Der entschwundene Garten

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Der entschwundene Garten
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Andrea Herlbauer

DER ENTSCHWUNDENE GARTEN

Erzählungen

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2015

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2015) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte bei der Autorin

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

AUFENTHALT

Mit lautem Quietschen und einem heftigen Ruck kam der Zug zum Stehen. Der Reisende, eben über seiner Lektüre eingenickt, schreckte hoch. Draußen Dunkelheit, schwach erhellt von matten Lampen. Ein schmaler Bahnsteig, ein kleines, etwas heruntergekommenes Bahnhofsgebäude, umnebelt vom Dampf der Lokomotive. Kein Schild, aus dem man hätte schließen können, wo sie sich befanden. Aber bei einem so schäbigen Bahnhof konnte es sich nur um eine unbedeutende Ortschaft handeln. Warum um alles in der Welt hielt der Zug hier an?

Der gut angezogene, schon etwas ältere Reisende trat auf den Gang hinaus und hielt Ausschau nach dem Schaffner, der langsam herankam, von weiteren Fahrgästen befragt. In der Lokomotive müsse eine kleine Reparatur durchgeführt werden, höchstens eine halbe Stunde.

Der Reisende setzte sich wieder, nahm seinen Roman zur Hand und las weiter. Von plötzlicher Unruhe erfasst, ließ er das Buch jedoch bald sinken und verließ den Zug. Er spazierte den Bahnsteig entlang bis zur Lokomotive. Niemand war zu sehen, von Reparaturarbeiten keine Spur.

Auf erneute Nachfrage teilte der Schaffner mit, dass ein Ersatzteil besorgt werden müsse. Leider würde das nicht so schnell gehen, hier im Orient ließ man sich Zeit. Ohne Zweifel würden bis zur Weiterfahrt noch eineinhalb Stunden vergehen. Der Reisende vergewisserte sich, ob der Zug wirklich nicht früher abfahren würde. Er habe die Absicht, sich etwas in der Stadt umzusehen. Der Schaffner bestätigte die eben genannte Frist, äußerte sich aber, mit Verlaub, skeptisch gegenüber dem Exkursionsplan. Für einen Ausländer, der mit den örtlichen Gepflogenheiten nicht vertraut war, sei ein Zurechtfinden vielleicht schwierig.

Doch gerade die Fremdartigkeit der Umgebung reizte den Reisenden zu einem Ausflug. Er beruhigte den Schaffner, er werde unversehrt in spätestens eineinhalb Stunden zurück sein.

Zwischen den eng beieinander stehenden, meist zwei- oder dreistöckigen Häusern herrschte trotz der späten Stunde noch ein Rest der Tagesschwüle, vermischt mit unbekannten Gerüchen. Matte Lampen spendeten auch hier nur wenig Licht. Kaum waren Menschen unterwegs, in orientalischen Gewändern, den Fremden in seinem westlichen Anzug musternd, mit erstaunten, neugierigen oder misstrauischen Blicken.

Ein Händler näherte sich, ihn mit unverständlichen Worten ansprechend. Der Reisende ging rasch weiter, da der Händler, allzu geschäftseifrig, nicht von ihm abließ.

Er kam immer weiter in die Stadt hinein, folgte den gebogenen Gassen und Winkeln, hielt jedoch in etwa immer die gleiche Richtung. So brauchte er sich nur umzuwenden, um auf gleichem Weg zum Bahnhof zurückzufinden. Eine gute halbe Stunde war vergangen, es war Zeit zur Umkehr.

Eine junge Frau, verschleiert bis auf die Augen, glitt lautlos an ihm vorüber und betrat eines der Gebäude. Der Reisende erkannte an einem kleinen Auslagenfenster, dass es sich um einen Laden handelte. Angelockt durch fremdartige Figuren im Fenster kam er näher. Er zögerte. Er sollte jetzt den Rückweg antreten, warum dachte er an die verschleierte Frau? Eine Erinnerung tauchte auf, vage, aus der Tiefe einer weit entfernten Vergangenheit. Er wusste nicht, was ihn bewog, den Laden zu betreten.

Im Inneren herrschte Zwielicht, es roch süßlich. Niemand war zu sehen. Zahlreiche Regale, kreuz und quer im Raum aufgestellt, waren eng befüllt: Schatullen, Vasen, Schmuck, Teller, Schalen …

Auch seltsame Figuren waren hier zu finden; sie muteten an wie aus einer anderen Zeit, aus einer anderen Welt. Der Reisende nahm eine der Figuren aus einem Regal. Ein alter Mann tauchte lächelnd neben ihm auf und sagte etwas in fremder Sprache. Der Reisende versuchte ihm klar zu machen, dass er ihn nicht verstand. Er wollte die Figur auf das Regal zurückstellen, als er dicht neben sich die Anwesenheit der Frau fühlte. Die Figur stand erst halb auf dem Fach, als er sie losließ, verwirrt durch die plötzliche Nähe. Das Klirren hallte durch den Raum. Die Statue lag zu seinen Füßen, in unzähligen Scherben.

Der alte Mann lächelte nicht mehr. Der Reisende setzte zu einer Erklärung an, wies auf die Frau, doch sie war nicht mehr da. Die Augen des alten Mannes funkelten. Der Reisende versuchte erneut, sein Bedauern auszudrücken und wollte seine Brieftasche ziehen, um den Schaden zu bezahlen, wich aber zurück als der alte Mann drohend näher kam und gelangte zur Tür. Er stürzte ins Freie und hörte die wütenden Rufe des alten Mannes unter der Ladentür. Einige Umstehende wurden aufmerksam. Der Reisende beschleunigte seine Schritte, er spürte bohrende Blicke auf sich gerichtet und hatte plötzlich das Gefühl, verfolgt zu werden. Er bog in die nächste Seitengasse ab und begann zu laufen. Hinter sich glaubte er Stimmen zu vernehmen. Er lief schneller, versteckte sich dann in einem schmalen, völlig dunklen Hauseingang und wartete. Es kam niemand. Schweiß stand auf seiner Stirn. Nur langsam beruhigten sich sein heftiger Atem und sein Herzschlag. Niemand kam.

Er wurde wütend auf sich selbst. Wie konnte er sich nur so idiotisch benehmen? Wegzurennen, wie ein Schuljunge nach einem Streich. Was hatte er schon getan? Aus Versehen irgendeine Figur zerbrochen, die bestimmt nicht so wertvoll gewesen war. Er hätte sie ja bezahlt, aber der Mann hatte ihn nicht gelassen. Lächerlich, deshalb davonzulaufen, wie ein flüchtiger Verbrecher. Er zog seinen Anzug zurecht, wischte sich mit einem Taschentuch das Gesicht und trat wieder auf die Gasse hinaus. Niemand war zu sehen. Er zog seine Uhr heraus und erschrak. Nur noch 20 Minuten bis der Zug abfuhr. War er so lange in dem Laden gewesen? Er sah sich um. Aus welcher Richtung war er gekommen? Hier von links, aber hatte er bei seiner Flucht aus dem Laden die richtige Richtung zurück zum Bahnhof eingeschlagen? Wie weit war er gelaufen? Wen sollte er nach dem Weg fragen? Erneut bildeten sich Schweißperlen auf seiner Stirn.

Er schlug irgendeine Richtung ein. Doch er kam nur durch kleine, menschenleere, ihm unbekannte Gassen. Der Ort hatte plötzlich seinen eigentümlichen Zauber verloren. Der Zug – er musste ihn erreichen.

Ein Mann kam ihm entgegen. Der Reisende trat auf ihn zu und fragte ihn nach dem Weg zum Bahnhof. Der Mann schüttelte nur den Kopf. Der Reisende versuchte, das Geräusch eines fahrenden Zuges nachzuahmen und kam sich lächerlich dabei vor. Es war zwecklos. Der Gefragte zuckte nur mit den Achseln und ging weiter. Noch zwei Minuten bis zur Abfahrt.

Aber der Zug würde keinesfalls ohne ihn fahren, wenn der Schaffner sah, dass er noch nicht da war – oder doch? Und der Zug würde pfeifen, wenn er zur Abfahrt bereit war, das tat doch jeder Zug – oder nicht? Obwohl, hier in den engen Straßen, konnte man da die Richtung eines Geräusches genau lokalisieren?

Das Gewirr der Gassen erschien immer unentrinnbarer und verzweigter. Es war drei Minuten über die Zeit. Bestimmt würde die Reparatur ohnehin nicht pünktlich abgeschlossen sein. Er durfte jetzt nicht in Panik geraten. Er bog um eine Ecke und starrte auf das, was vor ihm lag: ein Gleis! Der sicherste Weg zum Bahnhof. Doch in welcher Richtung lag er? Links oder rechts? Egal, wenn er in die falsche Richtung lief, würde ihn der Zug bei der Weiterfahrt einholen, er konnte ihn auf der Strecke stoppen. Doch nein, wenn er hier hinter dem Zug war und in die falsche Richtung ging, war er verloren. Er hatte keine Orientierung mehr. An die verschleierte Frau dachte er nicht mehr.

Der verirrte Reisende stand auf den Schwellen. Er musste sich für eine Richtung entscheiden. Er ging nach links. Immer zwei Schwellen auf einmal nehmend lief er zwischen den Schienen entlang. Er begegnete niemand. Das Gleis machte einen sanften Bogen. Die Gassen links und rechts wurden nicht belebter, die Häuser wurden aber auch nicht spärlicher. Er sah sich immer wieder um und wäre dabei beinahe gefallen, weil er zwischen zwei Schwellen trat.

Er hatte das Ende der Kurve erreicht, vor ihm lag in geringer Entfernung – der Bahnhof! Die Lokomotive pfiff laut und vernehmlich, als er das hintere Ende des Zuges erreicht hatte und er fragte sich, ob der Zug jetzt wohl ohne ihn gefahren wäre.

Er wischte sich mit dem Taschentuch sorgfältig das Gesicht, klopfte seinen Anzug ab und stieg auf den Bahnsteig hinauf. Der Schaffner stand in der Mitte des Zuges und hielt nach der Straße hin Ausschau. Der Reisende ging an ihm vorüber und grüßte höflich. Es war 20 Minuten über die Zeit. Der Schaffner musterte ihn und brachte seine Sorge über sein langes Fernbleiben zum Ausdruck. Der Reisende entschuldigte sich für die Verspätung, aber dies sei wirklich ein ganz reizender und interessanter Ort.

DIE BEGEGNUNG

Zwischen den Bäumen war der Boden weich von abgefallenen Nadeln und Moos. Überall glänzte Feuchtigkeit. Durch den Nebel sah der Wanderer die Stämme schon in geringer Entfernung nur noch undeutlich, weiter hinten verloren sie sich ganz in der hellgrauen Wand des Nebels, ebenso wie die Baumkronen über ihm.

 

Den Weg hatte er schon lange verloren. Er ging zwischen den Bäumen dahin, über den weichen, feuchten Boden. Die Nässe drang langsam in seine Schuhe ein. Den Kragen hatte er hochgeschlagen, die Hände tief in die Taschen seiner Jacke vergraben. Er begann zu frösteln.

Er wusste nicht wo er war, noch wo er sich hinwenden sollte. Er ging immer geradeaus weiter, so schnell, wie es der unwegsame Boden zuließ. Irgendwann musste er auf einen Weg treffen. Es war schon spät, jetzt, im Spätherbst kam die Dämmerung früh, sie würde nicht mehr lange ausbleiben. Bis dahin musste er aus diesem Wald heraus sein. Er hatte sich noch nie in seinem Leben verirrt. Er konnte nicht verstehen, wann und wo er den Weg verloren hatte.

Der Nebel wurde noch dichter, oder schien es ihm nur so, als er plötzlich einen schwachen Lichtschein wahrnahm. Er glaubte zunächst, sich getäuscht zu haben, doch schon nach wenigen Schritten sah er das Licht ganz deutlich. Der warme Schein einer Lampe fiel durch das Fenster eines Hauses ins Freie. Es war ein kleines, einstöckiges Haus, das mitten im Wald auf einer kleinen Lichtung stand. Wäre nicht der Lichtschein gewesen, man hätte es im Nebel übersehen können, wenn man nicht unmittelbar daran vorüberkam.

Der Verirrte blieb vor der Tür des Hauses stehen. Es war eine einfache Holztür, kein Namensschild verriet etwas über die Bewohner. Auch fehlten Briefkasten, Klingel oder Türklopfer. Wie seltsam, wer mochte hier wohnen? Dass jemand hier wohnte stand fest, das brennende Licht verriet es.

Noch zögerte er. Hier konnte man ihm sicher den richtigen Weg weisen. So klopfte er an. Drinnen war nichts zu hören. Was sollte er tun? Er wartete, klopfte noch einmal. Wieder keine Antwort. Vielleicht war doch niemand zu Hause, das Licht nur vergessen worden. Er beschloss, zur anderen Seite, zum Fenster zu gehen, als drinnen jemand »Herein« sagte. Er öffnete, trat ein und schloss die Tür wieder.

Er stand in einem Raum mit einfachem Holzfußboden, die Wände waren ebenfalls aus Holz. Alte Möbel standen an den Wänden. Ein Sofa, Schränke, Kommoden.

Der Besucher musste seine Brille abnehmen, da sie in der plötzlichen Wärme beschlagen war. Mehrere Petroleumlampen an verschiedenen Stellen tauchten den ganzen Raum in ein helles Licht.

In der Mitte des Zimmers stand ein großer Tisch, an dem ein alter Mann bei der Arbeit saß, von der er aufsah und seinen Gast erstaunt anblickte.

»Nanu? Besuch?«, fragte er.

Der Verirrte, der das Gefühl hatte zu stören, drehte etwas verlegen die Brille in der Hand und erklärte, dass er sich verlaufen habe. Angelockt durch das Licht habe er hier angeklopft, um nach dem Weg zu fragen.

»Das Licht?«, fragte der Bewohner des Hauses und sah zum Fenster. »Oh, ich habe wahrhaftig vergessen, die Läden zu schließen.«

Der alte Mann öffnete das Fenster, neigte sich nach draußen, schloss die Fensterläden und ging dann wieder zum Tisch, setzte sich aber nicht mehr und sagte: »Verirrt haben Sie sich? Das kommt vor.«

»Bis jetzt ist mir das noch nie passiert. Es muss am Nebel liegen.«

»Möglich. Da Sie nun schon einmal hier sind, trinken Sie eine Tasse Tee mit mir. Sie machen einen erfrorenen Eindruck.«

»Ja, es ist recht kalt draußen.«

»Wahrhaftig?«

Der alte Mann ging zu einem Herd in der Ecke, während sein Besucher die Jacke auszog und die Brille wieder aufsetzte. Es war ein großer, alter Herd, in dem Holzscheite knisterten und der den Raum gleichzeitig heizte. Der alte Mann goss aus einer großen Kanne Wasser in einen Kessel und setzte ihn auf den Herd.

Der Besucher betrachtete den Raum jetzt genauer. Überall herrschte Unordnung. Hausrat, Werkzeuge, Holzteile und hölzerne Masken lagen herum.

»Sie müssen die Unordnung entschuldigen«, sagte der alte Mann, als hätte er die Gedanken seines Gastes gelesen, »aber ich hatte wirklich nicht mit Besuch gerechnet.«

»Aber ich bitte Sie, ich muss mich für mein Eindringen entschuldigen.«

Der alte Mann brachte eine altmodische Porzellankanne mit zwei Tassen, Löffeln und Zucker zum Tisch. Er sagte: »Ich muss noch irgendwo etwas Rum haben, das wärmt«, und begann, in einer Kommode herumzusuchen, in der es ebenso unordentlich war, wie im Zimmer selbst. »Ich muss wirklich gelegentlich einmal wieder aufräumen.«

Der alte Mann fand die gesuchte Flasche, stellte sie auf den Tisch, warf einen Blick in die Teekanne und sagte: »Er muss noch etwas ziehen … aber bitte, nehmen Sie doch Platz. … oh Entschuldigung.« Er entfernte zwei der hölzernen Masken, die offenbar noch nicht ganz fertig waren, von einem Stuhl am Tisch. Auf allen Stühlen des Zimmers, selbst auf dem Sofa lagen Gegenstände.

Der verirrte Wanderer dankte und setzte sich. Der große Tisch war übersät mit verschiedenen Messern, Holzteilen und Spänen. Der Besucher nahm eine der hölzernen Masken in die Hand.

»Sie gefällt Ihnen?«, fragte der alte Mann und deutete auf die Maske.

»Ja, sehr gut. Sie haben sie selbst gemacht?«

»Ja, ich schnitze Masken.«

»Das ist sicher sehr interessant.«

»Ja, und notwendig. Fast alle Menschen brauchen eine Maske. Leider ist das so.«

Der Besucher fühlte sich langsam unwohl mit diesem wunderlichen Alten und wäre am liebsten gegangen, doch der alte Mann hatte inzwischen die beiden Tassen vollgeschenkt und seinem Gast Zucker und Rum hingeschoben. Dieser dankte, bediente sich und nippte in kleinen Schlucken an dem heißen Getränk, auf diese Weise auch eine Konversation umgehend, da er nicht wusste, was er sagen sollte.

»Ja, ja«, nahm der alte Mann nach einer Weile seinen Satz von vorhin wieder auf, »dabei hätten die Menschen es viel leichter, wenn sie mit ihrem wahren Gesicht leben würden, wenn sie einfach so wären, wie sie wirklich sind. Aber das will fast keiner. Sie leben alle hinter einer Maske, die meisten sogar hinter verschiedenen Masken. Sie könnten nicht mehr existieren, nähme man ihnen ihre Maske weg.«

»Tatsächlich?«, fragte der verirrte Gast, nur um etwas zu sagen, da der alte Mann eine Pause machte.

»Aber ja. Oder haben Sie das bei sich selbst noch nicht festgestellt? Allerdings – dass sie hinter einer Maske leben, das ist den wenigsten Menschen bewusst, oder sie wollen es sich nicht eingestehen.«

Der alte Mann trank zum ersten Mal von seinem Tee, während die Tasse seines Gastes fast leer war. Dieser fragte jetzt, und es war wieder nur eine Verlegenheitsbemerkung, über die er kaum nachdachte: »Und Sie verkaufen Ihre Masken hier in der Gegend?«

Der alte Mann sah ihn erstaunt an. »Verkaufen? Nun, das ist wohl nicht ganz der richtige Ausdruck. Ich sehe schon, Sie haben nicht ganz verstanden … aber Ihre Tasse ist leer. Möchten Sie noch einen Schluck?«

»Nein, vielen Dank, sehr liebenswürdig, aber ich muss dringend weiter, draußen ist es sicher schon dunkel. Ich wollte Sie ja nur nach dem Weg fragen.«

»Dem Weg? Ja natürlich. Gehen Sie nur von der Tür einfach geradeaus weiter, die Straße ist nicht weit.«

»Vielen Dank«, sagte der Besucher, erhob sich rasch und zog seine Jacke an. Einen Augenblick stand er verlegen beim Tisch, was sollte er noch sagen? So sagte er nur: »Vielen Dank für den Tee.«

»Keine Ursache«, erwiderte der alte Mann und lächelte seinen Gast freundlich an, »ja, ja, die Menschen sind eine seltsame Rasse.« Er nahm die Maske, an der er zuletzt gearbeitet hatte und betrachtete sie. Dann sah er wieder freundlich lächelnd auf seinen Gast, der noch an der Tür stand, diese jetzt öffnete und mit einem raschen »Auf Wiedersehen« das Haus verließ.

Draußen war es nicht dunkler als vorher, dabei schien es ihm, als sei er ziemlich lange in dem Haus gewesen. Er hatte nicht nach der Uhr gesehen, als er dort eingetreten war. Er stellte den Kragen hoch und ging rasch und entschlossen los, blieb aber schon nach wenigen Schritten stehen und wandte sich noch einmal um, doch das Haus, aus dem jetzt kein Lichtschein mehr fiel, war bereits im Nebel verschwunden.

Er ging weiter, weniger rasch und entschlossen als vorher. Hatte er vielleicht nur geträumt? Oder war er wirklich bei diesem wunderlichen Alten im Haus gewesen? Wer mochte dieser Mann sein? Ohne Zweifel nur ein verrückter Einsiedler, der schon senil war und nur Unsinn schwatzte. Masken – was für ein Blödsinn.

Er musste nicht weit gehen, bis er auf die Straße traf. Jetzt begann es zu dämmern. Kurz bevor es ganz dunkel wurde, war er zu Hause.

Aber der alte Mann wollte ihm nicht aus dem Sinn. Immer schwerer wogen die Worte, die er gesprochen hatte. Wie aus einer anderen Welt erschien ihm dieser seltsame Mann jetzt und je mehr Zeit verstrich, desto klarer und deutlicher rückte diese Begegnung ihm ins Bewusstsein. Es war etwas Seltsames um dieses Haus. Er fühlte plötzlich, dass er noch viele Fragen hätte stellen können und vielleicht Antworten erhalten hätte, die ihm sonst niemand geben konnte.

Seine Spaziergänge führten ihn in den folgenden Jahren noch ungezählte Male in die gleiche Gegend und er ging aufmerksam und mit offenen Augen durch den Wald, aber das Haus fand er nicht wieder.

DIE FLAMME DER LIEBE
– ein Märchen –

Er konnte sich nicht mehr erinnern, wann und bei welcher Gelegenheit er von der Flamme der Liebe erfahren hatte, als er eines Nachts in einem Traum daran erinnert wurde. Übermächtig groß war sie vor ihm erschienen, hatte ihn aufgenommen und er hatte sich geborgen und glücklich gefühlt.

Als er aufwachte, war es kalt, dunkel und leer. Die Einsamkeit legte sich auf ihn wie eine starre Decke, die ihm jede Bewegung schwer machte. Sein Leben war öde und sinnlos, seit er die Frau verloren hatte, die er liebte. Sie war tot und er dachte wieder an die Flamme der Liebe, die genährt wurde durch die Liebe der Verstorbenen, die auf Erden zurückblieb, wenn sie selbst gehen mussten und ihnen dadurch Unsterblichkeit sicherte, so hatte er es erfahren.

Er zog die Decke fest um sich. Der Morgen begann zu dämmern, aber er wollte nicht aufstehen, wozu auch. Er wollte nie mehr aufstehen. Er verfiel in einen Dämmerzustand zwischen Schlaf und Wachen und wieder sah er sie, diese Flamme und er beschloss, nach ihr zu suchen, um dort seine Geliebte wiederzufinden.

So schnürte er ein paar Habseligkeiten zu einem Bündel und verließ seine kleine Hütte. Er wanderte die Straße entlang, ließ das Dorf, über das er bisher noch nie hinausgekommen war, hinter sich und zog weiter in die ihm völlig unbekannte Welt. Es war ein warmer Tag.

Kurz vor Sonnenuntergang kam er in die Nähe einer großen Stadt. Er sah sie von weitem, die Mauern und Türme leuchtend in den letzten Sonnenstrahlen. Die Größe der Stadt erschreckte ihn. Er wollte heute nicht mehr hingehen und legte sich ins Moos eines kleinen Wäldchens zum Schlafen.

Bei Sonnenaufgang schritt er durch eines der Stadttore. Hohe Häuser standen an schmalen, schmutzigen Straßen; viele Menschen hasteten trotz der frühen Stunde umher.

Hier würde er bestimmt nicht finden, was er suchte. Verwirrt blickte er um sich. Aber fragen konnte er; doch wen er auch fragte, er erntete nur unverständliche oder uninteressierte Blicke. Nein, hier verschwendete er nur seine Zeit. Er durchquerte die Stadt und war erleichtert, als er sie durch ein anderes Tor wieder verlassen hatte.

Er folgte weiter der Landstraße. Nach vielen Wochen kam er an einen breiten Fluss, der tief schien und eine schnelle Strömung hatte. Der Fluss war so breit, dass er kaum die andere Seite sehen konnte. Er ging am Ufer weiter. Nach Tagen kam er zu einer Hütte, in der ein Fährmann wohnte. Dieser war gerade beim Essen und schien nicht die Absicht zu haben, sein Mahl zu unterbrechen; er lud den Fremden dazu ein, der dankend annahm.

Er sagte zu dem Fährmann, dass er noch niemals einen so breiten Fluss gesehen habe und der Fährmann antwortete, dass dies der Fluss der Wahrheit sei. Wem es gelänge, den Fluss zu durchschwimmen, der würde immer die Wahrheit wissen und erkennen. – Nein, soviel er wisse, sei das noch niemandem gelungen, der Fluss sei zu breit und zu reißend. Wer das starke Tau, das die Fähre leite, angebracht habe? Das wisse er nicht, es sei schon immer da gewesen.

Der Fährmann hatte sein Mahl beendet und sagte, dass sie jetzt aufbrechen könnten. Auf der anderen Seite gab er dem Fährmann sein letztes Geld für die Überfahrt und zog weiter.

 

Der Winter stand vor der Tür und er musste sich jetzt Scheunen, Ställe und Höhlen zum Schlafen suchen. Er hatte kein Geld mehr, doch in den meisten Häusern, an denen er vorüberkam, erhielt er eine Kleinigkeit zu Essen, wenn er darum bat. So lebte er und kam weiter und weiter, er ging durch Felder, Wiesen, Wälder und über Hügel und Berge.

Ein neuer Frühling zog ins Land und im Sommer, ein erfrischender, kurzer Regenschauer ging gerade nieder, kam er an einen Wald, so dicht, dunkel und groß, wie er noch nie einen gesehen hatte. Kein Pfad schien in ihn hineinzuführen.

Eine alte Frau saß auf einer Bank neben der Straße. Als er sie nach dem Weg fragte, erklärte sie ihm, dass dies der Wald der Schönheit und Jugend wäre. Wer ihn durchquere, sei ewig jung und schön. Man habe schon viele hineingehen sehen, aber herauskommen noch niemanden.

Er hatte nicht die Absicht, es zu versuchen, er suchte nach etwas anderem. Er fragte die alte Frau nach der Flamme der Liebe, aber davon hatte sie noch nie gehört.

So ging er weiter durch die Welt, kam durch Städte und Dörfer, aber wen immer er fragte, niemand konnte ihm etwas sagen.

Im nächsten Frühling kam er an ein großes Moor. Eine junge Frau saß vor einer Lehmhütte am Rande des Wassers und sagte ihm, dass dies das Moor der Tugend sein. Wer es durchmesse, habe alle Tugenden, aber bisher sei das noch niemandem gelungen.

Er ging rasch einen anderen Weg weiter, es war wieder nicht das, wonach er suchte.

Ein neues Jahr der vergeblichen Suche ging ins Land – manchmal verlor er fast die Hoffnung. Niemand konnte ihm den kleinsten Hinweis geben; vielleicht existierte sie gar nicht, diese Flamme. Aber er gab nicht auf, streifte weiter durch Hügel und Wiesen, aß, was er im Wald fand und andere Leute ihm gaben, trug alte Kleidungsstücke, die er geschenkt bekam, wenn die alten zu zerrissen waren.

Eines Tages, müde, erschöpft und mutlos saß er am Wegrand, gesellte sich ein junger Mann zu ihm, der sich gleichfalls ausruhte. Befragt, antwortete der junge Mann, dass er zwar von der Flamme der Liebe noch nichts gehört habe, aber es gäbe ein großes Gebirge, das Gebirge der Weisheit, wo ein alter Mann, ein sehr alter und weiser Mann lebe, der könne ihm vielleicht helfen. Wo das Gebirge läge? Das wisse er leider nicht.

Mit dem ersten Hoffnungsschimmer im Herzen setzte er seinen Weg fort. Doch wen er auch nach dem Gebirge fragte, manche hatten zwar davon gehört, aber niemand wusste, wo es lag. Die wenigsten Menschen wussten, was außerhalb ihrer nächsten Umgebung war. So musste er selbst suchen. Er durchzog die Welt, kam in immer neue Landschaften.

So verging ein Jahr ums andere. Seine Schritte wurden immer langsamer, die zurückgelegte Wegstrecke eines Tages wurde immer kürzer. Er wusste nicht mehr, wie viele Jahre er schon unterwegs war, noch wie alt er jetzt war, aber er merkte plötzlich, dass er schon recht alt sein musste. Er wusste auch nicht, wie weit er schon gegangen war; zurückfinden zu seiner vertrauten Hütte, die er einst verlassen hatte, würde er sicher nicht mehr.

Es war wieder einmal Herbst und er hatte sich an einem nebligen Abend in einen kleinen Heuschober am Weg gelegt. Am Morgen war der Nebel verschwunden und die aufgehende Sonne beleuchtete einen gewaltigen Wolkenturm am Horizont. Er ging weiter und da erkannte er, dass es keine Wolken waren dort hinten, sondern ein riesiges Gebirgsmassiv. War es das, hatte er es gefunden?

Er traf zwei Männer, die am Fuße des Gebirges fischten und fragte sie, ob dies das Gebirge der Weisheit sei. Sie bejahten. Nach dem Aufenthalt des weisen Mannes befragt, konnten sie keine genaue Auskunft geben; irgendwo dort oben lebe er. Aber um die Weisheit selbst zu erlangen, müsse man den Gipfel erreichen und das sei bis heute noch niemandem gelungen.

Er sah auf zu dem Gebirge; jetzt, da er unmittelbar davorstand, sah er seinen Gipfel nicht, so hoch war es. Aber nichts konnte ihn jetzt noch zum Aufgeben bewegen, was wäre ihm dann noch geblieben?

So begann er den Aufstieg. Kein Pfad wies ihm einen Weg. Über Geröll und Fels, vorbei an immer niedriger werdenden Gewächsen, tastete er sich nach oben. Er war bald erschöpft und musste sich ständig wieder ausruhen. Es wurde immer kälter, hier oben war bereits Winter. Er zog seine dürftige Kleidung fest um sich, aber sie bot kaum Schutz gegen den Wind, der eisig durch ihn hindurch schnitt.

Er wusste nicht mehr, wie lange er so aufgestiegen war, jedes Zeitgefühl, jede Empfindung überhaupt, war ihm verlorengegangen, als er endgültig nicht mehr weiter konnte. Kein Schutz war um ihn her. Er lag auf dem nackten Fels und wusste, er würde erfrieren, wenn er hier so liegen blieb, aber er hatte keine Kraft mehr, aufzustehen.

So endete es also, nach all den Jahren musste er aufgeben. Und er schloss die Augen und träumte von der Flamme der Liebe, die ihn wärmte.

Irgendwann schlug er die Augen wieder auf und sah die Flamme aus seinem Traum noch immer vor sich, spürte ihre Wärme. Doch bald erkannte er, dass es ein gewöhnliches Feuer war, das neben ihm brannte; er war in eine Decke gehüllt und ein alter Mann flößte ihm aus einer Schale ein heißes Getränk ein. War er tot oder wo war er? Als er sich umsah, erkannte er, dass er noch immer auf dem Berg war, an der gleichen Stelle, an der er erschöpft eingeschlafen war.

Der alte Mann, er war schon sehr alt, blickte ihn freundlich an. War es der weise Alte? Als er ihn fragte, sagte der Alte, ja, man nenne ihn so.

Und so erzählte er dem alten weisen Mann, wonach er suchte, dass er schon seit ungezählten Jahren unterwegs war und dass er seine letzte Hoffnung sei, den Sinn seines Lebens wiederzufinden. Er musste sie finden, die Flamme der Liebe, es gab sie doch wirklich?

»Ja«, sagte der alte weise Mann, »es gibt sie.«

»Und wo, wo ist sie? Hier auf dem Berg? Wo kann ich sie finden?«

»Sie ist überall.«

»Überall?«

»Du kannst sie nicht an einem bestimmten Ort finden«, sagte der alte Mann, »nur in dir selbst.«

»In mir selbst?«

»Ja, in dir selbst. Du suchst die Liebe einer Toten. Du glaubst, ihre Liebe ist auf Erden zurückgeblieben und du willst sie finden?«

»Ja.«

»Dann hast du all die Jahre vergeblich gesucht, deine Suche war überflüssig, weil du immer hattest, was du suchst. Die Liebe eines Menschen bleibt so lange auf Erden, so lange er noch geliebt wird. Solange du die Frau, die du geliebt hast, auch nach ihrem Tod weiter liebst, brennt die Flamme ihrer Liebe in dir. Erst wenn du sie vergessen hast oder ihr nachfolgst, wird ihre Flamme erlöschen.«

Der alte Mann schwieg und der Suchende schloss die Augen. Jahre und Jahre, wie viele mochten es gewesen sein, hatte er mit einer sinnlosen Suche verbracht. Wie lächerlich kam er sich vor, die ganze Welt zu durchstreifen nach etwas, das er nur in seinem eigenen Herzen finden konnte. Und dennoch fühlte er Erleichterung, denn wie auch immer, seine Suche war zu Ende.