Das Salz der Friesen

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Das Salz der Friesen
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Andreas Scheepker

Das Salz der Friesen

Historischer Kriminalroman


Zum Autor

Andreas Scheepker ist gebürtiger Ostfriese. 1963 wurde er in Hage geboren. Nach dem Abitur am Ulrichsgymnasium in Norden studierte er Evangelische Theologie und später noch Literatur­wissenschaft, Geschichte und Pädagogik. Er lebt mit seiner Frau und seinem Sohn in Aurich, wo er als Schulpastor am Gymnasium Ulricianum unterrichtet. Außerdem arbeitet er als Studienleiter in der Arbeitsstelle für Ev. Religionspädagogik und ist dort vor allem für Fortbildungen zuständig. Scheepker hat mehrere Kriminalromane und Kurzgeschichten verfasst, die in Ostfriesland spielen. Dabei stehen oft Themen der ostfriesischen Geschichte im Hintergrund. Sein Kriminalroman Tote brauchen keine Bücher wurde für den Literaturpreis »Das neue Buch« 2004 nominiert.

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Alle Rechte vorbehalten

2. Auflage 2020

(Originalausgabe erschienen 2019 im Leda-Verlag)

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: Katrin Lamer

unter Verwendung eines Bildes von: Ubbo Emmius –

http://www.library.ucla.edu/yrl/reference/maps/blaeu/frisiae.jpg

ISBN 978-3-8392-6476-8

Vorwort

Dies ist kein historisches oder theologisches Sachbuch über Ostfriesland in der Reformationszeit. Dies ist ein Kriminalroman. So steht es auch vorn auf der Titelseite.

Gleichwohl habe ich mich bemüht, den Leserinnen und Lesern Einblicke in eine spannende und überaus interessante Epoche der ostfriesischen Landesgeschichte und Kirchengeschichte zu vermitteln. Dabei werden in der Fantasie des Autors Ereignisse in sachliche und zeitliche Zusammenhänge gestellt, die historisch so nicht in Verbindung stehen. Beispielsweise werden die Ereignisse aus dem zweiten Ostfriesland-Aufenthalt Melchior Hoffmanns im Kontext seines ersten Aufenthaltes erzählt.

Alle Personen in diesem Roman sind Fantasiefiguren – auch die, die ein wenig wie historische Persönlichkeiten kostümiert sind, wie z. B. Graf Edzard oder Junker Balthasar. Ich zeichne sie in erster Linie als Romanfiguren. Einige historische Ungenauigkeiten, vor allem Ausdrücke, die es so in der frühen Neuzeit nicht gab, oder die Angleichung von Texten aus historischen Quellen an unsere heutige Sprechweise sollen die Lesbarkeit des Buches erleichtern. Und hin und wieder hat der Autor die Tatsachen so verändert, wie er sie für seine Romanhandlung brauchte.

Herzlich danken möchte ich allen, die mich mit guten Ideen und Hinweisen zu diesem Buch bereichert haben und die meine Fragen geduldig und kundig beantwortet haben, allen voran Pastor i.R. Hillard Delbanco aus Aurich, André Janssen aus Westerende, Dr. Hans Kimmich aus Leer-Loga und Landschaftsdirektor i.R. Dr. Hajo van Lengen aus Aurich. Ein ganz besonderer Dank gilt Axel Heinze vom Museum am Meer in Esens, der nicht nur theoretische Kenntnisse über die Salzgewinnung an unserer Nordseeküste hat, sondern gemeinsam mit seinen Schülern vom Niedersächsischen Internatsgymnasium Esens auch praktische Versuche zu diesem Thema durchführen konnte. Axel Heinze hat mir mit seinem umfangreichen Wissen zur Geschichte unserer Region eine Reihe sehr hilfreicher Informationen zur Verfügung gestellt und mir viele weiterführende Hinweise gegeben.

Für alle sachlichen Fehler in diesem Buch – seien sie beabsichtigt oder unbeabsichtigt – bin ich selbst verantwortlich!

Herzlich danke ich Maeve Carels für ihr Lektorat sowie Heike und Peter Gerdes vom Leda-Verlag für alle Unterstützung. Ich freue mich, dass dieses Buch nun erneut aufgelegt wird und im Gmeiner-Verlag erscheint. Ich danke Claudia Senghaas für die sehr gute Zusammenarbeit. Mein herzlicher Dank gilt meiner Frau Angelika, die die Entstehung des Buches und Rimbertis Wege durch das alte Ostfriesland begleitet und an nicht wenigen Stellen aus Irrwegen und Sackgassen herausgeholfen und neue Wege gewiesen hat.

Last but not least möchte ich zwei Menschen danken, die mich schon vor einigen Jahren, als die Idee zu diesem Buch entstand, an ihrem umfangreichen Wissen über unsere Küstenregion teilhaben ließen: Heie und Elke Erchinger aus Norden. Die inhaltsreichen Gespräche mit beiden haben erheblich dazu beigetragen, mich auf die Spur zu diesem Buch zu bringen, auch wenn ich es erst etliche Jahre später fertigstellen konnte. Heie Erchinger konnte glücklicherweise noch vor seinem Tod das lesenswerte Buch Sturmfluten mit wunderbaren Fotos von Martin Stromann veröffentlichen (siehe Literaturverzeichnis im Anhang). In diesem Buch vermittelt uns der ehemalige Leiter des Staatlichen Amts für Insel- und Küstenschutz in Norden etwas von seinen umfassenden Fachkenntnissen und seinem reichhaltigen Wissen über Natur und Kultur unserer Küstenregion. Hier widmet er sich u. a. dem Thema der Salzgewinnung an der Nordseeküste und deren Folgen.

Widmen möchte ich dieses Buch Elke Erchinger und der dankbaren Erinnerung an Heie Focken Erchinger (1933–2007).

Personenverzeichnis

Die Reisenden:

Lübbert Rimberti, Rechtsgelehrter

Ulfert Fockena, Häuptling

Gisbert van Woerden und Dr. Nicolas Haykema, Rechtsgelehrte

Friedrich von Issenhusen, Staatsrat im Dienst von Königin Margarete

Graf Enno und seine Leute:

Enno II. Cirksena, Graf in Ostfriesland

Johann Cirksena, Bruder des Grafen

Eggerik Beninga, Drost, Befehlshaber der Festung Leerort und Historiker

Haiko Ibenga, Häuptling und Drost

Evert Bruns, Stellvertreter des Amtsmanns

Die Kaufleute:

Jakob Sanders, wohlhabender Kaufmann und Vertrauter des Grafen

Berend Sanders, Bruder von Jakob Sanders, Kaufmann

Rinelde Sanders, Ehefrau von Jakob Sanders

Tjark Andreesen, Lehrling im Handelshaus Sanders

Hilko Boyen, wohlhabender Kaufmann und Kompagnon von Jakob Sanders

Frau Hiske, Schwiegermutter von Hilko Boyen

Die Geistlichen:

Frauke von Oldekamp, Nonne im Klostervorwerk Oldekamp

Meta Hallenga, Vorsteherin des Klostervorwerks Oldekamp

Konrad Sanders, Bruder von Jakob Sanders, Bibliothekar im Kloster Ihlow

Andreas Karlstadt, Professor der Theologie auf Wanderschaft

Adriaan de Beer, Pfarrer in Norden, Seelsorger auf der Insel Bant

Heddo Kankena, Pfarrer der Hager Ansgarikirche

Magister Cornelis, Pfarrer in Wilsum

und:

Junker Balthasar von Esens, Häuptling des Harlingerlandes

Kapitel 1

Meta Hallenga ließ ihren Blick durch das Refektorium schweifen. Keine der anderen Schwestern im Speiseraum des Klostervorwerks schien etwas gehört zu haben. Alle aßen schweigend weiter. Hatte sie sich den Schrei nur eingebildet?

Der Platz von Schwester Frauke war leer, wie so oft in letzter Zeit. Vorsteherin Meta Hallenga wusste, dass es gegen die überlieferten Regeln verstieß, aber in so bewegten Zeiten musste man gegen Regeln verstoßen, um die Ordnung bewahren zu können.

Meta Hallenga hatte ihr Klostervorwerk Oldekamp sicher durch diese stürmischen Zeiten gebracht. Zweiundzwanzig Nonnen lebten außer ihr noch in Oldekamp, und nur sieben Schwestern hatten im vergangenen Jahr das Kloster verlassen. Eine von ihnen war vor einigen Wochen sogar zurückgekommen: Schwester Frauke.

Die kurze Zeit im Leben da draußen hatte Schwester Frauke verändert. Die lebenslustige junge Frau war still geworden. Das Zusammensein mit den anderen war anstrengend für sie. Am liebsten tat sie ihren Dienst draußen bei den Hütten, in denen Kranke versorgt wurden. Schwester Frauke kümmerte sich hingebungsvoll um die beiden alten Frauen, die dort zurzeit gepflegt wurden. Und sie betreute die Bienenkörbe, die in der Nähe standen.

Wegen dieser Aufgaben hatte Schwester Frauke sich die Erlaubnis geben lassen, in Ausnahmefällen nicht zu den gemeinsamen Mahlzeiten erscheinen zu müssen und ihre Gebete auch dort draußen verrichten zu dürfen. Meta Hallenga hatte sich damit einverstanden erklärt, obwohl sie wusste, dass der Grund ein anderer war.

Warum mied Schwester Frauke die Gemeinschaft mit den anderen? Und was hatte sie in den Monaten außerhalb des Klosters erlebt? Vielleicht war es an der Zeit, Schwester Frauke darauf anzusprechen und ein längeres Ausweichen nicht mehr zu dulden. Sicher, alles hatte seine Zeit, das wusste Meta Hallenga. Aber manchmal musste die Liebe auch ungeduldig sein und ein wenig nachhelfen. Sie machte sich Sorgen um Frauke.

Vielleicht war der Schrei, den nur sie gehört hatte, keine Einbildung, sondern ein Zeichen Gottes, dass Schwester Frauke jetzt ihren Beistand brauchte.

 

Gleich nach der Mahlzeit verließ Meta Hallenga das Kloster und machte sich auf den Weg zu den Krankenhütten. Sie fand Schwester Frauke bei den Bienenkörben.

Meta Hallenga brauchte einen Moment, um das Bild aufzunehmen, das sich ihr bot.

Frauke lag auf dem Rücken, die Arme weit ausgebreitet, mitten in der Brust der Schaft eines Pfeiles. Die Wucht des Geschosses hatte sie in die Bienenkörbe geschleudert, und im Fall musste Frauke zwei Körbe mit umgerissen haben, sodass sie von Bienen umschwärmt wurde.

Langsam löste sich Meta Hallenga aus der Erstarrung, und vorsichtig näherte sie sich Frauke. Lebte die Schwester vielleicht noch?

Plötzlich hörte sie ein Geräusch aus den Büschen, ein Zweig knackte. Ein Tier? Oder hatte sich dort Fraukes Mörder versteckt?

Meta Hallenga war eine furchtlose Frau. Ihr war klar, dass der Mörder nicht zögern würde, auch auf sie zu schießen. Aber der Anblick von Schwester Frauke versetzte sie in Wut. Sie nahm den Knüppel, der an der Tür lehnte, ging schnurstracks auf die Büsche zu und schlug mit dem Stock auf sie ein. Zornig war sie, und sie fühlte sich hilflos. Und die Hilflosigkeit vermehrte ihren Zorn. Immer wieder drosch sie mit dem Knüppel in das dichte Buschwerk. Wenn der Mörder wirklich noch hier wäre, hätte er längst auch auf sie geschossen. Sicher hatte er sich davongemacht.

Meta Hallenga ließ den Stock sinken. Sie sprach mit erhobener Stimme: »Das verspreche ich Euch, wer auch immer Ihr seid: Ich werde nicht Ruhe geben, bis ich Euch von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehe und Rechenschaft von Euch verlange. Darauf gebe ich Euch mein Wort!«

Sie wusste, dass diese Drohung an eine abwesende Person genauso sinnlos war wie ihre Suche mit dem Knüppel im Unterholz. Sie wandte sich ab, um ihre Mitschwestern zu holen.

Atemlos hatte er jedes Wort gehört, das die Vorsteherin in seine Richtung gesprochen hatte. Sein Herz klopfte so laut, dass er dachte, sie müsste es hören. Er hatte keinen zweiten Pfeil für seine Armbrust mitgenommen, nur diesen einen, der für Frauke bestimmt war und seinen Zweck erfüllt hatte. Niemandem sonst wollte er ein Leid zufügen.

Er war erleichtert, als die Frau endlich ging. Ihm würde nicht viel Zeit bleiben. Schon bald würde sie mit den anderen Nonnen hier sein.

Rasch kehrte er zu seinem Opfer zurück, nachdem er sich vergewissert hatte, dass die Vorsteherin wirklich gegangen war. Nun musste er vollenden, was er sich vorgenommen hatte und wobei er von der Vorsteherin gestört worden war. Was er zu tun hatte, war schnell erledigt. Nur wegen der vielen Bienen musste er behutsam sein.

Er nahm einen kleinen Lederbeutel, schnürte ihn auf und schüttete den Inhalt auf die Tote. Salz.

»Salz!«, sagte Evert Bruns, der neben der toten Nonne kniete. Bruns war als Stellvertreter für seinen kranken Drosten ins Klostervorwerk Oldekamp gekommen und sah sich die getötete Schwester Frauke und den Fundort der Leiche an. Vorsteherin Meta Hallenga stand stumm neben ihm, während Bruns’ Männer das Unterholz durchsuchten.

»Arcubalista!«, bemerkte Häuptling Ulfert Fockena, der gerade einen Krankenbesuch beim Drosten gemacht hatte, als die Nachricht von der Ermordung einer Nonne eingetroffen war. Er hatte es sich nicht nehmen lassen wollen, Evert Bruns auf der Jagd nach dem Mörder zu begleiten. Zwei Männer hatten inzwischen die Bienenkörbe beiseitegeschafft, und die Bienen beruhigten sich langsam.

»Arcu … ja, ja, und überall ist es verstreut«, erwiderte Bruns.

»Eure Lateinkenntnisse sind so enorm wie Euer ganzer Verstand!«, foppte Fockena den ratlosen Mann.

»Warum streut denn jemand Salz auf eine Tote?«, murmelte Bruns.

»Und warum ist sie überhaupt ermordet worden?«, fragte Meta Hallenga. »Wer schießt mit einem Bogen auf eine Braut Christi?« Ihre Stimme hatte nicht den sonst üblichen Nachdruck.

»Arcubalista«, wiederholte Ulfert Fockena und hob die Augenbrauen. »Dies ist der Bolzen einer Armbrust. Diese Waffe ist etwas aus der Mode gekommen in den letzten Jahren.«

»Es geht hier nicht um Mode, sondern um Mord, lieber Herr Ulfert!«, gab Evert Bruns zurück.

Ulfert Fockena hörte schon gar nicht mehr hin und sah sich um. Er ging an der Stelle auf das Unterholz zu, wo er den Standort des Schützen vermutete. Der große, schwergewichtige Mann schritt leichtfüßig um die Bienenkörbe herum in das Gebüsch.

»Kommt hierher, aber vorsichtig, tretet nicht alles platt«, forderte er die anderen auf. Bruns gab seinen Männern mit umständlichen Handbewegungen zu verstehen, dass sie bleiben sollten, wo sie waren, und dass er den Fundort der Leiche allein besichtigen wollte.

Meta Hallenga dachte gar nicht daran, diese Anweisung auf sich zu beziehen, und schob Bruns beiseite. Noch ehe er sie zurechtweisen konnte, packte sie ihn am Arm: »Na los, Bruns! Wollt Ihr hier Wurzeln schlagen?« Vorsichtig ging sie zu der Stelle, wo Ulfert Fockena kniete.

»Und was soll hier sein?«, fragte Evert Bruns enttäuscht, als er nur Büsche und Gras vorfand.

»Hier ist gleich gar nichts mehr, wenn Ihr so weitertrampelt«, antwortete Fockena gereizt. »Von hier ist der Schuss auf Schwester Frauke abgegeben worden. Dazu passt auch, wie sie auf dem Boden liegt. Ihr Mörder muss lange gewartet haben. Das Gras ist so platt gedrückt, dass er eine ganze Zeit gesessen haben muss. Man hat durch das Gebüsch einen ausgezeichneten Blick auf das Haus und den Stall. Er musste nur auf die Schwester warten. Vielleicht hatte er es direkt auf sie abgesehen und wusste, dass sie an diesem Ort anzutreffen war.«

»Schwester Frauke hielt sich gern draußen auf«, bestätigte Meta Hallinga. »Seit sie zu uns zurückgekehrt war, brauchte sie immer Abstand zu uns anderen. Sie hatte ein besonders enges Verhältnis zu Schwester Idje, unserer Imkerin. Idje ist vor einem halben Jahr verstorben, und war immer so etwas wie eine Mutter für sie. Als Frauke zurückkam, hatte ich gehofft, dass ich Schwester Idje ein wenig für sie ersetzen könnte. Aber Frauke war so anders geworden in dieser kurzen Zeit …«

»Das ist doch unwichtig, Frau Meta«, polterte Evert Bruns. »Langweilt uns doch nicht mit solchen Plaudereien. Es war sicher ein Dieb, der etwas holen wollte und den Frauke überrascht hat.«

»Sie war so seltsam bedrückt. Da stimmte etwas nicht mit ihr«, wandte Meta Hallenga ein.

»Geht, und lasst uns das machen. Das ist nichts für Frauen. Kümmert Euch um Eure anderen Lämmlein besser als um dieses!«, forderte Bruns sie auf.

Meta Hallenga drehte sich zu ihm um und maß ihn von oben bis unten mit einem durchdringenden Blick, dass Bruns ein wenig mulmig wurde. Dann sagte sie leise und bestimmt: »Jeder gepökelte Schweinskopf hat mehr Verstand als Ihr, Amtmann Bruns. Nur Euer Benehmen ist noch schlechter als Euer Denkvermögen. Wie übel muss es um uns bestellt sein, wenn der Graf Leute wie Euch das Land führen lässt.«

Evert Bruns stand mit offenem Mund vor ihr und glotzte sie an. Bevor er überhaupt daran denken konnte, ob und wie er darauf passend antworten wollte, fuhr die Vorsteherin fort: »Ich verstehe nichts vom Waffenhandwerk. Aber es wurde nicht der Mörder überrascht, sondern die arme Frauke. Der Mörder hat hier seelenruhig gesessen und gewartet. Ein überraschter Räuber schlägt vielleicht jemanden nieder oder geht mit dem Messer auf ihn los. Aber dieser Schuss wurde gezielt auf etwa zehn Schritte aus einem sicheren Versteck abgegeben.«

»Da ist vielleicht was dran, also … wenn Ihr meint …«, wollte Bruns einlenken.

»Ich meine gar nichts!« Meta Hallengas Stimme wurde lauter. »Als ich eintraf, war der Mörder noch da. Ich hörte es rascheln im Gebüsch. Und wenn ich ein Mann gewesen wäre, dann …« Sie hatte Tränen in den Augen und schluckte. »Ich werde jetzt zu den anderen gehen und sie trösten.«

Mit erhobenem Haupt und kleinen, tippelnden Schritten ging sie davon. Ulfert Fockena sah ihr mit großen Augen hinterher.

Kapitel 2

Lübbert Rimberti seufzte behaglich. Allzu bequem war der Reisewagen nicht, aber draußen ritt sein Schreiber mit dem Packpferd und Rimbertis Reitpferd. Rimberti war froh, dass sein Sattel leer und der leere Platz im Reisewagen besetzt war.

Bei der letzten Rast hatten sie im Gasthof zwei Reisende kennengelernt, Juristenkollegen von Dr. Lübbert Rimberti, und sie hatten ihn und seinen Schreiber freundlich eingeladen, mit ihnen zu reisen. Der Schreiber hatte sich gern bereit erklärt, mit den Pferden vor der Kutsche herzureiten. Schon beim Essen hatte der unaufhörliche Redefluss der beiden ihn sichtlich erschöpft. Aber für Rimberti war das Angebot, eine Wegstrecke zurücklegen zu können, ohne reiten zu müssen, überaus verlockend gewesen.

Nach dem reichlichen Mittagsmahl waren die beiden eingeschlafen, und Rimberti hatte Zeit, seinen Gedanken nachzugehen, bevor sie wach werden und ihre endlosen Diskussionen fortsetzen würden.

Schon morgen würde er alte Freunde wiedersehen, und er würde Graf Enno gegenübertreten müssen. Immerhin hatte Graf Enno von Ostfriesland selbst den Kaiser um Rimbertis Vermittlung in einem heiklen Rechtsstreit gebeten.

Rimberti betrachtete seine beiden Mitreisenden. Magister Gisbert van Woerden war Syndikus einer niederländischen Hafenstadt, und Dr. Nicolas Haykema war Notar. Sie waren unterwegs nach Bremen und machten einen Umweg über Ostfriesland.

Beiden sah man an Kleidung und Erscheinung an, dass sie wohlhabend waren. Beide waren von kräftiger Statur, aber nicht korpulent. Van Woerden hatte nur noch einen spärlichen Haarkranz auf dem Kopf, dafür schmückte ihn ein dichter, kurz geschnittener weißer Vollbart. Rimberti schätzte ihn auf etwa sechzig Jahre. Seine blauen Augen schauten immer etwas belustigt umher, und er sprach mit einer hellen Stimme, die gar nicht zu einem Mann seiner Statur passen wollte. Haykema war etwas kleiner und mochte ein wenig älter sein. Er hatte volles graues Haar. Er sprach, wenn er die Stimme erhob, immer etwas durch die Nase.

Lübbert Rimberti hing seinen Gedanken nach, Gedanken an die Ereignisse vor einem Jahr, Gedanken an neue Freunde, die er damals kennengelernt hatte und hoffentlich in den nächsten Tagen wiedersehen würde.

Haykemas nasale Rede holte ihn aus den Gedanken. Offenbar waren die beiden Reisegefährten in der Zwischenzeit aufgewacht und hatten nach ihrem Nickerchen das Gespräch genau an dem Punkt fortgesetzt, an dem sie vorher eingeschlummert waren.

»Ihr vertretet da eine absurde Theologie, mein lieber van Woerden. Ihr könnt doch nicht so ein kleines Wörtchen, das in vielen Sprachen nur drei Buchstaben hat, im Lateinischen sogar nur zwei – also so ein Wörtchen könnt Ihr doch nicht zum Angelpunkt Eurer Theologie machen.«

»Und doch steht es schon im ersten Satz der Bibel und ist nach dem Himmel das zweite, was der Allmächtige geschaffen hat«, versetzte van Woerden mit seiner hellen Stimme.

»Die Erde«, warf Rimberti ein, der nicht genau wusste, worum es in diesem Gespräch ging, sich aber aus Höflichkeit beteiligen wollte.

Haykema grunzte bestätigend, aber van Woerden schüttelte den Kopf, wobei er bei jeder Bewegung des Kopfes ein hohes Räuspern vernehmen ließ. »Nein, nein, nein! Hört doch, was da steht: ›In principio creavit Deus caelum et terrem– im Anfang schuf Gott Himmel und Erde‹. Drei Dinge hat er geschaffen: den Himmel, die Erde und die Verbindung zwischen beiden. Das und. Der Schöpfer hat mit seinen Werken diese Werke zugleich in eine Beziehung zueinander gesetzt.«

Rimberti war verwundert über diese eigenartige Gedankenführung. »Ihr behauptet, das Wörtlein ›und‹ sei ein eigenes Werk des Schöpfers? Ihr wisst doch, dass das Wörtlein ›und‹ im Hebräischen nur aus einem einzigen Buchstaben besteht, aus dem Waw.« Rimberti war überrascht, wie engagiert er diskutierte, obwohl er gar nicht genau wusste, worum es ging.

Van Woerden erwiderte: »Sagt nicht unser Heiland, dass nicht ein Jota vom Gesetz fallen wird? Und der hebrä­ische Buchstabe Jota ist doch nur halb so groß wie ein Waw, das für das Wörtchen ›und‹ steht. Die Kürze eines Wortes bedeutet doch wohl nicht, dass sein Inhalt unbedeutend sei.«

Rimberti zog den ledernen Vorhang zur Seite und schaute auf die Landschaft, die an ihnen vorbeiruckelte. Gleich kamen sie an die Stelle, an der im letzten Jahr ein Toter entdeckt worden war. Rimberti zog den Vorhang zu und tat so, als machte er ein Nickerchen.