Kluge Muskeln

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Kluge Muskeln

1 Kluge MuskelnKluge MuskelnLob des klugen MuskelsDie Muskulatur, das unterschätzte OrganKluge Muskeln und die SitzgesellschaftBotenstoffe, bitte melden!Muskeln und der „Spiritus animalis“Romeo und Julia im MuskeltheaterWir Steinzeitmenschen: Die Entstehung von Bauch, Bein & PoOma trainiert jetzt Kraft – Muskelschwund ist heilbarWie kluge Muskeln die Gesundheit fördern …Mehr Muskelkraft ist gut fürs HerzLungen lieben starke Muskeln!Muskelkraft senkt KrebsrisikoKlüger werden! Muskeln düngen das GehirnMuskelkraft gegen Stress und schlechte StimmungStarke Muskeln fördern harte KnochenDie Kraftkammer als beste DiätMit Muskelkraft gegen DiabetesMuskelbewegung als Anti-Aging-CremeWie Muskeln Gelenksschmerzen besiegenVerspannungen: Wenn sich „beleidigte Muskelmusiker“ beschwerenBandscheiben- oder Muskelschmerz – das ist hier die FrageWie man kluge Muskeln in Bewegung bringt …„No sports“ – sagt der innere SchweinehundBewegung? Allzu viel ist ungesund – zu wenig auchKraft und Ausdauer gibt es auf Rezept: Die „Medizinische Trainingstherapie“Kluge MuskelspielerFazit: Kluge Muskeln sind das Ziel

1  Cover

2 Table of contents

© 2017 Dr. Andreas Stippler & Dr. Norbert Regitnig-Tillian

Illustration: milo

Herstellung und Verlag: Delta X Verlag, Wien

Printed in EU




Buch-Shop www.klugemuskeln.at


Andreas Stippler

Bild: Gabriele Moser

Der renommierte Facharzt für Orthopädie, Dr. Andreas Stippler, ist Leiter des David Gesundheitszentrums und Ärztekompetenzzentrums am Universitätsstandort Krems an der Donau. Welch eminent wichtige Rolle Muskeln für die Gesundheit spielen, erlebt Stippler dort jeden Tag. Die genaue Diagnose von muskulären Dysbalancen und deren spezifische Behandlung im Rahmen der medizinischen Trainingstherapie sind denn auch ein Schwerpunkt seiner Tätigkeit.

Web: www.ortho-krems.at

Norbert Regitnig-Tillian

Bild: Christa Regitnig-Tillian

Dr. Norbert Regitnig-Tillian ist freier Wissenschaftsjournalist mit einem Schwerpunkt Medizin und Gesundheit. Der promovierte Publizistik- und Kommunikationswissenschaftler arbeitete für TV-Sender in Deutschland und Österreich und schreibt für Magazine und Tageszeitungen, darunter „Der Spiegel“, „profil“ und „Der Standard“. Die Beschäftigung mit den „klugen Muskeln“ motivierte den passionierten Schifahrer, sich neben neuen Laufschuhen auch Hanteln anzuschaffen, die er jetzt regelmäßig benutzt.

Web: www.regitnig-tillian.at

Kluge Muskeln
Lob des klugen Muskels

Eigentlich wären sie ja nicht zu übersehen. Muskeln sind in Summe das größte Organ des Körpers. Rund 40 Prozent des Körpers bestehen aus Muskeln. Sie geben dem Körper die Form, halten ihn in Balance und sorgen für Bewegung.

Muskeln können ausdauernd, kräftig und feinfühlig sein. Sie lassen einen mit unglaublicher Spontankraft vor Gefahren flüchten, hundert Meter unter zehn Sekunden laufen oder feinste Bewegungen ausführen – beispielsweise beim Spielen eines Klavierkonzertes oder schon beim Runzeln der Stirn. Ihre Kraft und Ausdauer ist dafür verantwortlich, dass man 1000 Meter senkrecht durch eine Bergwand klettern oder mit Bällen auf einem Seil jonglierend über einen Abgrund tänzeln kann.

Der Muskel: Kraftwerk und Hausapotheke

In den Muskeln steckt ein unglaubliches Potenzial. Sie sind kluge Bewegungsermöglicher, Fettverbrennungskraftwerke und körpereigene Hausapotheke in einem. Sie sind formbar und vergrößerbar. Wer seinen Muskeln jene Aufmerksamkeit schenkt, die ihnen zusteht, kann seine Leistungsfähigkeit vergrößern und Entscheidendes für seine Gesundheit tun.

Muskeln brauchen Bewegung!

Muskeln lieben die Bewegung und können mit Reizen ungemein kreativ umgehen. Muskeln sind hervorragende Teamplayer. Sie arbeiten gemeinsam und übernehmen genau definierte Aufgaben. Vernachlässigt man sie aber, sind sie scheu wie Rehe und sensibel wie Mimosen. Sie ziehen sich zurück und verabschieden sich beleidigt von der Bildfläche. Sie verlieren ihre Kraft und ihre Ausdauer. Sie korrespondieren nicht mehr mit dem Körper und den anderen Organen wie Herz, Leber, Lunge, Niere, Gehirn. Sie produzieren keine Botenstoffe mehr, die für den Körper oft überlebensnotwendig sind. Vernachlässigte Muskeln sind der Niedergang für den Körper. Man sollte sich mit ihnen gut stellen und sie nicht ignorieren.

Die Muskulatur, das unterschätzte Organ

Früher haben ja einige über die Muskeln gelacht. Wer kräftige Muskeln hat, hat nichts im Kopf. Das ist natürlich ein krasses Fehlurteil. Muskeln machen nicht dumm. Im Gegenteil: Heute weiß die Medizin eines: Muskeln helfen, gesund und klug zu werden und gesund und klug zu bleiben. Und zwar bis ins hohe Alter. Wenn wir über ein kräftiges Muskelkorsett verfügen, dann haben wir PS-starke Gesundheitsmotoren, die uns biologisch verjüngen und gesund älter werden lassen.

Muskeln machen klug und halten gesund

Noch wirken die Zeiten aber nach, wo das Image der Muskeln noch ein wenig ramponiert gewesen war. Unser Bild war davon geprägt, dass Muskeln zwar gut formbare und trainierbare „Zugmaschinen“ sind, die Befehle des Gehirns ausführen, den Knochenapparat bewegen – und bei Überbeanspruchung übersäuern. In der Hitliste der Organe, angeführt von Hirn und Herz, stand der Muskel aber eher unter „ferner liefen“. Heute weiß die Medizin, dass es die komplexen biochemischen Vorgänge in den Muskeln sind, die in vielen Fällen den Schlüssel zum Verständnis der gesundheitsfördernden Wirkung der Bewegung darstellen.

Das heißt: Wenn wir von Gesundheit und Bewegung reden, sollten wir einen Fokus auf die Muskeln legen.

Mehr als 650 Muskeln umspannen das Skelett des Menschen. Jeder einzelne Muskel ist dabei ein Kraftpaket, das sich über Knochen und Gelenke erstreckt. Geschickt mittels Sehnen an den Knochen verankert, sorgen die Muskeln für Bewegung. Bizeps und Trizeps bewegen Ober- und Unterarm, der Gesäßmuskel, der sich um das Becken wölbt, sorgt für den aufrechten Gang; die zehn verschiedenen Muskeln, die Schien- und Wadenbein ummanteln, bringen den Fuß in Bewegung. Gemeinsam machen die Muskeln bei Männern mehr als 40 Prozent ihres Körpergewichtes aus, bei Frauen mehr als 30 Prozent.

Nicht immer wissen wir, dass es Muskeln sind, wenn wir an bestimmte Körperteile denken. Die Zunge ist ein Muskel, das Herz sowieso. Muskelgewebe spezieller Art umhüllt aber ebenso den Magen, den Darm, die Blase und die Gefäße. Im Auge sorgt ein Muskel dafür, dass sich unsere Pupille weitet oder verengt. Im Innenohr zieht sich ein nur millimetergroßer Muskel bei großem Lärm zusammen und schützt so das Trommelfell vor großen Schäden.

Muskeln sind noch immer rätselhaft

Forscher studieren die Muskeln schon seit Jahrtausenden. Versuchten die ersten Mediziner zuerst überhaupt zu ergründen, warum sich Muskeln bewegen, so sind die heutigen Mikrobiologen dabei, zu enträtseln, wie die Gene das Muskelwachstum steuern und wie der Stoffwechsel funktioniert. Und je mehr sie sich damit beschäftigen, umso mehr gelangen sie zur Ansicht, dass Muskeln viel mehr sind als nur biomechanische Maschinen, die, gesteuert vom „mächtigen“ Gehirn, nichts anderes tun, als Befehle auszuführen und den Kommandos des Denkorganes zu folgen. Denn die Muskulatur kann mehr als nur auf Bewegungsimpulse aus dem Gehirn zu warten und diese dann mehr oder weniger präzise auszuführen. Forscher entdeckten, dass Muskeln auch über ein eigenes Kommunikationssystem verfügen, mit dem sie direkt auf andere Organe Einfluss nehmen können. Das Gehirn bleibt dabei außen vor oder besser noch: auch das Gehirn bekommt durch die Muskeln Informationen übermittelt, die direkt und indirekt seine Denkleistung positiv beeinflussen und zur Hebung der Stimmung beitragen können. Wer seine Muskeln aufbaut und bewegt, ist also nicht dümmer, sondern ganz im Gegenteil sogar klüger! Die dafür notwendigen Signalstoffe werden von den Muskeln in Bewegung freigesetzt. Damit kommunizieren sie etwa auch mit den Knochen und Gelenken, dem Fettgewebe, dem Gehirn, der Bauchspeicheldrüse, der Leber oder mit dem Immunsystem.

Die Muskulatur ist ein höchst komplexes Organ

 

Mittlerweile ist eine derart verblüffende Vielzahl an Prozessen bekannt, die durch die Muskeln beeinflusst werden, dass Experten die Muskulatur als eines der komplexesten Organsysteme nach dem Gehirn bezeichnen. Jedenfalls kann man eines sagen: Die Muskulatur ist ein unterschätztes Organ. In ihr und durch sie entsteht Bewegung. Und wenn man bisher von den Vorteilen der Bewegung sprach, von „Bewegung ist gesund“, dann könnte man jetzt präziser sagen: „Muskelbewegung/Muskelkräftigung ist gesund“. Denn in diesen Kraftpaketen liegt das Geheimnis der gesundheitsfördernden Bewegung.

Das Problem dabei: Die so positiv erscheinenden Geschenke der Muskulatur werden viel zu wenig in Anspruch genommen. Denn wir leben heute in einer „Sitzgesellschaft“, wo Muskeln vielen erst auffallen, wenn sie sich verspannen, verkürzen und verkümmern …

Kluge Muskeln und die Sitzgesellschaft

Kennen Sie das? In der Früh ein paar Schritte vom Bett zum Bad und zum Kaffeeautomaten in der Küche. Dann raus aus der Wohnung und mit dem Lift zum Auto in die Tiefgarage. Einsteigen, hinsetzen, losfahren zur Arbeit. Einparken in der Tiefgarage am Arbeitsplatz. Mit dem Lift hinauf ins Büro. Sich am Arbeitsplatz hinsetzen, Computer einschalten. Mittags mit dem Lift in die Kantine. Eine Kleinigkeit essen, am Mittagstisch sitzen. Wieder mit dem Lift ins Büro. Ein paar Schritte ins Besprechungszimmer. Nach der Sitzung wieder zurück an den Arbeitsplatz. Wieder hinsetzen. Überstunden, Stress. Abends mit dem Lift in die Tiefgarage zum Auto. Nach Hause fahren. Hinauf mit dem Lift in die Wohnung. Zusperren. Durchatmen. Sich eine Kleinigkeit zum Essen machen. Dann auf die Couch fallen, den Fernseher einschalten und einschlafen …


Früher wurde langes Sitzen als Strafe empfunden

Für viele Erwachsene ist es heute oft gar nicht mehr so leicht, im Alltag Bewegung einzubauen. Wir leben heute in einer Gesellschaft, in der aktive Muskelbewegung zur Ausnahme geworden ist. Der „Homo sedens“, der „sitzende Mensch“ zählt in der Wissensgesellschaft zum Normalfall. Dabei wurde langes Sitzen von unseren Ahnen geradezu noch als eine Strafe empfunden! Frühe Herrscher mussten regelrecht an ihren Thron „gekettet“ werden, damit sie in Ruhe verharren und nicht aufspringen und davonlaufen. Und wenn man an das Wort „Einsitzen“ für das Abbüßen einer Gefängnisstrafe denkt, dann hat sich der negative Beigeschmack des ständigen Sitzens auch heute noch erhalten.

Heute ist Sitzen Normalität. Studien zeigen, dass Büroangestellte im Extremfall nur noch 70 bis 300 Meter am Tag gehen. Rund die Hälfte aller Berufstätigen in Industrieländern hat aber mittlerweile einen Schreibtischjob 1. Sie kommen auf eine tägliche Sitzzeit – in Arbeit und Freizeit – von elf Stunden und mehr. Im Extremfall, so hat eine Studie aus Australien gezeigt, kommt die bewegungsärmste Gruppe auf 21,8 Stunden pro Tag in Sesseln, Sofas, Stühlen oder Betten.

Kaum noch Wertschöpfung mit reiner Muskelkraft

Harte körperlicher Arbeit, bei der Muskeln gefordert waren, ist jedenfalls in den letzten 50 Jahren deutlich in den Hintergrund getreten. Mit Muskelkraft wird heute kaum noch Wertschöpfung betrieben. Nur mehr wenige Arbeiter sind etwa in einem Stahlwerk zu finden, die Schwerstarbeit an den Hochöfen verrichten. Heute wird ein Stahlwerk über eine Kommandozentrale per Computer bedient – im Sitzen. Auch am Bau ist die Arbeit leichter geworden. Das Heben und Transportieren schwerer Lasten wird von Maschinen erledigt. Mit Muskelkraft werden heute keine Ziegelsteine mehr in den vierten Stock gehievt. Insgesamt beträgt der Anteil derer, die Schwerstarbeit verrichten, in modernen Gesellschaften nur noch fünf bis zehn Prozent.

Anstatt dessen sitzen immer mehr von uns an Computerarbeitsplätzen, bearbeiten Texte oder steuern Maschinen und Roboter. Wir sind in einer „Sitzgesellschaft“ gelandet, in der Muskelbewegung geradezu zu einem Luxus geworden ist. So ein „sedativer“ Lebensstil hat freilich Folgen. Denn wenn Muskeln nicht bewegt werden, verkümmern sie und ihre Hausapotheke bleibt verschlossen. Dabei sind wir von unserer stammesgeschichtlichen Körperausstattung her immer noch Steinzeitmenschen. Muskeln, Knochenbau, Gelenke und alle Körpersysteme des modernen Menschen sind noch gleich wie vor 100.000 Jahren. Unsere Körper sind auf Bewegung ausgelegt. Erst wenn wir uns bewegen, entfalten auch unsere Muskeln ihre gesundheitsfördernde Kraft.

Schon Kinder bewegen kaum noch ihre Muskeln

Der bewegungsarme Lebensstil wird leider heute bereits unseren Kindern anerzogen. Zum einen fordert die Schule ihren Stillsitz-Tribut. Zum anderen sind in der Freizeit Hausaufgaben zu erledigen – und Smartphone, Tablet und Computerspiele laden immer mehr zum Benützen der Couch als zum Toben im Freien ein. Das zeigen auch Studien. Seit einigen Jahren wird bei der Erhebung des Gesundheitszustandes österreichischer Kinder und Jugendlicher auch deren Bewegungsverhalten analysiert 2. Die Befragung, an der insgesamt fast 6000 Schülerinnen und Schüler österreichischer Schulklassen der 5., 7. und 9. Schulstufe teilgenommen haben, zeigt ein alarmierendes Bild: Nicht einmal mehr jedes fünfte Kind zwischen 11 und 17 Jahren erfüllt die Bewegungsempfehlungen der World Health Organization (WHO). Nach diesen internationalen Richtlinien sollten sich Kinder und Jugendliche täglich zumindest 60 Minuten körperlich betätigen – und zwar mit mittlerer bis höherer Intensität. Oder anders gesagt: Sie sollten dabei ins Schwitzen kommen.

Betrachtet man einzelne Altersgruppen, sieht man einen eindeutigen Trend. Während sich von den 11- bis 13-Jährigen noch fast jeder Dritte eine Stunde pro Tag voll Power gibt, erfüllen die WHO-Kriterien von den 17-Jährigen nur noch sieben Prozent! Man könnte sagen, kein Wunder, dass sich dieser Trend auch bei den Erwachsenen fortsetzt. Während man bei der Arbeit kaum noch körperlich aktiv ist, wird auch in der Freizeit schweißtreibender Sport nur von einer Minderheit regelmäßig betrieben. Studien zur „körperlichen Aktivität“ zeigen 3, dass nur jeder vierte Erwachsene die WHO-Empfehlungen erfüllt, wonach man sich in der Woche mindestens 150 Minuten intensiv bewegen UND zweimal die Woche ein muskelaufbauendes Krafttraining absolvieren sollte.

Vernachlässigte Muskeln fordern ihren Tribut

Die Folge: Nicht Überbeanspruchung, sondern Unterforderung der Muskulatur macht heute häufig die Probleme. Denn unterforderte Muskeln machen sich durch vielseitige Symptome bemerkbar, von den Jungen bis zu den Alten. Das Vielsitzen verkürzt die Rückenmuskulatur, schwächt Bauch-, Bein- und Gesäßmuskeln und belastet obendrein Schultern- und Nackenpartie, aber auch Wirbelsäule und Bandscheiben. Rückenschmerzen verursachen denn auch den Großteil aller Krankenstandstage. Durch langes Sitzen ziehen sich die Muskeln mehr und mehr zurück. Das größte Stoffwechselorgan des Körpers verkümmert. Magendarmtätigkeit, Stoffwechsel und Immunsystem werden negativ beeinflusst.

Weil wir stammesgeschichtlich auf kräftige und gut bewegte Muskeln angewiesen sind, kommt unser Körper mehr und mehr aus dem Takt. Negativ beeinflusst werden dabei fast alle Organsysteme, von Knochen und Gelenken bis hin zu Herz, Gefäßen und Gehirn. Schmerzen im Stütz- und Bewegungsapparat nehmen zu, der Zucker- und der Fettstoffwechsel funktionieren nicht mehr so gut, das Herzkreislaufsystem beginnt zu schwächeln, man kann sich nicht mehr so gut konzentrieren und das Übergewicht steigt, weil die Fettverbrennung in geschwächten Muskeln immer schlechter funktioniert.

Vielsitzer reduzieren ihre Lebenserwartung

Weil wir das Organ „Muskel“ vernachlässigen, macht sich die Sitzgesellschaft auch so dramatisch in der Entstehung von Zivilisationskrankheiten – von Rückenleiden bis Diabetes – bemerkbar. Fehlt die Muskelbewegung, werden auch Stresshormone nicht mehr abgebaut, die Psyche leidet darunter. Das Krankheitsrisiko steigt. Aber nicht nur das: Wer lange sitzt, verkürzt auch seine Lebenserwartung.

Die britische Forscherin Emma Wilmot von der Leicester and Loughborough University hat 18 internationale Studien ausgewertet, die das Bewegungsverhalten von insgesamt 800.000 Menschen analysierten 4. Das Ergebnis: Wer täglich viele Stunden im Sitzen verbringt, sei es im Büro oder vor dem Fernseher, für den erhöht sich das Risiko für Diabetes Typ II um 112 Prozent, jenes für Herzkreislauferkrankungen steigt um 147 Prozent. Auch fatale Krankheitsverläufe sind möglich. Das Risiko, an kardiovaskulären Erkrankungen frühzeitig zu sterben, wird durch tägliches langes Sitzen um 90 Prozent erhöht.

Studien zeigen jedenfalls, dass ständiges Sitzen negative Auswirkungen auf die Lebenserwartung hat. Forscher vom Pennington Biomedical Research Center in Louisiana, USA, haben Studien ausgewertet, an denen insgesamt fast 17.000 Personen teilgenommen haben 5. Dabei kommen die Forscher zu dem Ergebnis, dass Vielsitzer ihre Lebenserwartung um zwei Jahre reduzieren, wenn sie mehr als drei Stunden täglich am Stück in den Sesseln hocken. Ähnlich auch die Studie der American Cancer Society, die im American Journal of Epidemiology veröffentlicht wurde. Darin wurden die Daten einer über 14 Jahre dauernden Beobachtungsstudie ausgewertet, an der mehr als 120.000 Personen teilgenommen hatten. Das Ergebnis: Männer mit einer täglichen „Sitzleistung“ von sechs Stunden und mehr, erhöhten ihr Risiko, eines frühzeitigen Todes zu sterben, um 20 Prozent, Frauen sogar um 40 Prozent. Langes Sitzen stellt also ein geradezu lebensbedrohliches Gesundheitsrisiko dar. 6 Die griffige Schlagzeile „Wer länger sitzt, ist früher tot“ hat also ihre Berechtigung.

James Levine von der Mayo-Klinik in Rochester, ein Hormonexperte, der sich bereits seit zwei Jahrzehnten mit den Gefahren des sitzenden Lebensstils beschäftigt, bringt es auf den Punkt: „Sitzen ist das neue Rauchen“. Übergewicht, Stoffwechselstörungen, Rheuma, Arthrosen, eine geschwächte Immunabwehr – und, was langfristig besonders schlecht ist, Muskelabbau sind die Folgen. Ein „inaktiver Lebensstil“, so warnt die World Health Organization, sei mittlerweile jedenfalls zu einem globalen Gesundheitsproblem geworden. 7 Dagegen kann man etwas tun. Und der Königsweg ist, seine Muskeln wieder intensiv zu bewegen. Denn damit kommen nicht nur Kraft und Ausdauer zurück, sondern man öffnet auch die Hausapotheke der Muskulatur.

Aus der Muskelpraxis Dr. Stippler

„Durch den Sitzalltag verkümmert unsere Muskulatur! Gerade die große Anzahl von Büromenschen braucht eine muskuläre Stabilisierung. Besonders im Bereich der Halswirbelsäule finden sich oft deutliche muskuläre Schwächen und Fehlhaltungen. Hier ist ein gezielter Muskelaufbau besonders wirksam.“

Botenstoffe, bitte melden!


Wie Muskeln als Stoffwechselorgan funktionieren, dachte die Medizin bis vor kurzem eigentlich schon bis ins Kleinste erforscht zu haben. Wie sie chemische Energie in mechanische umsetzen, was Training bewirkt, wie die Muskeln schneller werden, wie sie „wachsen“ können. Eine dänische Medizinerin hat gezeigt, dass man eben doch noch nicht alles wusste.

Wenn Bente Klarlund Pedersen öffentlich auftritt, macht sie kein Hehl daraus, dass sie eigentlich ein Bewegungsmuffel ist. „Ich hasse Sport“, sagt sie. Die Medizinerin würde zu den Menschen zählen, die eher den Hund neben dem Auto herlaufen lassen würden, als mit ihm lange Spaziergänge zu genießen. Trotzdem tritt Pedersen heute als Bewegungsmissionarin auf. „Bewegen Sie sich und trainieren Sie Ihre Muskeln. Meine eigenen Daten haben mich überzeugt.“

Myokine: Muskelbotenstoffe der Bewegung

Pedersen, die am Zentrum für Entzündungs- und Stoffwechselforschung des Rigshospitalet an der Universität Kopenhagen arbeitet, hat den Begriff der Myokine geprägt, jener Botenstoffe also, die Muskeln bei Bewegung produzieren. Sie scheinen ein Ansatz dafür zu sein, um endlich erklären zu können, warum ausreichend dosierte Bewegung derart große gesundheitsfördernde Effekte erzielen kann.

Studien aus den letzten Jahrzehnten zeigen jedenfalls, dass sich mit Bewegung nicht nur das Risiko von Dutzenden Krankheiten zum Teil beträchtlich senken lässt, wie etwa das Risiko von Herzinfarkten, Schlaganfällen, Osteoporose, Alzheimer oder Parkinson, sondern auch das Brustkrebsrisiko um 30 Prozent sinkt oder das von Darmkrebs um fast 50 Prozent. Zudem können bereits bestehende Erkrankungen, wie etwa Bluthochdruck oder Diabetes Typ 2 durch Bewegung oft sogar wieder geheilt werden!

 

Fasst man diese Bewegungsstudien zusammen, so ist es nicht weiter verwunderlich, dass Experten von der „polypill exercise“ sprechen 8. Würde man die Wirkung von körperlicher Aktivität tatsächlich in eine Pille stecken können, so sagen Experten der Pharmaindustrie, würden sie damit wohl das beste Geschäft ihres Lebens machen können. Aber davon ist man weit entfernt. „Echte“ Muskelbewegung ist daher noch immer der Königsweg, um die Gesundheit positiv zu beeinflussen. Warum das so ist, dafür konnte Pedersen entscheidende Hinweise liefern. Denn bei der Muskelkontraktion werden nicht nur bekannte Stoffwechselprozesse in Gang gesetzt, sondern auch Hormonausschüttungen, die nicht nur lokal im Muskel, sondern im ganzen Körper wirken.

Muskeln in Bewegung produzieren Hormone

Über Jahre hatten Pedersen und ihr Team Testpersonen am Ergometer oft bis zur völligen Erschöpfung strampeln oder einbeinige Kniebeugen machen lassen. Vor und nach der anstrengenden Muskelarbeit hat sie ihnen Blut und winzige Muskelproben abgenommen und diese nach allen Regeln der Kunst untersucht. Zuerst nur daran interessiert, wie körperliches Training Immunzellen verändern kann, machte Pedersen bei ihren Untersuchungen eine überraschende Entdeckung. In Blut- und Muskelproben ihrer Probanden stieß sie auf kleine Moleküle, die zur Steuerung der Immunantwort des Körpers dienen und die offensichtlich von den Muskeln selbst produziert worden waren. – Und zwar genau von jenen Muskeln, die in Bewegung waren. Die kleinen Moleküle, die Pedersen entdeckte, waren den Biochemikern zwar aus anderen Zusammenhängen schon bekannt. Aber dass Muskeln sie produzieren konnten, war neu.

Einer der ersten Stoffe, der Pedersen ins Auge fiel, war das Interleukin 6 (IL-6). Interleukine spielen im Immunsystem des Körpers zum Beispiel während Entzündungsprozessen eine große Rolle. Pedersen konnte zeigen, dass IL-6 im Muskelgewebe bei Bewegung nicht nur ein- oder zweifach, sondern um ein Vielfaches, ja das Hundertfache erhöht sein kann. Innerhalb von ein paar Minuten normalisiert sich der Wert aber wieder. Wenn ein Stoff während einer Körperbelastung hundertfach erhöht ist und dann wieder stark abfällt, dann muss das eine besondere Funktion haben, schloss die Forscherin.

Hunderte Myokine bekannt

Untersuchungen zeigten dann, dass der Stoff nicht nur lokal im Muskel wirkt. Die vom Muskel produzierte Substanz wirkte vielmehr wie ein Hormon, das Stoffwechselprozesse auch in anderen Körperorganen anstoßen konnte. Interleukin 6 stimuliert etwa die Bildung von Abwehrzellen, die das Immunsystem anregen und Reparaturmechanismen auslösen. Damit wirkt es Infekten und Tumorerkrankungen entgegen. Das vom Muskel produzierte IL-6 lässt zudem die Körperzellen wieder sensitiver auf Insulin reagieren und beschleunigt die Fettverbrennung, wobei der Botenstoff direkt mit Enzymen im Fettgewebe kommuniziert. Der Effekt ist dabei umso stärker, je erschöpfter der Muskel durch Bewegung wird.

Pedersens Forschungsteam, aber auch andere Forschergruppen weltweit fahndeten dann nach weiteren Muskelbotenstoffen. Das Ergebnis: Werden Muskeln durch Bewegung „gereizt“, schütten sie nicht nur Interleukin 6, sondern hunderte Botenstoffe aus. Pedersen nannte diese Muskelbotenstoffe ganz bewusst „Myokine“ 9. Das aus dem Griechischen stammende Wort „Mys“ für „Muskel“ und „kines“ für „bewegen“ sollte die Notwendigkeit von Bewegung für ihre Produktion und Ausschüttung unterstreichen. Mittlerweile sind hunderte unterschiedlicher Myokine bekannt, die lokal im Muskel, aber auch im gesamten Körper wirken. Insgesamt, so Pedersen, besitzen Skelettmuskeln in Bewegung mit diesen hormonähnlichen Substanzen eine eigene biochemische Sprache, mit denen sie direkt mit anderen Geweben und Organen kommunizieren können.

Diese Beobachtung, dass Muskeln ein eigenes Kommunikationssystem besitzen müssen, hatte man in Ansätzen schon in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts vermutet. Bei Patienten, die von den Halswirbeln abwärts gelähmt waren, lösten Elektrostimulationen ihrer Muskeln Reaktionen in Leber, Herz und Gehirn aus, obwohl sie keine Nervenverbindungen zum Gehirn mehr hatten. Muskeln konnten also auch ohne Nervenverbindungen mit dem Körper kommunizieren – und zwar durch ihre Botenstoffe. Das Ausmaß der muskeleigenen Hormonsprache und die gesundheitsfördernden Effekte bewegter Muskeln wurde damals aber noch nicht wirklich erkannt.

Nur bewegte Muskeln öffnen ihre Hausapotheke

Erst heute beginnt man sich in der Myokinforschung mit diesem gesundheitsfördernden Phänomen eingehender zu beschäftigen. Zwar sind von den hunderten Botenstoffen des Muskels erst ein paar Dutzend im Detail erforscht. Aber schon heute weiß man, dass die Muskulatur eine wahre Hausapotheke bereitstellt. Denn Myokine regen nicht nur das Immunsystem an, sondern fördern auch die Neubildung von Blutgefäßen. Die Signalstoffe beeinflussen das Wachstum von Nervenzellen und deren Verbindungen, den Synapsen im Gehirn.

Das könnte eine Erklärung dafür sein, weshalb Menschen, die sich mehr bewegen, besser vor Demenzerkrankungen wie Alzheimer geschützt sind. Es sind die muskeleigenen Botenstoffe, die das Gehirn schützen können.

Myokine, die durch Bewegungsreize im Muskel entstehen, sorgen auch dafür, dass Entzündungsprozesse in Gelenken gehemmt und Entgiftungsprozesse in der Leber angestoßen werden. Myokine nehmen positiv Einfluss auf den Zucker- und Fettstoffwechsel sowie auf das Herzkreislauf- und Immunsystem.

Mit diesen neuen Forschungsergebnissen lässt sich heute viel besser erklären, warum Bewegung – und vor allem intensivere Bewegung – so viele gesundheitsfördernde Wirkungen erzielt. Bewegung, so könnte man zusammenfassen, regt Muskeln an, ihre Hausapotheke zu öffnen. Man braucht, so könnte man vereinfacht sagen, seine Muskeln nur zu kräftigen, den Rest des Gesundheitsprogrammes erledigen sie von selbst.

Aus der Muskelpraxis Dr. Stippler

„Viele Patienten sind anfänglich dem Muskeltraining gegenüber noch sehr skeptisch. Aber die neuesten Erkenntnisse zeigen ganz klar – die aktiven Therapien werden sich durchsetzen. Die muskuläre Apotheke wird nur geöffnet, wenn der Muskel aktiviert wird. Also bei Anstrengung! Die Myokine freuen sich auf ihren Einsatz. Geben wir ihnen eine Chance und machen zumindest zweimal pro Woche ein gesundheits-orientiertes Krafttraining. Passive Therapien wie Massage, Elektrotherapie und Packungen sind nur begleitende Möglichkeiten.“