Gemeinsam zum Erfolg

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Aus der Reihe: hep praxis
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Andreas Grassi, Katy Rhiner, Marlise Kammermann, Lars Balzer

Gemeinsam zum Erfolg

Früherfassung und Förderung in der beruflichen Grundbildung durch gelebte Lernortkooperation

ISBN Print: 978-3-0355-0090-5

ISBN E-Book: 978-3-0355-0091-2

Informationen zu Begleitangeboten finden sich unter www.lars-balzer.info/projects/projekt_gze.html.

1. Auflage 2014

Alle Rechte vorbehalten

© 2014 hep verlag ag, Bern

www.hep-verlag.ch

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Wenn es gelingt – unterwegs mit Anna

1 Die Situation junger Menschen beim Eintritt in die Berufsbildung

1.1 Ein struktureller Blick

1.2 Ein berufspädagogischer Blick auf die Zusammenarbeit

1.3 Ein entwicklungspsychologischer Blick

1.4 Ausblick

Anna – Erinnerungen an die Schulzeit

2 Früherfassung an den drei Lernorten

2.1 Warum Früherfassung?

2.2 Ziele und Inhalte der Früherfassung

2.3 Erste Standortbestimmungen zum relevanten Vorwissen – Lokale Standardsprache und Mathematik/berufliches Rechnen

2.4 Erste Lernleistungsmessungen

2.5 Erste Wahrnehmungen zu den überfachlichen Kompetenzen

2.6 Instrumentengestütztes Klassenscreening

2.7 Abschluss der Früherfassung

2.8 Fazit

Anna – Erste Schwierigkeiten im zweiten Lehrjahr

3 Voraussetzungen gelingenden Lernens

3.1 Das Rahmenmodell des selbstregulierten Lernens

3.2 Der Einsatz von Lernstrategien nach Borkowski und Muthukrishna

3.3 Von der Früherfassung zur Individualdiagnostik

Anna in der Lernberatung – «Fragen zum Lernen»

4 Lernförderung konkret – gemeinsam zum Erfolg

4.1 Wer macht in der Lernförderung was – und wie?

4.2 Lernförderung differenzieren und individualisieren

4.3 Lernförderung der Gruppe C

Anna – Lernberatung eins zu eins

4.4 Lernförderung der Gruppe A

4.5 Lernförderung der Gruppe B

4.6 Gruppe D – Lernförderung oder Neubeurteilung des Ausbildungsentscheides?

5 Fazit und abschliessende Gedanken

5.1 Gedanken zum Übergang an der ersten Schwelle

5.2 Gedanken zur Phase der Früherfassung

5.3 Gedanken zur Ausgestaltung der Fördermassnahmen

5.4 Differenzierte Förderung der Lernenden

Anna geht ihren Weg

Abbildungsverzeichnis

Literatur

Vorwort

Gemeinsam zum Erfolg, und zwar zum Erfolg für alle Beteiligten, denn ein erfolgreicher Berufsabschluss ist die Grundlage für eine Integration in unsere Gesellschaft

Das vorliegende Buch beschreibt einen Ansatz zur Umsetzung eines zentralen Anliegens von Bund, Kantonen und Organisationen der Arbeitswelt: die Quote der Jugendlichen, die einen Abschluss auf der Sekundarstufe II erreichen, auf einem 95-Prozent-Niveau zu etablieren.

Projekte wie «Nahtstelle Sekundarstufe I – Sekundarstufe II» der EDK zeigen Wege auf, um dieses Ziel zu erreichen. Zahlreiche Organisationen der Arbeitswelt haben die Chance des neuen Berufsbildungsgesetzes 2002 genutzt und ihre Ausbildungsgrundlagen revidiert, indem sie neben drei- und vierjährigen Grundbildungen mit Eidgenössischem Fähigkeitszeugnis (EFZ) auch zweijährige Grundbildungen schufen, die zum Eidgenössischen Berufs­attest (EBA) führen. Berufsfachschulen ihrerseits bieten Zusatzunterricht (Stützkurse) an, um den Lernenden Gelegenheit zur individuellen Verarbeitung der theoretischen Grundlagen zu geben. In der zweijährigen Grundbildung sorgt die fachkundige individuelle Begleitung (fiB) für spezifische Unterstützung von Lernenden, bei denen ein erfolgreicher Ausbildungsverlauf oder -abschluss gefährdet ist.

Diese und weitere Massnahmen haben zwar Fortschritte gebracht, aber bislang nicht genügt, um das gesteckte Ziel zu erreichen. Die Anzahl der Lehrvertragsauflösungen ist mit einem Anteil von zwischen einem Fünftel und einem Drittel nach wie vor hoch; in einzelnen Berufen liegt die Quote sogar höher. Rund jede dritte der betroffenen Personen bricht nach einer Vertragsauflösung ihre Ausbildung ab und erreicht keine nachobligatorische Qualifikation. Es braucht deshalb zusätzliche Anstrengungen, um die angestrebte Sek-II-Abschlussquote von 95 Prozent sicherzustellen.

Das Eidgenössische Hochschulinstitut für Berufsbildung EHB IFFP IUFFP beschäftigt sich als schweizerische Expertenorganisation für die Berufsbildung neben der Aus- und Weiterbildung von Berufsbildungsverantwortlichen, der Berufsentwicklung sowie der Forschung in der Berufsbildung auch mit systemrelevanten Fragestellungen. Sie bietet der Berufsbildungspraxis und den politischen Entscheidungsträgerinnen und -trägern gut fundierte Grundlagen für die Weiterentwicklung des Systems und gewährleistet damit den Wissenstransfer von der Forschung in die Praxis.

Mit dem vorliegenden Buch soll ein praxisnaher Beitrag zur Verbesserung der Situation geleistet werden, indem einerseits mögliche Vorgehensweisen aufgezeigt und andererseits konkrete praktische Hilfestellungen für alle drei Lernorte gegeben werden. Die Autorinnen und Autoren beschreiben im ersten Kapitel die relevanten Grundlagen des Berufsbildungssystems und analysieren die Rahmenbedingungen im Übergang von der obligatorischen Schulzeit in die nachobligatorische Ausbildung. Dabei gehen sie insbesondere der Frage einer optimalen Passung zwischen den Ausbildungsvoraussetzungen der Lernenden und den Anforderungen des gewählten Ausbildungsberufes nach.

Dieser Passung schenken die Autorinnen und Autoren im Zusammenhang mit dem Früherfassungsprozess während der ersten Ausbildungsmonate grosse Aufmerksamkeit. Eine professionelle Früherfassung, wie sie in Kapitel 2 beschrieben wird, ist Voraussetzung, um – wenn notwendig – möglichst früh die nötigen Unterstützungsmassnahmen anbieten zu können. Dabei wird deutlich, dass sich das Ziel der hohen Abschlussquote nicht mit verstärkter Selektion erreichen lässt. Vielmehr ist an allen drei Lernorten eine Kultur der Lernförderung aufzubauen. Das Buch enthält erprobte Instrumente, mit deren Hilfe Art und Bedarf der Unterstützung ermittelt werden können, um dadurch die Lernförderung auf die Erkenntnisse der pädago­gischen Diagnostik und die Gesprächsergebnisse der Beteiligten («runder Tisch») abzustützen.

Da in der Berufsbildung in vielerlei Hinsicht heterogene Verhältnisse herrschen, ist Lernförderung für alle Verantwortlichen Wunsch und Herausforderung zugleich. Theoretische Konzepte der Lernförderung werden in Kapitel 3 beschrieben. Was mit welchen Mitteln durch die Berufsbildungsverantwortlichen an allen drei Lernorten konkret gefördert werden kann, wird anhand von praktischen Beispielen in Kapitel 4 aufgezeigt. Das Buch schliesst mit einem Fazit und Empfehlungen.

 

Von zentraler Bedeutung im schweizerischen System der dualen Berufsbildung ist die Lernortkooperation. Die Qualität der Berufsbildung kann verbessert werden, wenn diese Kooperation intensiviert wird. Ausdruck dafür ist der «runde Tisch», an dem gemeinsam Lösungen für schwierige Situationen diskutiert und zielführende Massnahmen beschlossen werden. Im Bereich der Lernortkooperation besteht nach Einschätzung des Autorenteams Entwicklungsbedarf, dort liegt womöglich ein Schlüssel zum gemeinsamen Erfolg.

Im Zentrum der beruflichen Grundbildung stehen die Lernenden – die Berufsbildungsverantwortlichen schaffen durch die gute Zusammenarbeit zwischen den Lernorten die Voraussetzungen, dass die Lernenden Erfolg haben können.

Die heute 24-jährige Anna begleitet Sie durch dieses Buch. Sie hat den Eintritt ins Berufsleben in der Zwischenzeit geschafft und spiegelt am realen Beispiel die Praxistauglichkeit dieses Buches. Früherfassung, Diagnostik und Lernförderung sind Massnahmen, die helfen, Lernende wie Anna auf ihrem Weg des Lernens zu unterstützen, zu begleiten und zum Erfolg zu führen.

Das EHB IFFP IUFFP hofft, mit dem vorliegenden Buch den Hauptakteurinnen und -akteuren in der Berufsbildung, den aktiven Lehrpersonen sowie den Berufsbildnerinnen und -bildnern in überbetrieblichen Kursen und Betrieben, eine gut fundierte und wertvolle Hilfestellung für ihre anspruchsvolle Arbeit zur Verfügung zu stellen.

EHB IFFP IUFFP

Eidgenössisches Hochschulinstitut für Berufsbildung

Dalia Schipper

Direketorin

Wenn es gelingt –
unterwegs mit Anna

Nun stehe ich zum zweiten Mal vor einem Qualifikationsverfahren, diesmal als angehende Zierpflanzengärtnerin – und ich erinnere mich noch genau an die Gefühle, die ich beim ersten Mal hatte, als ich vor der Lehrabschlussprüfung als Innendekorationsnäherin stand. Ich weiss, dass es nicht so schlimm sein wird, dass ich mich einfach darauf einlassen und das Beste geben werde. Ich bin zuversichtlich, habe keine Ängste mehr; ich weiss, dass ich alles lernen kann, und es gelingt mir auch, die Kolleginnen zu motivieren, ihnen Mut zu machen, ihnen die Angst zu nehmen.

Ich weiss in der Zwischenzeit, dass ich lernfähig bin, dass ich immer lernen kann.

So äusserte sich Anna in einem Gespräch, zwei Jahre nach dem erfolgreichen Abschluss ihrer Erstausbildung als Innendekorationsnäherin.

Bis sie zu dieser Überzeugung kam, war es allerdings ein langer und oft mühevoller Weg.

Annas erstes Ausbildungsjahr als Näherin war erfolgreich verlaufen, sie war eine motivierte und gute Lernende, die im berufskundlichen wie im allgemeinbildenden Unterricht sehr gute Noten erzielte. Dies änderte sich, als im dritten Semester «berufskundliches Rechnen» auf dem Stundenplan stand. Anna hatte Schwierigkeiten, ein «Genügend» zu erreichen, gleichzeitig fiel es ihr im Betrieb schwer, alltägliche Berechnungen auszuführen, aufgrund derer beispielsweise Stoffmengen bestellt werden konnten. Aus diesem Grund bat die Ausbildnerin um ein Gespräch mit den verantwortlichen Lehrpersonen, den Eltern und der Lernenden, um die Chancen auf einen erfolgreichen Abschluss zu klären. Das Ergebnis war die Empfehlung der Berufskundelehrerin, Anna solle für eine befristete Zeit die Eins-zu-eins-Lernberatung besuchen.

So kam sie mit dem Wunsch in die Beratung, «endlich eine Lösung für mein Matheproblem zu finden», wie sie später in einem Rückblick festhielt. Während der Beratungssitzungen wurden betriebliche und schulische Berechnungsaufgaben analysiert, mögliche Vorgehensweisen besprochen, Übungen gelöst und das Vorgehen reflektiert (Beispiele finden sich auf → Seite 140 ff.). Anna baute Kompetenzen auf, dank denen sie ihre Noten im Fachzeichnen und im berufskundlichen Rechnen verbessern konnte. Nach Beendigung der befristeten und individuell auf sie zugeschnittenen Lern­beratung besuchte Anna freiwillig das an der Berufsfachschule angebotene Trainingsmodul1.

Anna schloss ihre Ausbildung zur Innendekorationsnäherin erfolgreich ab und arbeitete ein Jahr im erlernten Beruf. Dann wagte sie, gestärkt durch ihre Erfahrungen, eine Zweitausbildung und weitete dabei ihren ursprünglichen Wunsch, Floristin zu werden, noch aus, weil sie erkannte, dass ihr der Beruf der Zierpflanzengärtnerin mehr zu bieten hatte.

Noch vor Redaktionsschluss dieses Buches schrieb uns Anna folgende SMS:

Ich habe nun auch meine zweite Ausbildung mit 4,9 erfolgreich abgeschlossen. Ich werde nach der Lehre in der Firma bleiben und die Abteilung wechseln. Ich arbeite dann zu achtzig Prozent in der Dekoration und entwerfe Schalen. Zu einem kleinen Teil werde ich zudem im Büro arbeiten. Ich freue mich auf diese Arbeit!

An Annas Erfahrung wollen wir exemplarisch darstellen, wie sich das Leben eines jungen Menschen verändern kann, wenn es gelingt, Schwierigkeiten beim Lernen zu erkennen, deren Ursachen aufzudecken und entsprechende Massnahmen zur Förderung einzuleiten. Anstelle von Annas Geschichte könnten auch die Geschichten von Myriam, Yvonne, Aline, Dragana, Joshua, Mirko oder Samuel stehen, die Berufe wie Restaurationsfachangestellte, Floristin, Coiffeuse, textile Gestalterin, Schreiner, Gärtner oder Koch erlernen und aus unterschiedlichen Gründen Schwierigkeiten haben, die erforderliche Leistung insbesondere im schulischen Bereich zu erbringen.

Der Weg durch das Buch

Um einerseits das Vorgehen in der Praxis zu illustrieren und andererseits die von uns vertretenen theoretischen Hintergründe zu verdeutlichen, werden wir Anna in verschiedenen Kapiteln immer wieder begegnen.

Wir begleiten sie auf ihrem anspruchsvollen Weg des Lernens und erfahren gleichzeitig, was ihr dabei hilfreich oder hinderlich war, beispielsweise in Kapitel 1, in dem es um Fragen des Übergangs von der Sekundarstufe I in die nachobligatorische Bildung geht. Annas Geschichte verdeutlicht hier, welchen Einfluss die Schulkarriere auf die Berufswahl haben kann.

In Kapitel 2 zeigen wir, inwiefern institutionalisierte Früherfassung mithilfe u.a. von Standortbestimmungen in der Schulsprache und in Mathematik und anhand eines instrumentengestützten Klassenscreenings präventiv wirken kann. Wir erfahren, wie man einen Leistungsabfall in Mathematik bei Anna allenfalls hätte erkennen und durch individuelle Fördermassnahmen hätte verhindern können.

Kapitel 3 befasst sich mit den theoretischen Grundlagen, auf denen die individuelle Lernförderung beruht, und mit den Möglichkeiten und Grenzen der pädagogischen Diagnostik. Vor diesem Hintergrund zeigen wir, welche Einflussgrössen die schulische Leistung von Anna massgeblich beeinflusst haben.

In Kapitel 4 stellen wir exemplarisch Massnahmen vor, die bei Anna in der Eins-zu-eins-Lernberatung eingeleitet wurden, und dokumentieren die von Anna erzielten Fortschritte.

So führt Sie das Buch auf dem Weg von der systematischen Früherfassung über die gezielte pädagogische Einzeldiagnostik hin zu passenden Massnahmen der individuellen Förderung von Lernenden in Gross- und Kleingruppen und in der Einzelberatung. Wir zeigen, welche institutionalisierten Massnahmen im Rahmen der beruflichen Grundbildung an den drei Lernorten dazu führen können, dass möglichst alle Lernenden einen erfolgreichen beruflichen Abschluss mit anschliessendem Übertritt in den Arbeitsmarkt schaffen.

Zum vorliegenden Buch haben uns unzählige Praxiserfahrungen mit betroffenen Lernenden motiviert, die dank unterstützenden Massnahmen ihre Ausbildung erfolgreich abschliessen konnten. Andererseits haben uns Erkenntnisse aus Weiterbildungskursen zu Früherfassung, Diagnostik und Lernförderung dazu veranlasst, auf Fragen, die in solchen Kursen regelmässig wiederkehren, vorläufige Antworten zu geben – Fragen wie diese: Wozu dient Früherfassung? Was ist Diagnostik, und wie kann sie im Ausbildungsalltag nützlich sein? Wie soll bei der Früherfassung vorgegangen werden? Was erfahre ich durch den systematischen Einsatz von Diagnoseinstrumenten über das Verhalten von Lernenden? Welche Konsequenzen hat dies hinsichtlich Lernförderung, und welche Formen der Zusammenarbeit zwischen den drei Lernorten sind möglich und notwendig?

Wenn auch Sie sich mit solchen Fragen beschäftigen, wenn Sie Lernende wie Anna auf ihrem Weg des Lernens begleiten – ob im Betrieb, im überbetrieblichen Kurs oder in der Berufsfachschule –, oder wenn Sie den Auftrag haben, in Ihrer Schule, Ihrem Betrieb ein Früherfassungskonzept zu entwickeln und einzuführen, werden Sie im vorliegenden Buch mancherlei Anregung finden, um mit Lernenden und anderen Ausbildnern und Ausbildnerinnen gemeinsam zum Erfolg zu gelangen.

Es ist uns ein Anliegen, an dieser Stelle insbesondere zwei Personen zu danken.

Einmal Anna, die uns durch das ganze Buch begleitet und eingewilligt hat, ihren Weg authentisch zu veröffentlichen und dadurch die Verbindung zwischen Theorie und Praxis möglich machte – danke Anna.

Zum anderen Christoph Gassmann, unserem Lektor und Berater, der uns zu dieser Form ermutigte und uns durch seine konstruktiven Fragen, Anregungen und Kommentare während der Entstehung immer wieder darin forderte und förderte, der gemeinsamen Sache auf den Grund zu gehen – danke Christoph.

1Eine Form des Stütz- und Förderkurses; Lernende aller Berufe der entsprechenden Berufsfachschule besuchen das Trainingsmodul freiwillig. Eine Förderlehrperson betreut maximal acht Lernende. So ist eine individuelle Begleitung gewährleistet.

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Die Situation junger Menschen beim Eintritt in die Berufsbildung

Wie sich der Übergang an der «ersten Schwelle» – von der Volksschule in eine nachobligatorische Ausbildung – für junge Menschen gestaltet, hängt massgeblich von den strukturellen Gegebenheiten des (Bildungs-)Systems ab. Neben den persönlichen Interessen und den individuellen Voraussetzungen der Jugendlichen und ihrem Umfeld ist es hauptsächlich der Schultyp auf Sekundarstufe I, der bestimmt, welche nachobligatorische Ausbildung in Angriff genommen wird. Bei einem Einstieg in die Berufsbildung sind es sowohl die allgemeine Situation auf dem Lehrstellenmarkt als auch die Auswahlverfahren der ausbildenden Betriebe, die darüber entscheiden, ob und in welche beruf­liche Grundbildung Jugendliche eintreten können.

Zu Beginn ihrer beruflichen Ausbildung befinden sich junge Menschen in mehrfacher Hinsicht in einem Übergangs- oder Transitionsprozess und sehen sich dabei mit verschiedenen Herausforderungen konfrontiert: Einerseits geht es um den Übergang von einem schulischen in einen Arbeits-Alltag im Lehrbetrieb, der in der Regel nur einmal in der Woche durch einen bis zwei Tage Berufsfachschule unterbrochen wird. Zugleich sind die Jugendlichen nun mit unterschiedlichen Ausbildungssituationen und -orten und neuen Bezugspersonen konfrontiert, an die es sich anzupassen gilt. Aus entwicklungspsychologischer Perspektive befinden sie sich im Übergang vom Jugend- ins Erwachsenenalter, der geprägt ist durch unterschiedliche Entwicklungsaufgaben, die in dieser Lebensphase bewältigt werden müssen.

Die folgenden Unterkapitel beleuchten diese Zeit des Übergangs unter drei Blickwinkeln: einem strukturellen in → Kapitel 1.1, einem berufspädagogischen, auf die Zusammenarbeit der Berufsbildungsverantwortlichen fokussierten in → Kapitel 1.2 und einem entwicklungspsychologischen in → Kapitel 1.3. Diese drei Perspektiven auf den Übergang an der «ersten Schwelle» erlauben uns, die Situation von Lernenden gleich zu Beginn ihrer Berufsausbildung genauer zu verstehen. Ein solches Verständnis bildet eine wichtige Grundlage für die in diesem Buch beschriebene systematische, alle Lernorte einschliessende Früherfassung und darauf aufbauende, gezielte, individuelle Förderung von Lernenden in der beruflichen Grundbildung. Ziel dabei ist, dass möglichst alle Lernenden ihre Ausbildung erfolgreich durchlaufen und abschliessen können.

 

1.1Ein struktureller Blick

Der Übertritt junger Menschen von der obligatorischen Schulzeit (Primar- und Sekundarstufe I) in eine nachobligatorische Ausbildung (Sekundarstufe II), dieser Übergang an der «ersten Schwelle», stellt eine komplexe Nahtstelle dar, die durch unterschiedlichste Faktoren beeinflusst wird, so unter anderem durch den besuchten Schultyp auf der Sekundarstufe I (→ Abschnitt 1.1.1), die Herkunft und Interessen der Jugendlichen (→ Abschnitte 1.1.2 und 1.3.2), die demografische Entwicklung, strukturelle und konjunkturelle Schwankungen (→ Abschnitt 1.1.3) sowie beim Übertritt in die Berufsbildung massgeblich auch durch das Angebot an Lehrstellen (→ Abschnitt 1.1.3) und die Selektionsstrategien der Ausbildungsbetriebe (→ Abschnitt 1.1.2).

An ihrer Jahresversammlung vom 27. Oktober 2006 formulierte die Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) Leitlinien zur Optimierung der Nahtstelle zwischen obligatorischer Schule und Sekundarstufe II (EDK, 2006). Das Dokument sollte die Grundlage dafür schaffen, dass möglichst alle Jugendlichen einen ihren Fähigkeiten entsprechenden Abschluss auf Sekundarstufe II erlangen können. Mit diesem Beschluss haben sich Bund und Kantone und Organisationen der Arbeitswelt (OdA) verpflichtet, mit entsprechenden Massnahmen die Abschlussquote auf Sekundarstufe II von rund 90 Prozent bis ins Jahr 2015 auf 95 Prozent zu erhöhen (inzwischen ist allerdings von einer Frist bis 2020 die Rede; vgl. BBT, 2012a, S. 3).

Eine solche Quote entspricht einem gesamtgesellschaftlichen Interesse. Das Ziel kann aber nur durch gute Zusammenarbeit aller Akteurinnen und Akteure im Bildungssystem und mit entsprechenden politischen und finanziellen Rahmenbedingungen realisiert werden. Strahm (2010) betont die Rolle, die hier der Berufsbildung zukommt; er weist auf die Zusammenhänge zwischen mangelnder (Berufs-)Bildung, gefährdeter Integration in den Arbeits­markt und Armutsrisiko hin und definiert Berufsbildung als soziale Absicherung: «Die beste Versicherung gegen Armut ist die Berufsbildung und Arbeitsmarktintegration» (a.a.O., S. 73).

Hier setzt unser Buch an: Es will mit seiner Zielsetzung – eine den Lernenden in der beruflichen Grundbildung angepasste individuelle Förderung – einen Beitrag dazu leisten, die angestrebte Abschlussquote zu erreichen, indem es zu zeigen versucht,

•wie möglichst viele Jugendliche im (Berufsbildungs-)System gehalten, wie also Ausbildungsabbrüche ohne Anschlusslösung möglichst vermieden werden können;

•wie Personen, die bisher ohne nachobligatorische Ausbildung geblieben sind, mit Unterstützung zu einem zertifizierenden Abschluss auf Sekundarstufe II geführt werden können.