fassen wir also zusammen: Medien vermitteln zwischen mir und der Welt und zwischen mir und anderen Menschen. Ohne sie könnte ich weder Menschen noch die Welt erkennen. Zugleich beeinflussen und prägen Medien diese Wahrnehmung, welche sie selbst ermöglichen. Sie sind nie neutral oder frei von Haltungen und Perspektiven, von Filterungen, Wichtungen und Wertungen. Nach Meinung etwa der erwähnten konstruktivistischen Theoretiker stellen sie sogar die Wirklichkeit selbst überhaupt erst her. Und schließlich können Medien Daten nicht nur übertragen und vermitteln, sondern auch speichern – einige über kürzere Zeiträume (z. B. Schallwellen), andere über längere Zeiträume (z. B. die Pyramiden). Was unsere Wahrnehmung und Erkenntnis so grundlegend bestimmt wie Medien es tun, das bedarf einer näheren Untersuchung und einer theoretischen Reflexion.

Im selben Moment, in dem sich das Zeichen von seiner Bedeutung löst, in dem also die Skulptur eines Kalbs nicht mehr Gott selbst ist und ein Baum und das Wort »Baum« nicht mehr ein und dasselbe sind, entsteht ein Bewusstsein für die Zeichenhaftigkeit der Sprache. Um allgemeiner auch für nonverbale Zeichensysteme (wie z. B. das System der Verkehrszeichen, für Musik oder für die Körpersprache) Aussagen treffen zu können, sprechen wir künftig nicht von »Sprache«, sondern vom »Code«. Ein Code ist ein System von Zeichen. Eine konkrete, zusammenhängende und abgrenzbare Anordnung von Zeichen eines Codes (z. B. das Alte Testament, das Goldene Kalb, die Verkehrszeichen einer Stadt, eine Symphonie oder eine Pantomime) ist ein Text.

Komplizierter wird die Sache in dem Moment, in dem der Begriff »Medium« hinzukommt. Denn die Zeichen sind nur ein Teil dessen, was da vermittelnd zwischen uns und die Welt tritt. Und selbst dieser einfache [15]Satz ist medientheoretisch unsicher. Denn es gibt mit den bereits erwähnten radikalen Konstruktivisten auch sehr ernstzunehmende Medientheoretiker, die die Welt (und auch uns selbst) eher als das Produkt eben dieser Zeichen verstehen. Aber zurück zum Begriff des »Mediums«. Die Codes (z. B. die Schrift), die Datenträger (z. B. das Buch), die Kulturtechnik (z. B. das Lesen), die zur Übertragung oder Speicherung von Daten verwendete Technik (z. B. der Buchdruck), die Kanäle, durch die diese Daten transportiert werden (z. B. Verlage und Buchhandel), die technischen (z. B. die Druckerpresse) und selbst die gesellschaftlichen Apparate und Institutionen (z. B. die Schulen oder Bibliotheken), ja sogar das Geld, die Wahrheit oder die Liebe – all dies ist schon irgendwann einmal in irgendeiner Theorie der Medien als »Medium« bezeichnet worden. Und auch in der Geschichte von Moses und den Zehn Geboten würden verschiedene Medientheoretiker unterschiedliche Medien erkennen – die einen sähen in Moses den Mittler oder Mediator, das Medium also, andere in den Steintafeln, wieder andere in der Schrift, in der verwendeten Sprache oder in der Institution des Gesetzes selbst.

 

Der Begriff »Medium« ist geradezu bizarr schillernd, widersprüchlich und unscharf, fast schon beliebig. Wie sich zeigen wird, ist dies allerdings nicht ohne Grund so. Und dass dies in den Kulturwissenschaften kein Sonderfall ist, zeigt schon ein Hinweis auf die Spannweite der Bedeutungen von Begriffen wie »Kunst« oder »Kultur«. Auf den Versuch einer allgemeingültigen Definition des Begriffs »Medium« (und erst recht auf den Versuch einer Definition von »Theorie«)2 wird hier deshalb zunächst verzichtet. Stattdessen werden verschiedene Medienbegriffe ins Visier genommen.

Seit wann gibt es Medientheorien?

In den ersten Medientheorien, die aus heutiger Sicht als solche gelten, etwa bei Platon (→ S. 32), taucht der Begriff »Medium« selbst gar nicht auf. Die mythischen Erzählungen, die irgendwann einmal in Schriftform gegossen wurden, wie etwa die Bibel oder die Ilias, besitzen aber durchaus medientheoretisches Potenzial, wie die eingangs nacherzählte Episode von Moses und den Gesetzestafeln zeigen sollte. Dass darin Fragen von Autorschaft und Erzählstrategien, von Mündlichkeit und Schriftlichkeit verhandelt werden, deutet darauf hin, dass medientheoretische Fragestellungen auch damals, vor 3.000 oder 5.000 Jahren, als ganz existentiell und wesentlich in ihrer Bedeutung betrachtet wurden. Was darin verhandelt [16]wird, trägt heute die Bezeichnungen »Medium«, »Kulturtechnik« oder »Kommunikationsstruktur«. Heutige Medientheorien und moderne oder postmoderne Medienphilosophie beziehen sich folglich immer auf eine Philosophiegeschichte, in der viele ihrer Grundfragen schon gestellt sind. Es sind besonders die ungelösten Probleme aus der Geschichte der Erkenntnistheorie, die heute im Gewand dieser Theorien wiederkehren.

Doch auch der Begriff des »Mediums« ist schon uralt. Begriffsgeschichten sind zwar immer fragwürdig, weil sich Bedeutungen nicht sinnvoll von dem kulturellen Zusammenhang trennen lassen, der ihnen erst Sinn verleiht. Und dieser unterliegt häufigen Wandlungen. Legt man aber Wert darauf, eine Geburtsstunde für die heutige Bedeutung des Begriffs »Medium« festzulegen, so ließe sich diese wohl am sinnvollsten bei Aristoteles ansetzen. Im siebten Hauptstück des zweiten Buchs von De animus schreibt er:

Democritus ist hier unrichtig, indem er meynt, daß wir, wenn das Medium, (durch das wir sehen,) ein Vacuum wäre, weit deutlicher sehen würden, ja, daß wir selbst eine Ameise im Himmel, (durch das Auge,) unterscheiden würden. Denn dieß ist ganz unmöglich. Weil das Sehen nur dadurch geschieht, daß das Sinnorgan, (von Außen,) leidet. (Mithin von Etwas äußerem afficirt wird.) Daß es von der Farbe (dem gefärbten Gegenstande,) der gesehen wird, (unmittelbar) afficirt werde, ist gar nicht möglich. (Weil dann der Gegenstand uns zu nahe, und mithin, eben deswegen, für uns nicht sichtbar wäre.) Es bleibt daher nichts übrig, als, daß er durch ein Medium afficirt werde. Folglich ist ein solches Zwischending, (ein Medium,) nothwendig. Wenn es aber zu einem Vacuum würde, würde nicht nur nichts deutlich, sondern vielmehr gar nichts gesehen werden. (Aristoteles 1794, 132)

Schon bei Aristoteles, dem Urvater abendländischen Denkens, findet sich also die Überlegung, dass wir ohne Vermittlung eines »Zwischendings«, eines Mediums, nichts wahrnehmen könnten. Die gewählte Aristoteles-Übersetzung stammt aus der Zeit der Französischen Revolution, weil sich mit diesem Beginn der Neuzeit im engeren Sinne auch unser modernes Verständnis von Medien ausformt. Medien und ihre Funktionen hat es immer gegeben. Doch erst mit dem Aufkommen des Buchdrucks, mit der Reformation und der darauffolgenden Alphabetisierung weiter Bevölkerungsteile entsteht ein Bewusstsein für das Massenmedium als solches. In der Wahrnehmung von Medien ist dies die zweite Zäsur. Die erste Zäsur war die Erfindung der Schrift selbst, das Aufkommen der Schriftreligionen Judentum, Christentum und Islam sowie die ersten Reflexionen über die Schrift und das Mediale bei Aristoteles, Sokrates und Platon.

In diesem Zeitraum zwischen der flächendeckenden Verbreitung des ersten technisch hergestellten Massenmediums Buch und der für dessen Rezeption erforderlichen Kulturtechnik des Lesens im Europa des 16. und [17]17. Jahrhunderts, einerseits, und dem Aufkommen der ersten technischen Bilder (der Fotografie und dem Film) und der ersten elektrischen Medientechniken (Telegrafie und Radio) im 19. und 20. Jahrhundert, andererseits, beginnt sich eine andere Vorstellung vom Medium zu formen. Medien scheinen nun ein Eigenleben anzunehmen. Obwohl auch die ersten explizit als »Medientheorie« bezeichneten Thesen genau zu dieser dritten Zäsur im frühen 20. Jahrhundert formuliert werden, gab es zuvor im weitesten Sinne schon eine moderne Medientheorie avant la lettre, eine, die sich ihrer selbst nur noch nicht bewusst war. In dieser Zeit bildet sich nun etwas heraus, was sich aus heutiger Sicht »Medienwissenschaft« nennen ließe:

Noch zögerlich in den 1930er Jahren auf beiden Seiten des Atlantiks, aber deutlicher schon in den späten 1950er Jahren und massiv um die Jahrtausendwende entstehen immer wieder Programme von Medienwissenschaften genau dann, wenn wir Medienübergänge, also den massiven Durchbruch eines oder mehrerer neuer technischen Medien zu beobachten haben. Der Übergang Stummfilm/Radio/Tonfilm ab Ende der 1920er Jahre prägt in den USA den Begriff; der Übergang Radio/Fernsehen in den 1950er Jahren generiert die ersten Entwürfe von Medienwissenschaft; mit dem dritten, dem Übergang Fernsehen/ Computer/Internet in den 1990er Jahren erleben wir die Inflation von Medienwissenschaftskonzepten, vor denen wir heute stehen. (Hagen 1988, 88)

In den 70er- und 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts ereignet sich eine weitere, vierte Zäsur, der medial turn. Medienwissenschaften und vor allem Medientheorien rücken nun zur modischen Leitwissenschaft auf. Die mediale Bedingtheit unserer Wahrnehmung gerät in den Mittelpunkt zahlreicher Theorien und Wissenschaften, bis hin zu den von den Geisteswissenschaften zuvor weitgehend unbehelligten Naturwissenschaften. Wenn es nun Schallplatten gibt, die sprachliche Texte wiedergeben können, wird plötzlich klar, dass auch die Schrift ein Code ist, der nicht ohne Einfluss auf das mit seiner Hilfe und in ihm inhaltlich Formulierte bleiben kann, dass auch die Schrift und das Buch nur Medien sind, Medien, die sich zufällig vor der Schallplatte und dem Radio etabliert haben. Woher »wissen wir eigentlich«, fragt beispielsweise Vilém Flusser, dass die »großen Schriftsteller (inklusive dem Autor der Heiligen Schrift) nicht lieber auf Tonband gesprochen oder gefilmt hätten?« (Flusser 1992c, 7) Der Geist als Gegenstand der Geisteswissenschaften wird von Friedrich Kittler (→ S. 207) infrage gestellt – zugunsten einer Fokussierung auf Codes, Kanäle und Medientechniken. Plötzlich erschüttert erstens ein im Grunde lange schon bekannter Umstand die Art und Weise, wie Wissenschaft betrieben und Kunst geschaffen wird: dass nämlich unser Denken vom Code, in dem es stattfindet, abhängt, und unsere Wahrnehmung von medialen Prägungen. Zweitens gelingt erst zu diesem Zeitpunkt, um die [18]Mitte des 20. Jahrhunderts, der unvoreingenommene Blick auf die Medien an sich, das heißt losgelöst von den von ihnen transportierten Inhalten. Rückblickend erscheint dies verwunderlich. Denn

wenn wir uns in der öffentlichen wie der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit vor allem auf den Inhalt von Kommunikationen konzentrieren, gleicht das dem hypothetischen Versuch, die Bedeutung des Automobils zu verstehen, indem man ignoriert, daß es ein neues Transportmittel gibt, und sich statt dessen auf eine detaillierte Untersuchung der Namen und Gesichter von Passagieren konzentriert (Meyrowitz 1990, 56).

Erst die aus dieser Erkenntnis entstehende Umorientierung markiert den Beginn einer Medientheorie im engeren, heutigen Sinn.

Heute schließlich haben, fünftens, die Alltäglichkeit der Nutzung immer leistungsfähigerer Gadgets, die in immer mehr Bereiche des Lebens eindringen, sowie die Allgegenwart des Internets zu einer Relativierung der großen, sinnstiftenden Medientheoriegebäude der 80er- und 90er-Jahre mitsamt ihrer apokalyptischen oder utopischen Prophezeiungen geführt.

Nochmals die hier vorgeschlagenen Zäsuren, welche uns helfen sollen, die Geschichte von Medientheorien übersichtlich zu strukturieren:

1 von den Anfängen der Mediennutzung bis zu den großen Epen, Schriftreligionen und zur klassischen griechischen Philosophie (um die Zeitenwende)

2 bis zu Buchdruck, Reformation und Alphabetisierung (16.–18. Jahrhundert)

3 bis zu den technischen Bildern und den elektrischen Medientechniken (19.–20. Jahrhundert)

4 bis zum medial turn und dem Aufstieg der Medientheorien zu Leitwissenschaften (1970er/-80er Jahre)

5 Relativierung der Großtheorien; das Internet als dominantes Verbundmedium (seit den 1990er Jahren)

Was sind Medien?

Schon an der Frage, was überhaupt ein Medium sei, zerschellt der Traum von einer einheitlichen Wissenschaft oder Theorie von den Medien. Wie das Aristoteles-Zitat oben zeigt, stellte man sich in der Antike und in der Folge der aristotelisch und platonisch beeinflussten Lehren in Europa (einschließlich des Katholizismus) unter »Medien« zunächst physische Stoffe wie Luft oder Wasser vor. 1675 ging Isaac Newton noch von einem ätherischen Stoff aus, der die Bewegung des Lichts und damit das Sehen ermögliche. Dieser Stoff galt ihm als Medium.

[19]Parallel dazu waren Medien aber immer auch Sendboten des göttlichen Willens. Der Götterbote Hermes ebenso wie der Erzengel Gabriel, der Prophet Mohammed oder Jesus Christus: Sie alle überbringen göttliche Nachrichten.3 Für Katholiken übernimmt die Jungfrau Maria allerlei Fürbitten, die offenbar einer medialen Vermittlung bedürfen. Von Anbeginn an hat unsere Vorstellung vom Medium also auch religiöse Züge: Das Heilige, die Wahrheit selbst zu sehen, ist uns unmöglich oder verboten. Mittler sind nötig. Das können Engel, Propheten oder Priester sein – oder eben Schriften oder andere Datenspeicher.

Dieser Tradition entstammt auch der Sprachgebrauch vom Medium als dem besonders begabten Empfänger übersinnlicher Information. Bis ins frühe 20. Jahrhundert wird unter einem Medium vor allem ein Mensch verstanden, der dank besonderer Begabung, durch Trance, Hypnose, Drogen, Nahtoderfahrungen, Hysterie oder andere ekstatische Begleitumstände in der Lage ist, mitzuteilen, was anderen Menschen nicht offenbar wird: verborgenes, geheimes Wissen, die Zukunft etc. Als Franz Anton Mesmer Ende des 18. Jahrhunderts diese Formen von Volksglauben, gestützt durch die gleichzeitige Erforschung der Elektrizität und die Entdeckung der »tierischen Elektrizität« durch Luigi Galvani, vorgeblich naturwissenschaftlich fundiert, als er Formen von Hypnose als »animalischen Magnetismus« gesellschaftlich akzeptabel und salonfähig zu machen versucht, werden seine Versuchspersonen ganz selbstverständlich als »Medien« bezeichnet.