Paradiese

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Paradiese
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PARADIESE

Erzählungen

ANDREA SAILER

Leykam

Zitate

„Ich hab geträumt, der Winter wär vorbei

Du warst hier und wir waren frei

Und die Morgensonne schien.

Es gab keine Angst und nichts zu verlieren

Es war Friede bei den Menschen und unter den Tieren

Das war das Paradies

Der Traum ist aus.“

(Ton Steine Scherben)

„Was ich in deinen Träumen suche? –

Ich suche nichts. Ich räume auf.“

(Einstürzende Neubauten)

„Alles beginnt mit der Sehnsucht.“

(Nelly Sachs)

Ein glückliches Paar Schuhe

Sie klappt die Lider zu wie horizontale Fensterläden. Hört auf seinen Rhythmus. Achtsam verfolgt sie jede seiner Bewegungen, damit sie ganz genau weiß, wann sie lauter werden muss. Er wird es auch diesmal nicht bemerken. Er hat es noch nie bemerkt. Er schätzt es sehr, dass sie im Bett seit jeher so mühelos imstande ist zu kommen.

In ihrer Jugend war sie verliebt in Blixa Bargeld. Dieser Spielzeugkörper, fadendünn. Rattiges Stachelhaar. Die Wangen dietrichhohl. Und darüber dieser Blick. Ein unstetes, wirres Augenfeuer. Das leuchtende Versprechen von Dunkelheit und Tod. Eine elendige Schönheit, vernichtet, ausgezehrt, bleich. Um die Lippen schleichen Verwegenheit und Spott. Dieser Mund hat kein Lächeln nötig, es würde seine Vollkommenheit nur stören. Dieser Mund ist ein Kuss, der keinen Partner braucht. Nur eine trotzige Frage, die sich als Antwort selbst genügt. Wenn er sich zum Schrei öffnet, hält die Welt an.

Er keucht über ihr. Seine dicke Zunge in ihrem Mund schmeckt fade. An ihrem Kinn trocknet sein Speichel allmählich ein. Ihre weichen, leicht speckigen Bäuche schlagen mit klatschendem Geräusch regelmäßig gegeneinander. Sie hat ein Haar im Mund, von dem sie sich nicht sicher ist, ob es ihres ist oder seines. Die Hand unter ihrem Hintern wird schon ganz tot.

In ihrer Jugend war sie verliebt in die Hälfte der Jungs aus ihrer Umgebung. Mit der anderen Hälfte war sie zusammen.

Er ist ein guter Mann. Sehr reinlich. Von ruhigem, ausgeglichenem Gemüt. Geraucht und getrunken hat er nie. Sparsam ist er. Und fleißig. Kein böses Wort hat sie je von ihm gehört. Wenn er lächelt, geht sein Mund auf wie eine Wunde. Im Unterkiefer stehen seine Zähne leicht schief und erinnern vage an eine Reihe unregelmäßiger Grabsteine. Wenn er einkaufen geht, bringt er ihr immer noch regelmäßig Blumen mit. Die vom Diskonter, wo sie zellophanverhüllt in nassen Eimern stehen. Manchmal sind richtig schöne Sträuße dabei.

Kurz bevor sie in die Pubertät kam, hatte sie sich nicht vorstellen können, überhaupt jemals im Leben auch nur mit einem einzigen Mann zu schlafen. Sex, das war ihr so absurd vorgekommen, so lächerlich, viehisch, peinlich, tabu. Als die Pubertät dann vorüber war, konnte sie sich nicht mehr vorstellen, nur mehr mit einem einzigen Mann zu schlafen. Das kam ihr genauso absurd vor.

Von ihrer Großmutter kannte sie das noch. Sich aufsparen. Anständig bleiben. Sich und seinen Körper nur einem Einzigen, dem Richtigen, hingeben. Sex als etwas zutiefst Verbindliches. Schmutzig immer noch, aber zugleich doch kostbar. Ein unausweichliches Unikat. Das notwendige Übel, auf das nur ein Auserwählter Anrecht hat.

Warum?

Wenn etwas so bedeutungslos und leidig ist, so offensichtlich „nicht das Wichtigste“, warum behandelt man es dann so? Dann ist es doch ganz egal, mit wie vielen Männern man es macht. Und wenn es nun tatsächlich doch von Bedeutung wäre, oder am Ende gar „das Wichtigste schlechthin“, dann müsste man es erst recht mit so vielen Männern wie möglich machen, und so oft es geht.

Am Anfang hatten sie wie alle Paare viel Sex. Taten es immer und überall, hatten ständig Lust aufeinander. Oder zumindest „darauf“. Bis die Lust irgendwann davonschlich wie eine Katze, die einen neuen Kostplatz sucht. Es war ihre Katze.

Sein Gesicht über dem ihren leuchtet jetzt hell wie der volle Mond. Seine fleischigen Wangen fallen ihr zitternd entgegen. Schweiß glänzt auf seiner Stirn. Im schwachen Gegenlicht stehen seine Ohren ab wie kleine Henkel an einem runden Topf. Sie stöhnt zur Abwechslung ein bisschen lauter. Das turnt ihn an, so kommt er vielleicht schneller. Dabei leckt sie sich unkontrolliert über die Lippen und krallt die freie Hand hinter ihrem Kopf ins Kissen. Das hat sie aus Filmen. Und nicht nur dort wirkt es.

Er hat schon immer leicht zu Übergewicht geneigt. Alles an seinem Körper ist weich und rund. Jede einzelne Zelle ist begeistert bereit, Fett zu speichern. Dünner werden nur seine Haare. Bald kann er seiner Glatze die Stirn bieten. Die Schläfen hat sie schon großräumig erreicht.

Bargeld soll auch zugenommen haben. Sie hat ihn schon lange nicht mehr gesehen. Neuerdings soll er zu enge Anzüge und wunderliche Kopfbedeckungen tragen. Der fragile Lärmschmied aus dem Untergrund scheint eben dorthin wieder verschwunden zu sein. Wie alt er heute wohl sein mag? Wohl um die fünfzig.

Besserwisser hat sie nie gemocht. Heute weiß sie es besser. Nämlich, dass die Liebe tatsächlich ein Kind ist. Man kann nicht abschätzen, was passiert, wenn sie erwachsen wird. Am gefährlichsten ist das, was sie bewahren soll. Die Höflichkeit. So eine wohlerzogene Liebe wird sie dann, wie eine höhere Tochter aus gutem Hause. Falls es so etwas noch gibt.

Sie waren immer sehr höflich zueinander. Wenn man das abzieht, was im einen oder anderen kleinen, durchaus dazugehörenden Streit geschieht. Diese unterschwelligen Beleidigungen. Nichts Großes oder Lautes, schon gar nichts Bösartiges oder Gemeines. Nur diese üblichen, feinen Nadelstiche eben, die mit belanglos klingenden, als Harmlosigkeiten verkleideten Nebensätzen Schmerz für Schmerz eintätowieren und hässliche kleine Wortgemälde hinterlassen unter der Haut. Meinungsverschiedenheiten letztlich nur, nichts weiter. Meinungen, die gegeneinander gehetzt werden, bis sie irgendwann wirklich verschieden sind, im Sinne von gestorben. Die Meinungen, die Verschiedenheiten, alles.

Doch abgesehen davon: die reine Höflichkeit. Bitte. Danke. Wie geht es dir? Hab dich lieb.

Auch der Sex, den sie zuweilen immer noch haben, nach fast fünfzehn Jahren immer noch, ist höflichkeitsverbrämt. Sich davor etwa nicht zu küssen, wäre unhöflich. Es danach nicht zu tun, gleichermaßen. In dieser kurzen Zeitspanne dazwischen regiert freilich eine andere Sprache. Mitunter auch einmal die der Gosse. Eine hässliche Sprache. Nur „Gosse“ ist ein schönes Wort.

Auch die Kindersprache war immer wieder ein gutes Versteck. Sie ist es manchmal heute noch. Grammatikalisch verstümmelte Sätze, im Tonfall Vierjähriger skandiert, schützen zuverlässig vor erwachsenen Auseinandersetzungen. Humor ist, wenn man’s trotzdem macht.

Es geht in die Endphase. Er schnauft bereits in beträchtlicher Lautstärke, hat fürs Küssen keinen Atem mehr. Ihr tut der Rücken weh, unter dem linken Schulterblatt sticht ein scharfkantiger Rest von Knabbergebäck ihr in die Haut. Zwischendurch schmatzt er unmotiviert in ihr Ohr.

Ein sensationeller Küsser war er nie. Nicht schlecht, eigentlich ganz passabel, aber eben doch nur guter Durchschnitt. Sie hat ohnedies nicht viele Männer gekannt, die wirklich hervorragend küssen konnten. So gut, dass sie nicht im halben Gesicht davon feucht wurde, sondern nur woanders.

Immer noch fragen sie sich jeden Tag nach ihrem Tag. Auch das gebietet ihnen die Höflichkeit. Beide sind ganztags außer Haus, da ist es nur natürlich, abends heimzukommen und sich auszutauschen. Auf seine Frage nach ihrem Befinden gibt sie Auskunft über das Befinden anderer. Erzählt von der kranken Mutter, deren Rheuma nach wie vor keine Besserung erwarten lässt. Von der einen Kollegin im Büro, deren Kind ihr trotz Nabelhöhe täglich mehr über den Kopf zu wachsen droht. Und von der anderen Kollegin im Büro, die immer noch an ihrer Magen-Darm-Grippe laboriert. Und nur ganz am Rande von einer Bekannten, die gerade über eine Trennung von ihrem langjährigen Lebenspartner nachdenkt.

Er antwortet stets recht einsilbig auf ihre Erkundigungen. Lässt belanglose Sätze auf den Tisch fallen wie Brotkrümel. Nur keine Debatte vom Zaun der schützenden Distanz brechen. Nur keine Diskussion beginnen, die das morsche Gerüst der Höflichkeit gefährlich ins Wanken brächte. Auf der Hut sein vor Äußerungen, die ins Innere führen könnten. Überdies hat schließlich das gemeinsame Schweigenkönnen nach wie vor einen tadellosen Ruf. Und ab einem gewissen Zeitpunkt ist man ohnehin dann am ehrlichsten, wenn nichts mehr zu sagen bleibt.

Sein Höhepunkt kündigt sich nun bereits unausweichlich an. Sie kann im Moment noch nicht abschätzen, ob er in ihr kommen möchte oder außerhalb. Letztlich ist es ihr gleichgültig. Zweiteres wäre allerdings angenehmer. Oder praktischer. Man kann blitzschnell sauber machen. Sonst kommt ja alles nach und nach wieder heraus, ohne dass man es brauchen könnte. Sie hat sich oft gewundert, warum das in Filmen nie gezeigt wird. Keine einzige Liebesszene eines Films hat sie im Kopf, wo hinterher, nach der glückseligen Vereinigung, die ganze Sauerei weggewischt wird. Stattdessen ziehen sich die schönen Hauptdarsteller einfach wieder ihre schönen Kleider an und führen weiter ein schönes Leben. Und nichts klebt oder hat Flecken oder läuft unterm Rock die Wade entlang, während man schon im Großmarkt an der Kasse steht.

Nachher steht sie immer gern auf und tut etwas Unwesentliches. Geht in die Küche und trinkt dort den kalten Kaffee aus. Vor ein paar Tagen lag dort aufgeschlagen die Tageszeitung. Er hatte ein Kreuzworträtsel begonnen. Es klafften noch einige Lücken im Buchstabenmeer. Überraschend einfache Lösungen hatte er anscheinend nicht erraten. Das hatte sie gerührt. Fast hätte sie sich wieder in ihn verliebt. Es war in ihren Augen keine Schande, ULM oder ERL nicht zu kennen. Vielmehr war es regelrecht liebenswert. Ein nicht allzu markanter Schönheitsfehler im Antlitz seiner Halbbildung. Nahezu charmant. Und die Kenntnis von Ulm und Erl hat womöglich ja auch noch niemanden unter Garantie glücklich gemacht.

 

Natürlich liebt sie ihn. Was genau sie dabei empfindet, vermag sie nicht zu sagen. Wahrscheinlich das Gute an ihm. Seine Gelassenheit. Dass er sich um alles kümmert. Dass das Zusammenleben mit ihm so reibungslos funktioniert. Seine Anspruchslosigkeit im Alltag. Dass seine körperliche Nähe ihr bisweilen unerträglich erscheint, macht sie für sie selbst nahezu unerträglich. Denn das hat er nicht verdient. Er hat nichts falsch gemacht. Und dass er der Falsche ist, dafür kann er nichts.

Jetzt, so kurz vor dem Schluss, in diesen finalen Metern bis zum Ziel, muss sie wie fast jedesmal an den Anfang denken. Als sie sich kennenlernten. Dieser kopflose Sturz ins Schwebende hinein. Sie war damals auf eine fast beängstigende Weise glücklich gewesen. Hatte sich gefühlt, als wäre sie neu auf der Welt.

Der Beginn einer guten Beziehung also. Wo alles vorhanden ist, was so eine richtige, ernst zu nehmende Liebe braucht. Sympathie. Gemeinsame Interessen. Vereinte Ziele. Ihr ist nicht klar, warum ihr das längst nicht mehr genügt. Warum ihre Gedanken immer wieder wie leichte Mädchen durch die Nacht streifen, auf der Suche. Warum sie, die doch gar keine Lust auf Sex hat, weder mit ihm noch im Allgemeinen, oft solche Lust auf andere Männer hat. Irgendwelche Männer. Jüngere, ältere, fremde, bekannte, tote aus Romanen, lebende aus dem Fernsehen. Sie kann sich nicht erklären, warum ihr dieser vertraute, gepflegte und freundliche Körper meistens zuwider ist. Warum die Vorstellung, den ganzen Rest ihres Lebens ausschließlich mit diesem Körper verbringen zu müssen, einer schwer psychotischen Panikattacke gleicht.

Und wann alles anfing aufzuhören.

Natürlich geschah nichts davon im Handumdrehen. Es war keine Veränderung von heute auf morgen, vielmehr ein schleichender Wandel, bestens versteckt in den hintersten Nischen einer handelsüblichen Handvoll Augenblicke. Alles ein großes Nichts, eigentlich. Sie ist immer noch verwundert darüber, dass das Nichts so weh tun kann.

Wenn sie miteinander ausgehen, zum Essen oder auf eine Veranstaltung, ist sie sich dessen bewusst, dass sie zusammen mit ihm für die anderen ein glückliches Paar darstellt. Fast zum Neidischwerden. Später ertappt sie sich dabei, wie sie aus irgendeinem Augenblicksflirt mit einem zufälligen Gesicht in der Menge ein wildes Abenteuer werden lässt, eine heiße Affäre, eine verboten gute Liaison.

Von einer Trennung war nie die Rede. Nie. Mit keiner Geste, keinem Wort haben sie einander jemals angedeutet, sich nicht mehr zu lieben oder unzufrieden zu sein. Nicht einmal, dass sich überhaupt etwas verändert haben könnte im Laufe der Zeit, kam je zur Sprache. Aber vielleicht beginnt sie gerade dort erst, die Liebe. Wenn von der Liebe, der des Anfangs und der Fraglosigkeit, nichts mehr übrig ist. Jedenfalls nicht der Anfang. Nur die Frage.

Wenn es vorbei ist, was jeden Augenblick soweit sein kann, wird sie aufstehen. Das Gute an der Sache: das Nachspiel kann man sich sparen. Die ganze Anstrengung findet davor statt. Das Vorspiel ist am aufwendigsten, denn das muss sie sich schließlich selber vorspielen. Es kostet viel Mühe, durch die Kraft der Gedanken und das Hervorholen uralter Sehnsüchte und flüchtiger Begegnungen eine gleitfähige Basis für den partnerschaftlichen Vollzug zu schaffen. Dazu muss sie sich schon sehr konzentriert in die Vorstellung fremder Küsse und Berührungen hineinsteigern. Aber fast immer gelingt es. Schließlich bleibt noch der zum beziehungstechnischen Statussymbol erhobene Orgasmus. Den muss sie wenigstens nur ihm vorspielen. Danach kann sie zwanglos und frei aus dem Bett gleiten, in dem er liegen bleibt und nach kürzester Zeit mit einem Ausdruck vollkommenen Friedens einschläft.

Im Augenwinkel entdeckt sie etwas, das sie jetzt schon wieder zutiefst rührt an ihm. Wie er schon ordentlich seine Sachen für morgen hergerichtet hat. Das macht er jeden Abend. Und das bringt sie auch genauso oft fast zum Weinen. Wie da seine gute Hose liegt, einmal gefaltet, dazu ein Hemd, jetzt der kalten Jahreszeit entsprechend aus warmem Flanellstoff, und eine Strickweste mit Norwegermuster, die leblos über der Sessellehne hängt. Daneben auf dem Fußboden stehen seine Arbeitsschuhe. Unschuldig und arglos stehen sie da, in solidem Braun, aus robustem Leder, mit trittfesten Sohlen, in einer herzzerreißenden Größe. 46. Sie stehen ruhig da und erzählen doch zugleich von ihrem immer gleichen Weg. Als wären die Schritte schon eingebaut.

Würde er plötzlich sterben, sie könnte den Anblick dieser Schuhe keine Sekunde länger ertragen. Schuhe ohne einen dazugehörigen Menschen, der sie nie wieder tragen wird, sind das mit Abstand Traurigste auf der ganzen Welt.

Als sie ihre mittlerweile tote Hand endlich aus dem Fleischgefängnis ihres Hinterns befreien kann, lässt sie sie kraftlos aus dem Bett fallen. Dort landen die komatösen Fingerspitzen auf seinen Hausschuhen. Auch die machen sie augenblicklich todtraurig. Wie sie da neben dem Bett in schiefer Überkreuzung auf dem Teppich liegen, daneben die zusammengerollten Sportsocken, ausgezogen in der Hast, zu Boden geworfen in vorfreudiger Leidenschaft. Seine Hausschuhe erzählen alles. Filzig und bequem geben sie wortlos Auskunft über das Glück, ein Zuhause zu haben, sich daheim zu fühlen. Das ganze, entsetzliche Glück von beschaulicher Geborgenheit und nestwarmer Behaglichkeit steigt zu ihr herauf. Diese Hausschuhe riechen nur ganz schwach nach Schweiß, nur, wenn man förmlich mit der Nase in sie hineinkriecht. Viel stärker riechen sie nach allem, worauf er ein Recht hat. Frisch gekochte Abendessen und liebevoll servierte Jausenteller, Kuchenduft am Wochenende, würzige Grillaromen aus dem Garten, an hohen Sommertagen, wo Familie und Freunde im kleegrünen Wiesenbett sitzen auf Einladung eines glücklichen Paares.

Ein letztes Mal schließt sie die Augen und legt die Stirn in jene Falten, die Selbstvergessenheit und Lust symbolisieren sollen, gemeinsam mit dem Gleichgewicht aus Krampf und Entspannung. Sie schlägt ihm beide Hände ins Rückenfleisch, wobei sie genau darauf achtet, den Druck ihrer Fingernägel auf seiner schwammig weichen Haut so zu dosieren, dass er ihn wohl mit einem Anflug von Schmerz verspürt, jedoch auf keinen Fall eine echte Wunde davonträgt.

Während sie in diesem Augenblick für ihn mit allen dazu notwendigen äußerlichen Indizien sicht-, hör- und fühlbar kommt, ist sie innerlich zuvor schon längst gegangen. Nur weiß sie nicht, wohin.

Paradiese

Er war schon als Kind so gewesen. Hatte sich oft vorgestellt, jemand anderer zu sein. Oder etwas. Konnte sich nahtlos hineinversetzen in andere Körper, andere Leben, andere Welten. Im Geiste wechselte er die Identitäten mit Lichtgeschwindigkeit. Schlüpfte in fremde Häute, dachte fremde Gedanken, empfand mit allen Herzen, die um ihn herum schlugen.

Als der Polizist die Tür aufbrach und mit zwei Kollegen in den dunklen Vorraum trat, raubte ihm ein beißender Geruch schier den Atem. Die Kollegen schlugen sich instinktiv die Hände vors Gesicht. „Hat jemand Tigerbalsam dabei?“, fragte einer. „Oder irgendeine Mentholcreme? Schnupftabak? Der Gestank macht einen doch fertig!“ Sie gingen zurück ins Freie und ordneten die Bereitstellung von Mundschutz an sowie eine Verständigung der Seuchenpolizei.

Er hatte keine leichte Kindheit gehabt. Aber, andererseits, wer hatte die schon? Und dennoch. Er war nun einmal kein Kind wie alle anderen gewesen.

Wenn zwei seiner Mitschüler auf dem Nachhauseweg ein Tier quälten, belanglos, gleichsam nebenbei, dann musste er einschreiten. Konnte nicht tatenlos dabei zusehen, wie die anderen Kinder in ihrer ganz und gar nicht unschuldigen Kindlichkeit auf eine Spinne traten, einer mühevoll gefangenen Fliege Beine und Flügel ausrissen, eine Schnecke mit Salz bestreuten, einen Käfer anzündeten. Er übte sich damals schon in versuchsweiser Schadensbegrenzung und rettete, was eben noch zu retten war. Bei einer totgetrampelten Spinne war das nicht mehr möglich. Da konnte er bestenfalls noch den haarigen Matsch vom Asphalt schaben, mit seinen ungelenken Kinderfingern, und den verbliebenen Leichnam in der lockeren Erde eines Maulwurfshügels vergraben. Weil seiner Meinung nach auch eine Spinne wenigstens ansatzweise eine würdige letzte Ruhestätte verdient hatte.

Er hatte sich schon damals nicht erklären können, weshalb die Erwachsenen mit manchen Tieren durchaus großes Mitleid haben konnten, bei anderen aber nur Feindseligkeit und Abscheu empfanden. Es war doch kein Lebewesen auf der Erde in der Lage, sich seine Daseinsform aussuchen zu können. Es hatte doch kein einziges, noch so unscheinbares, unbedeutendes Etwas auch nur für Sekundenbruchteile eine Wahl! Es konnte doch keine Spinne etwas dafür, eine Spinne geworden zu sein. Keine Schnecke bekam vor ihrer Geburt einen Fragenkatalog vorgelegt, auf dem sie ankreuzen durfte, als was sie später ihr Leben verbringen wollte, ob als Haselstrauch, Flusskiesel, Hochschullehrer, Massaifrau, Tigerkatze oder Nacktschnecke. Und das war vielleicht auch gut so, denn jede mögliche Auswahl gipfelte letztlich doch nur in einer Wahl der Versäumnisse. Mit der Entscheidung für das eine entschied man sich automatisch gegen alles andere. Und überhaupt: Es musste doch alles geben auf der Welt! Fehlte auch nur ein Baustein, brach das Ökosystem zusammen. Das war ihm natürlich erst klar geworden, als er längst erwachsen geworden war, viele Bücher las, Fachzeitschriften, lehrreiche Dokumentationen im Fernsehen anschaute, wissbegierig alles in sich aufsog über die vielen fremden Leben und Welten, denen er sich aus unerklärlichen Gründen immer schon so nahe gefühlt hatte.

Als Kind wusste er noch nicht, dass das Blut der Insekten und Spinnen nicht rot, sondern farblos ist. Ein Nachteil, denn rotes Blut erregt ohne Zweifel mehr Mitleid bei den Menschen, weil es sie an sie selbst erinnert. Rotes Blut wirkt stets dramatisch, farbloses Blut hingegen sieht bestenfalls nach Schmutz aus, oder nach gar nichts.

Solange man ein Kind ist, glaubt man an die absonderlichsten Dinge. Ohne schon ein Wort dafür zu haben, glaubt man an so etwas wie Gerechtigkeit, Güte, Liebe, Gott, den Himmel, das Paradies. Und stellt sich vor, wenn man den Käfer mit den ausgerissenen Beinen nur sachte an den Wegesrand legt und still davongeht, kommen bald darauf die Käfersanitäter und der Käfernotarzt und schienen die noch verbliebenen, zerquetschten Beine und nähen ihm später in einer hochkomplizierten Operation, die viele Stunden dauert und allergrößte Konzentration vom Käferchirurgen erfordert, dem die angespannten Fühler wachsam aus der grünen Operationshaube herauswippen, eventuell ein paar neue Spenderbeine an, oder gar künstliche Laufwerkzeuge aus dem Käferforschungslabor. Aber das war nicht wahr. In Wirklichkeit blieb der Käfer einfach am Wegesrand liegen und starb, um sogleich von anderen, kleineren Käfern, Ameisen und dergleichen mehr entsorgt zu werden.

„Es gibt eigene Entsorgungsfirmen“, bemerkte der Sachbearbeiter, während er sich in der Wohnung umblickte. Die Polizisten nickten verständnisvoll. „Ja, Entrümpelungsservice, sowas in der Art“, ergänzte einer von ihnen. „Das muss dann, wenn es leer ist, erst einmal gründlich desinfiziert werden. Dann neu gestrichen, neue Böden, von Grund auf alles saniert.“ „Die Seuchenpolizei ist bereits unterwegs“, rief eine Frauenstimme von draußen herein.

Was die Kindheit letzten Endes dann doch sehr schön machte, war diese unglaubliche Anhäufung von tröstlichem Nichtwissen, diese vollständige Abwesenheit aufwühlender Fakten und unumstößlicher Tatsachen. Es schmerzte ihn mehr als vieles andere, dass er einmal Gehörtes, Gelesenes, mitunter gar zufällig Aufgeschnapptes nie mehr aus seinem Gehirn tilgen konnte. Es gab keine Löschtaste darin, und für die Gnade des Vergessens war er schlichtweg noch zu jung.

Wie war diese Grausamkeit innerhalb des Tierreiches zu rechtfertigen? Er erinnerte sich noch genau daran, wie er damals nach der Lektüre dieses einen Artikels die ganze Nacht nicht hatte schlafen können. Es ging um Vorsorge für den Winter, Futtervorräte von Wildtieren. In einem beschaulichen Magazin, das die Lust am Landleben und die Schönheit der Natur bereits auf dem Titel pries. Die Reportage hatte auf den ersten Blick nichts Beunruhigendes gehabt, ganz im Gegenteil. Das Bildmaterial war sogar ausgesprochen entzückend. Ein beflissener Tannenhäher, der stolz eine große Haselnuss im Schnabel trägt. Ein geschäftiges Eichhörnchen, in den kleinen Pfoten einen erstaunlich massiven Kern. Ein Feldhamster inmitten eines Samenberges, eines regelrechten Körnergebirges. Alles äußerst reizend. Und dann in ein paar Zeilen das Unfassbare! Wie der Maulwurf über den Winter kam. Indem er Regenwürmer sammelte, denen er den Kopf abbiss, damit sie zwar nicht mehr fortkrochen, jedoch noch überlebten. Und da lag er nun schlaflos in seinem Bett und schlüpfte im Geiste, ohne es zu wollen, aber auch, ohne es verhindern zu können, in die glatte rosa Wurmhaut. Und litt. Nichts mehr sehen oder riechen, nur noch spüren, dass man lebt, dass es einen noch gibt! Warten müssen, bis man an die Reihe kommt. Zusammen mit anderen kopflosen Kreaturen dem sicheren Tode ausgeliefert. Wie schrecklich! Und wie lange mochte so ein Martyrium dauern? Konnte man ohne Kopf denn überhaupt noch Angst empfinden? Was ging im Restwurm vor?

 

Dass auch andere Tiere grausam waren, freilich, ohne darüber nachzudenken, machte das Leiden jedes einzelnen Geschöpfes nicht geringer. Er brauchte nur an die infame Kaltblütigkeit der Weg- und Dolchwespen zu denken, die nicht umsonst zu den Spinnentötern gezählt wurden, schon brach ihm der Schweiß aus allen Poren. Was man einerseits als durchaus liebevolle Brutpflege bezeichnen könnte, war andererseits an Bestialität kaum zu übertreffen. Wegwespen, äußerlich um nichts unscheinbarer als herkömmliche Fliegen, fingen unschuldig dösende Spinnen und machten sie mit einem giftigen Stich bewegungsunfähig. Dann schleppten sie die gelähmte Spinne in ihr Nest und legten in ihr die Eier ab, die sich als heranwachsende Larven von der immer noch lebenden Spinne ernährten. Das Spinnenherz hörte erst auf zu schlagen, wenn die letzten Larven erwachsen waren. Die Dolchwespen verfuhren mit den Larven der Blatthornkäfer ebenso. Und hielten dabei sogar noch strenge Regeln ein. Die Wespenkinder verzehrten das Käferkind in einer ganz akkuraten Reihenfolge, zuerst das Fettgewebe, dann das Nerven-, zuletzt das Atemsystem, damit der lebende Futterspender nicht zu früh verstarb.

Schrecklich, einfach schrecklich, alles. Und da war keiner, der ihn verstand. Wenn er mit anderen über diese furchtbaren Dinge sprechen wollte, bei der Arbeit, in einer Pause, oder in der Freizeit, privat, dann sah er sich stets nur mit genau zwei Reaktionen konfrontiert. Entweder starrte man ihn ungläubig, ja fassungslos an, außerstande zu begreifen, weshalb ein Mensch sich über derlei Tatsachen auch nur einen Augenblick lang den Kopf zerbrechen konnte, gerade so, als wäre er ein Marsmensch, oder hätte wenigstens zugegeben, an dergleichen zu glauben. Oder man beschwichtigte ihn mit erbärmlichem Floskelgeschwätz. Das begann schon in der Kantine, wo er mit schöner Regelmäßigkeit um eine vegetarische Mahlzeit bat. Was hatte er sich da sein ganzes Berufsleben lang alles anhören müssen! Von der fast rührenden, zum Gotterbarmen naiven Mitteilung, die Tiere würden genauso geschlachtet werden, auch wenn er auf ihr Fleisch verzichtete, bis zum nahezu brüsken Vorwurf, er sei mitverantwortlich für das Bauernsterben und denke wohl kein bisschen an die vielen Arbeitsplätze in der fleischverarbeitenden Industrie. Er ließ all den Spott, die Wut und das Unverständnis über sich ergehen, saß bald weit abseits von den Kollegen allein an einem Tisch, nahm später nur noch von daheim Jause mit und vermied alle unangenehmen Gelegenheiten, in denen über das Thema Tierschutz hätte gesprochen werden können. Aber nie war ihm der Bericht in der Tageszeitung aus dem Kopf gegangen, in dem von einem entlaufenen Stier die Rede war. Einem Stier, der vor Angst aus dem Schlachthof geflohen war und sich daraufhin im Wald versteckte. Diese Angst in den Tieraugen! Diese Hilflosigkeit trotz der enormen Kraft und Größe. In den Händen eines Menschen war doch das stärkste Tier wehrlos wie eine Mücke. Und dass Säugetiere sehr ähnlich empfanden wie Menschen, gerade was Gefühle wie Schmerz, Furcht, Aufregung oder Einsamkeit betraf, das hatte die Forschung doch längst schon herausgefunden, das war doch eindeutig bewiesen. Aber den Menschen schien das vollkommen gleichgültig zu sein. Sie zerschnitten ungerührt das köstlichste Stück Fleisch auf ihrem Teller, tunkten es genüsslich in die Pfeffersauce oder in die Preiselbeeren, und verschwendeten keinen Gedanken daran, dass dieses Stück Fleisch einmal gelebt hatte, eine Mutter hatte oder selbst war, dass es auch nur eine Möglichkeit hatte von Anfang an, nur ein Leben, dieses, ohne Versprechen auf Entschädigung, Vergeltung, ein Paradies.

Dabei gab es doch nicht nur die Rinder und Schweine, die kotstarr, blutverschmiert und mit angstgeweiteten Augen durch die Gitterstäbe der Tiertransporter ihrem Tod entgegenblickten, und zugleich das erste Mal ins Freie, in die Sonne, das Tageslicht. Es gab nicht nur die Hunde, Katzen und Affen in den asiatischen Ländern, die dort gefoltert wurden, um hernach als Delikatesse serviert zu werden. Es gab auch Tiere, die so ganz anders waren, von deren Empfindungen und Bewusstsein den Menschen kaum etwas bekannt war. Wie lange lebten die Fliegen, die auf dem Leimpapier festklebten, ehe sie darauf zugrunde gingen? Wie viel bekamen sie von ihrem grausamen Schicksal mit? Was hatten sich die tausend und abertausend Nacktschnecken zuschulden kommen lassen, als dass sie eben Nacktschnecken waren, nichts anderes hätten werden können, nie eine Wahl hatten, nur jetzt die Qual? Er versetzte sich beim Anblick jedes gepflegten Gartens unwillkürlich in den Kopf einer roten Wegschnecke, er konnte nicht anders, es war in ihm veranlagt, auch er hatte keine Wahl. Er spürte sich deutlich über die Erde gleiten, eine glänzende Spur aus Schleim hinter sich herziehend. Kein Mensch hinterlässt so viele Spuren wie eine Wegschnecke, aber was nützt es ihr, was bleibt? Nichts! Nicht eine einzige Schnecke wurde persönlich von jemandem gekannt. Spuren waren auch nur Verschmutzungen auf der Welt, wie farbloses Insektenblut.

Er glitt im Schneckenkörper die Beete entlang und wusste, dass es sich hierbei um nichts anderes als das Paradies handeln konnte. Wie von Zauberhand hatte da jemand oder etwas ihm sein ganz privates Stück Himmel bestellt. Die köstlichsten jungen Pflänzchen, die schmackhaftesten neuen Triebe, das allerzarteste Blattwerk schien nur auf ihn zu warten. Und er war nicht allein! Viele Artgenossen gesellten sich zu ihm, alle verblüfft über diesen wunderbaren Zauberort, den nun noch ein leichter Regen erfrischte. Es war der Inbegriff des Glücks. Dann kam die gute Gärtnerin und schnitt ihn entzwei. Einfach so. Mitten im Paradies konnte das passieren. Denn es war gar nicht das Paradies, sondern die Hölle. Rings um ihn nichts als entzweigeschnittene Schnecken. Die Hälften trockneten in der wieder zögerlich hinter den Wolken hervorscheinenden Sonne. In ihrer Verzweiflung begannen einige Schnecken, die noch ganz waren, ihre verstorbenen Verwandten aufzuessen. Eine andere Möglichkeit der halbwegs würdigen Bestattung schien ihnen nicht durchführbar. Im Garten nebenan, der nächsten Hölle, stürzten die Artgenossen in einen Bottich voll siedenden Wassers, wo sie sich langsam, sehr langsam, zu einem rötlichbraunen Brei auflösten. In wieder einer anderen Hölle salzte ein Blumenfreund im Blaumann die Tiere an wie eine zukünftige Mahlzeit, um sie dann achtlos ihrem Leiden zu überlassen. Sie seufzten und wimmerten noch mehrere Stunden und krochen noch etliche Zentimeter weit, aber niemand nahm davon Notiz. Niemand, außer ihm. Aber wie hatte eine Kollegin ihm einst gesagt? „Du allein kannst die Welt nicht retten!“ Wer hatte denn was von allein gesagt? Oder von der ganzen Welt? Aber Tiere retten war noch einfacher als Menschen retten. Denn dass die Menschen anstelle eines Paradieses auch nur eine Hölle zur Verfügung gestellt bekommen hatten, stand für ihn ebenso außer Zweifel.