Lidwicc Island College of Floral Spells

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Lidwicc Island College of Floral Spells
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Lidwicc Island

Copyright © 2021 by


Drachenmond Verlag GmbH

Auf der Weide 6

50354 Hürth

http: www.drachenmond.de

E-Mail: info@drachenmond.de

Lektorat: Michaela Retetzki

Korrektorat: Nina Hirschlehner NH Buchdesign

Layout: Michelle N. Weber

Umschlagdesign: Alexander Kopainski

Bildmaterial: Shutterstock

ISBN 978-3-95991-570-0

Alle Rechte vorbehalten

Triggerwarnung

Da Margo als Straßenmädchen aufgewachsen ist, hat sie einiges erlebt, von dem sie auch berichtet. Toxische Männlichkeit, Drogen und Gewalt kommen daher samt ihren Folgen vor. Ebenso äußert Margo ihre Gedanken über das Gefühl, nichts wert oder zu viel zu sein. Ebenso wird darüber gesprochen, nicht akzeptiert zu werden. All diese Ängste beeinflussen natürlich auch manche Handlungen.

Ängste und Emotionen sind nichts, wofür man sich schämen muss. Hört auf euch und eure Grenzen. Wir sind alle auf unsere Weise stark.

Für Dich

Inhalt

1. Was wäre ohne die zehn Euro passiert?

2. Was wäre mit mehr Furcht vor der Magie passiert?

3. Was wäre bei der anderen Abzweigung passiert?

4. Was wäre ohne die Klippe passiert?

5. Was wäre ohne die Pusteblume passiert?

6. Was wäre bei einem anderen Ergebnis passiert?

7. Was wäre mit einem anderen Mentor passiert?

8. Was wäre an einem anderen Ort passiert?

9. Was wäre ohne die Typen passiert?

10. Was wäre in meinem Versteck passiert?

11. Was wäre ohne vorbeilaufende Anthros passiert?

12. Was wäre ohne meinen Nachnamen passiert?

13. Was wäre ohne Onlineseminar passiert?

14. Was wäre bei erfolgreichem Training passiert?

15. Was wäre bei Verbleib im Laden passiert?

16. Was wäre ohne Aussprache passiert?

17. Was wäre mit mehr Misstrauen passiert?

18. Was wäre ohne gemachte Fehler passiert?

19. Was wäre bei Mord passiert?

20. Was ohne Tod passiert?

21. Was wäre bei zu großem Ego passiert?

22. Was wäre mit einem besseren Plan passiert?

23. Was wäre ohne Flucht passiert?

24. Was wäre ohne Angriff passiert?

25. Was wäre ohne Abmachung passiert?

26. Was wäre mit Zwang passiert?

27. Was wäre ohne Mithilfe des Forschers passiert?

28. Was wäre ohne die Babys passiert?

29. Was wäre ohne Pilze passiert?

30. Was wäre bei weniger Opfern passiert?

Epilog

?

Eins


Was wäre ohne die zehn Euro passiert?

Eigentlich liebte ich es, neben dem Meer herzulaufen, die salzige Brise in meinem Gesicht zu spüren und das Licht zu beobachten, wie es Ornamente auf die Wasseroberfläche malte, als hätte man einen Eimer voller Sonne ausgeleert. Wäre da nicht dieser Typ, der mich verfolgte.

»Margo! Beeil dich, verdammt.« Der Wind peitschte Daphne beim Zurückschauen ihre schwarzen Haare vor die Augen. Die nächste Böe schleuderte die Strähnen wieder nach hinten und ich erkannte einen stummen Schrei. Sie bemerkte wohl, dass ich weiter zurückfiel.

»Ja, ja. Keine Panik.« Mehr brachte ich mit Seitenstechen und brennender Lunge nicht hervor. Normalerweise sollte man meinen, dass ich durch das ständige Weglaufen mehr Kondition besäße, aber mein Brustkorb, der sich verkrampfte, und meine Wackelpuddingbeine erzählten eine andere Geschichte. Neben mir hörte ich das ständige Stoppen und Anfahren der Autos, da es sich wie immer auf der Straße am Meer staute.

»Achtung!« Mit einer gekonnten Drehung wich ich den beiden jungen Frauen vor mir aus, die sich ein Pita Gyros teilten. Kurz sog ich den Duft ein, ehe ich mich wieder auf meine Flucht konzentrierte.

Nach und nach holte ich Daphne auf dem Geh- sowie Radweg ein und während sich die Wellen an der felsigen Mauer brachen, näherten wir uns dem Aristotelous Platz. Unzählige Menschen tummelten sich vor uns. Der perfekte Ort, um in der Masse unterzugehen.

Die Verwünschungen des Typen hinter uns nahm ich kaum noch wahr. Bisher hatte uns noch nie jemand erwischt. Warum sollte ich mir also Sorgen machen? Daphne hingegen blieb selten gelassen. Vermutlich, weil uns hatte noch nie jemand erwischt, eine Lüge war und ich die blauen Flecken sowie Prellungen verdrängte, die wir uns bisher zugezogen hatten. Hey, andere zogen sich bei ihren Hobbys auch Blessuren zu. Es könnte schlimmer sein. Wir könnten Skaterinnen sein.

»Starbucks?« Das Wort presste sich schnaufend zwischen Daphnes dünnen Lippen hindurch, als ich sie eingeholt hatte.

Meine Antwort begrenzte sich auf ein Kopfschütteln, doch das reichte ihr nicht.

»Haben jetzt ein Dings mit Code vorm Klo.«

Erkenntnis breitete sich in Daphnes Gesicht aus. Vermutlich hatten sie das neue Schloss wegen uns angebracht, nachdem sämt-liche Baristas uns mit gewaschenen Haaren und neuen Outfits aus den Toiletten kommen sahen. Die Badezimmer der Straßenmenschen.

Die Frage, warum Daphne das vorgeschlagen hatte, beantwortete sich von selbst. Am Aristotelous versammelte sich die Polizei. Eine Falte bildete sich zwischen Daphnes Augen, als sie mich kritisch beäugte. Unwissend zog ich die Schultern hoch. Die konnten doch nicht wegen uns da sein, oder?

In Thessaloniki reagierte nie jemand auf »Haltet sie! Diebe!«-Rufe. Jeder kümmerte sich hier um seinen eigenen Mist. Ausnahmen waren vielleicht Lokalbetreiber, die auch Ärger mit uns gehabt hatten, oder ein paar wenige Möchtegernheilige. Selbst die Polizisten und Polizistinnen, die uns wie bei kleinen Familientreffen, wenn sie uns mal erwischten, Kaffee anboten, kamen nur noch selten. So auch dieses Mal nicht. Dachte ich.

Statt wie geplant mitten in der Menge unsichtbar zu werden, schnappte ich Daphne am Unterarm und zerrte sie seitlich zwischen den Marmorsäulen hindurch. Nur, warum hörte ich keine Rufe mehr hinter uns?

Wir liefen an Eisbars vorbei, überquerten die Straße zum Electra Palace Hotel, ein Ort, den ich mir nicht mal hätte leisten können, würde ich all meine Organe auf einmal verkaufen, und bogen in die Seitenstraße ein. Dort dampfte es vom Sommerregen, der vorhin so plötzlich begonnen hatte, wie er wieder verpufft war. Endlich ließen auch die Blicke, die ich auf mir gespürt hatte, nach. Komischerweise kam es mir vor, als würde meine braune Löwenmähne nachwippen. Um diese Locken zu bändigen, bräuchte ich Magie.

Daphne wollte vorwärts stürmen. Ich hielt sie fest im Griff, auch wenn sie beinah aus meiner schwitzigen Hand gerutscht wäre.

»Was?«

»Warte.« Vorsichtig linste ich um die Ecke.

Es verfolgte uns niemand mehr. Die Polizei patrouillierte seelenruhig. Sie standen dort also nicht wegen uns. Gut zu wissen.

»Weg?« Daphne drückte mich gegen die Mauer, um selbst einen Blick zu riskieren. Sie presste sich so fest an mich, dass ich ihr Herz-rasen unter ihrem schwarzen Lieblingshemd mit den gelben und roten Mohnblumen spürte.

»Jap.« Es wunderte mich zwar nicht mehr, dass die meisten, die wir beklauten, oftmals aufgaben, aber so schnell? Enttäuschung machte sich in meinem Bauch breit.

Eine actionreichere Verfolgungsjagd hätte mehr Klasse gehabt. Vielleicht war es auch nicht die Enttäuschung, sondern nur der Hunger, der uns erst in diese brenzlige Situation gebracht hatte. Denn ehrlich gesagt, nervte mich das beinah tägliche Weglaufen mittlerweile.

Wie dem auch sei, ich schüttelte mein schweißgebadetes Oversize--Shirt in Batikoptik durch, das an mir klebte, und drehte mich um. »Siehst du?« Ich breitete meine Arme aus. »Nichts passiert.«

 

»Wie kannst du nur immer so gelassen bleiben?« Die Hände auf ihren Oberschenkeln abgestützt, lugte Daphne zum winzigen Kiosk vor uns, der mit seinen tausenden Chipstüten, Getränkepäckchen, Croi-s-sants und Kaugummis in allen Farben aussah wie ein Regenbogen. »Sollten wir nicht noch ein paar Straßen laufen, um sicherzugehen?«

»Papperlapapp. Gönn dir doch etwas. Wir sind jetzt schließlich reich.« Während ich das sagte, holte ich die zehn Euro aus der Hosentasche, die wir aus dem Trinkgeldkörbchen geklaut hatten.

Geliehen, ich meinte geliehen. Gedanklich führte ich nämlich eine präzise Liste von Leuten, denen ich etwas schuldete. Sie war völlig lückenlos. Bis auf drei, vier oder auch zehn Stellen, an die ich mich partout nicht mehr erinnern wollte. Jeder andere wäre bei dem ganzen Klauen und Fliehen wohl nicht so gelassen geblieben. Nur waren wir nicht die anderen, sondern Straßenmädchen.

Daphnes Blick schwankte mehrmals zwischen den zehn Euro, mir sowie dem Kiosk hin und her. Ein resigniertes Seufzen kam über ihre Lippen und sie packte den Schein. »Du hast meine Frage nicht beantwortet.«

Daphne stellte sich hinter die Frau, die am Kiosk darauf wartete, bedient zu werden. Ihr Lavendelparfüm drang bis zu uns.

»Welche Frage?« Natürlich erinnerte ich mich an die Frage.

»Wie du so gelassen bleiben kannst?«

Weil nichts so schlimm sein konnte wie die Qualen, die ich in Adoptivfamilien, Waisenhäusern und in Gesellschaft anderer Leute, denen ich naiv vertraut hatte, erfahren musste. »Ich bin eben ein Adrenalinjunkie.«

»Alles mit einem Lächeln abzutun, heilt keine Wunden, Margo.« Daphne sagte das nebenbei, ihre eigentliche Aufmerksamkeit galt den Leckereien im Kiosk.

Auf Zehenspitzen sah sie über die Lavendelfrau, weil sie wohl herausfinden wollte, welche neuen Croissantsorten es gab. Sie war besessen von diesen farbenfrohen Fertigcroissants in allen Geschmacksrichtungen.

»Ein Lächeln hält mich davon ab, Sachen auszusprechen. Denn dann werden sie real.« Nuschelnd beobachtete ich die schwarze Limousine, die sich durch die enge Straße zum Hotel zwängte. Vielleicht deswegen das Polizeiaufkommen?

»Hm?«

»Nichts. Schau, du bist dran.« Mit einem Nicken bedeutete ich ihr, nach vorne zu gucken.

Noch im Gehen drehte Daphne sich um, ihr ausgewachsener, wilder Pony, der einst gerade über ihren buschigen Brauen baumelte, fiel mittlerweile in ihre Augen. »Ich meine es ernst, Babe.« Nach unserem Babe-Insider schmunzelte sie, ehe sie fortfuhr. »Mit einem frechen Spruch deine Gefühle zu verstecken, bringt dich noch in Teufels Küche.«

Erstaunlich, wie perfekt Daphne mich durchschaute. Der einzige Mensch, dem ich vertrauen konnte, und selbst vor ihr versteckte ich mein Innerstes in einem kleinen, verrosteten Tresor in der Mitte meines Herzens. Zusätzlich noch mit Dornenranken verwachsen.

Vor dem Kiosk begann Daphne mit dem Besitzer Georgios zu sprechen, während ich auf die Stelle zwischen meinem Daumen und Zeigefinger blickte und das schlecht tätowierte Vorhangschloss vorfand, bei dem ich mich wunderte, dass ich mir in dem dreckigen Hinterhof keine tödliche Krankheit zugezogen hatte. Es erinnerte mich an all die schrecklichen Sachen, die meiner Seele einen Maulkorb verpasst hatten.

Ein Schaudern kroch an mir empor und leckte mir mit seiner kalten, pelzigen Zunge über den Rücken. Nicht mal die drückende Hitze konnte ihn vertreiben.

Ein Schnipsen vor meiner Nase brachte mich aus meinen Gedanken.

»Na, was is‘? Suchst du dir auch was zum Essen aus? Fünf Euro hast du noch.«

Hinter ihr erkannte ich Georgios mit seinem Weihnachtsmannbart, der mich anguckte. Manchmal glaubte ich fest daran, dass er mit dem Kiosk verwachsen war. Eine Art griechischer Kioskgott. Georgios Kioskious. Würde ich mir noch eine passende, mythische Sage dazu überlegen, würde es bestimmt jemand im Internet glauben.

Er trommelte mit seinen Fingern auf den Kaugummipackungen vor ihm.

»Sorry, ähm.« Rasch checkte ich den Stand ab. »Ich nehme eine Cola-Zitrone vom Kühlschrank und die Krabbencocktailchips, Erdbeercroissant, oh, den kalten Kakao nehme ich auch noch.«

Ein Brummen erreichte mich, woraufhin Daphne ihm den Zehneuroschein aushändigte.

Bevor ich zum Kühlschrank schritt, um meine Sachen zu holen, klopfte ich noch meine Jeanshorts ab. Alles dabei. Diese Paranoia, wichtige Gegenstände zu verlieren, würde mich noch mein erstes graues Haar kosten. Bestimmt. Das … Oder der Typ, dem wir die zehn Euro geklaut hatten, der auf der anderen Seite der Gasse mit zwei weiteren Typen auftauchte, brächte uns um.

»Ähm, Georgios. Wir holen uns den Einkauf später.«

»Was redest du denn da, wieso …«, hinter mir hörte ich das Rascheln einer Plastiktüte, danach stand Daphne auch schon neben mir, »… sollten wir das dalassen?«

Nach Daphnes »Oh«, war ich mir sicher, sie hatte die drei ebenfalls erspäht. Mein Magen verkrampfte sich und wurde nur noch schlimmer, als ich das darauffolgende »Ach du Scheiße«, von Daphne wahrnahm. Warum musste sie mir immer meine Hoffnungen nehmen, dass ich nur halluzinierte?

»Da sind sie.« Spätestens jetzt hatten sie uns offensichtlich entdeckt.

Der kleine Typ mit der verdreckten Schürze stürmte mit seinen zwei Panzern hinter ihm auf uns zu. Kam es mir nur so vor oder bebte der Boden?

Daphne schmiss die Tüten in den Kiosk. »Ist jetzt Panik angesagt?«


Ohne auf meine Umgebung zu achten, sauste ich über den Kapani Markt, den ich besser als meine verdrängten Gefühle verstand. Die meisten hier kannten dieses Schauspiel, dass Daphne und ich mal wieder vor jemandem davonliefen. Nur war es dieses Mal ernst. Wirklich ernst. Das ahnte ich von dem Moment an, an dem ich die kleine Messertasche eines Typen an seinem Fußgelenk erblickt hatte.

Das Blut rauschte in meinem Ohr und vermischte sich mit dem Gebrüll der Händlerinnen und Händler, die sich gegenseitig in ihren Preisen unterboten. Eine Duftwolke aus unzähligen Gewürzen, Gemüse, Obst, Fische und Fleisch empfing mich, als durchbrach ich eine unsichtbare Mauer. Wie Regenbogen reihten sich Zimt, Oregano, Knoblauch, Tomaten, Wassermelonen und Fische neben uns auf. Das ließ mich alles kalt, selbst die Gedanken daran, was mir passieren könnte, waren zweitrangig. Doch Daphne durften sie kein Haar krümmen. Nicht mal die bunten Loukoumi konnten mich heute von meinem Ziel abbringen. Denn nur in unserem Unterschlupf waren wir sicher. Nur wenn wir es dorthin schafften, konnte ich überhaupt noch daran denken, das Zuckergelee auf meiner Zunge zergehen zu lassen.

Während ich über den Kleinpflasterboden eilte, bemerkte ich, wie sich eine Migräneattacke ankündigte.

»Warum?« Meine Frage verlor sich zwischen einem hektischen Hauchen und griechischen Schimpftiraden zweier Händler neben mir.

Das reichte nicht, nein, so leicht machte es mir mein Leben nicht. Denn urplötzlich erdrückten mich Hitzewellen. Mich? Kaum einer Griechin war es jemals zu heiß. Was für eine Scheiße. War ich doch älter als gedacht und befand mich in meinen Wechseljahren?

»Margo?« Daphnes Stimme hinter mir hörte sich seltsam verzerrt an.

Selbst meine Witze retteten mich nicht. Ich schwankte. Stieß mich an einem Postkartenständer ab. Ein lautes Scheppern drang über den Markt, gefolgt von einer Beschimpfung. Eine Postkarte mit Kalimera! darauf rutschte zwischen meinen Füßen hindurch. Ja, nein, definitiv kein guter Morgen. Gleich danach wurde mein Sichtfeld von einem schwarzen Rahmen eingeengt und meine Beine bewegten sich nur noch instinktiv vorwärts. Spätestens als sich mein Herz anfühlte, als hätte es jemand in einen Schraubstock eingeklemmt, um danach dagegenzutreten, krümmte ich mich nach vorne.

»Was ist?« Weiche Hände legten sich auf meinen Rücken.

Sprechen gelang mir nicht, weswegen ich meinen Kopf schüttelte.

»Alles klar?« Die Männerstimme erkannte ich zwar, konnte sie aber gerade keinem Verkaufsstand zuordnen.

Der Pflasterboden unter mir verformte sich zu einer endlosen Spirale. Ein schwarzes Loch, das drohte, mich zu verschlucken.

»Hier, da rein, hinter mir«, sagte die Männerstimme, die sich mittler-weile wie durch einen Sampler gedreht anhörte.

»Danke, Alexis.« Die Worte standen nicht lange alleine da, als Daphne weitersprach: »Mist, Mist, Mist. Komm, da in die Seitengassen.«

Daphne zog mich weiter. Mein Kopf stieß gegen etwas Festes.

»Sorry.« Sie richtete mich auf.

Wir passten gerade so seitlich durch die Enge zwischen den Häusern.

Nachdem wir uns endlich durchgequetscht hatten, fiel ich wie ein Sack zu Boden. Irgendetwas in mir schaffte es noch, dass ich meinen Kopf nach links drehte, um nicht im wahrsten Sinne auf die Schnauze zu fallen. Tja, hatte ich bisher noch gehofft, all das wäre nur ein Trugbild, erkannte ich am schmerzhaften Aufprall, dass ich nicht träumte. Mein Wangenknochen knallte hart gegen den Boden, woraufhin ein Dröhnen in meinem Kopf einsetzte.

»Was ist denn nur mit dir los?« Daphne kniete sich neben mich und ich schaffte es mit Mühe, sie anzusehen. Wenn ich nur selbst wüsste, warum mein Körper gegen mein Überleben rebellierte.

Ich wollte nicht sterben. Diese Erkenntnis huschte so flink durch meine Gedanken, dass ich gar nicht bemerkte, wie meine Nase zu kitzeln begann und meine Sicht sich trübte. Bitte, das durfte nicht das Ende sein.

»Steh auf.« Daphnes Flehen wäre ich gerne nachgekommen, verließen mich nicht gerade meine Kräfte nach und nach.

Irgendetwas geschah in meinem Körper. Etwas breitete sich in mir aus, machte mich schwerer, als schlüge etwas in mir seine Wurzeln. Wie ein flüssiger Amboss, der meine Adern tonnenschwer machte, klebte ich am Boden fest.

Daphne wirbelte so plötzlich herum, dass ich innerlich zusammenzuckte. Dann hörte ich es auch. Mit dem einen Ohr am Stein-boden nahm ich das Getrampel wahr. Sie kamen von der anderen Seite. Doch ich würde hier nicht wegkommen, also …

»Hau ab.« Meine Zunge verwandelte sich ebenfalls in einen kiloschweren Metallklumpen. Sie haftete ausgetrocknet an meinem Gaumen fest und jede Silbe kämpfte sich schwer aus mir heraus.

»Niemals.« Wie ein Schutzwall stand Daphne vor mir.

Meine beste Freundin. Ihre zarten Fäuste zitterten. Nein, sie würde sich nicht für mich in Gefahr bringen, das ließ ich nicht zu. Lebte man auf der Straße, schloss man Frieden damit, irgendwann überraschend zu sterben und nicht in einem kuschligen Sterbebett, umgeben von den Liebsten und Bildern in Rahmen, die so wertvoll waren, dass ich eine Woche davon Essen kaufen könnte. Daphne durfte es nicht so ergehen.

»Daphne, geh.«

Sie drehte den Kopf in meine Richtung. Ihr Blick wirkte, als versuchte sie, herauszufinden, ob ich das ernst meinte. Natürlich dachte sie darüber nach. Wer hätte das nicht? Daphne war kein Mensch, der zu sterben bereit war. Ihr zu sanftes Herz schlug ihrem Überlebens-willen abermals ein Schnippchen und so schüttelte sie mit vorgestrecktem Kinn den Kopf. »Ich lasse dich nicht allein.«

Und das alles nur wegen gottverdammten zehn Euro. Ich hatte es gewusst. Überall munkelte man, dass der neue Restaurantbesitzer am Hafen nun zur griechischen Schutzgeldmafia gehörte. Sie trieben Gelder von den Gastrobetrieben am Meer ein und dafür machten sie ihnen nicht das Leben zur Hölle. Überall in Nordgriechenland spielte sich dasselbe ab. Das gehörte dazu. Niemand redete darüber. Nie hätte ich damit gerechnet, dass die ernst machten. Vermutlich wollten sie an uns das berühmte Exempel statuieren.

All meine Befürchtungen bestätigten sich, als zwei Typen um die Ecke kamen. Die Messer nicht mehr versteckt. Der Besitzer war wohl zurückgeblieben. Mord wollte er bestimmt nicht mit ansehen.

»Wir können euch die zehn Euro wiedergeben.« Der Satz platzte aus Daphne, als hätte sie ihn die letzten Minuten in ihrem Kopf geprobt.

Die beiden Kerle warfen sich einen Blick zu, als fänden sie ihren Auftrag, jemanden für zehn Euro abzustechen, selbst übertrieben. Vielleicht würden sie uns ja nur krankenhausreif prügeln? Oder nur, na ja, ein bisschen mit dem Messer verletzen? Hach, keine Ahnung. Innerlich brüllte, strampelte und schrie ich, aber mein Dreckskörper rührte sich nicht. War das die Strafe für das Leben, das ich führte?

 

»Dafür ist es zu spät«, sagte der Typ mit der Vollglatze.

»Ihr habt eure Chance gehabt«, beendete sein Zwillingsbruder.

Ihre schwarzen Tanktops waren über ihre Muskeln bis zum Zerreißen gespannt. Diese Schränke spaßten nicht. Wir, nein, ich hatte mich mit den falschen Leuten angelegt.

Daphne durfte nicht wegen mir sterben, das konnte ich nicht zulassen. Eine unglaubliche Hitze brannte in meiner Speiseröhre, als schösse die schlimmste Sodbrennattacke der Welt in mir hoch.

»Ich, wir. Es tut uns leid. Wir haben nicht nachgedacht und wir haben Hunger, wir leben auf der Straße und –«

Der Zwilling mit Halbglatze winkte ab und Daphne stoppte, scharf die Luft einsaugend. Es kümmerte sie nicht.

Meine beste Freundin auch noch schluchzen zu hören, brachte mich – abgesehen von der fiesen Migräne – um den Verstand. Zusammen mit der Schwüle im kleinen Hinterhof, in dem Tropfen vom vorherigen Platzregen in Tonnen plumpsten, quälten mich meine Schmerzen, sodass ich mich fragte, wie diese Messerklingen das noch toppen konnten. Sie könnten es.

Sie kamen näher.

Daphne wackelte einen Schritt zurück und stieß gegen mich, als hätte sie vergessen, dass ich da lag. Ich, die ihrem Leben ein Ende setzte. Ich, die alle enttäuschte.

Das war nicht das Ende von Daphne. Mit dieser Sicherheit mobilisierte ich all meine Kräfte und stieß einen schmerzverzerrten Schrei aus. Mein gesamter Körper zitterte und kleine Lichtpunkte flogen aus meinen Poren, die um mich herum vibrierten.

Dann passierte alles ganz schnell.