Haus der Hüterin: Band 10 - Die Wächterin

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Aus der Reihe: Haus der Hüterin #10
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Haus der Hüterin: Band 10 - Die Wächterin
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Das Buch

Noch kämpft Rylee mit ihrer Enttäuschung über Vlads Verrat, da drohen neue Gefahren. Boh entgeht nur knapp einem Entführungsversuch. Und irgendetwas Böses lauert im Wald und versucht, Rylee zu sich zu locken.

Neue Besucher gibt es auch: Eine Baumnymphe erscheint, und ein Hexenzirkel hat Securus Refugium für eine Tagung gebucht. Rylee bekommt sogar die Möglichkeit, sich in Magie zu üben, doch als sie von einer Wächterin hört, die auf einem unwirtlichen Planeten gefangen gehalten wird, schart sie alte und neue Freunde um sich und geht auf eine gefährliche Befreiungsmission.

„Die Wächterin“ ist Band 10 der Fantasy-Serie „Haus der Hüterin“ von Andrea Habeney. Band 1 „Das Erbe“, Band 2 „Das Erwachen“, Band 3 „Das leere Bild“, Band 4 „Das Portal“, Band 5 „Der Verrat“, Band 6 „Der verschwundene Schlüssel“, Band 7 „Die Hochzeit“, Band 8 „Die Rettung“ und Band 9 „Die Fremden“ liegen ebenfalls bei mainbook vor. Weitere Bände der Serie folgen.

Zudem gibt es die Bände 1-3 und 4-6 als Sammelband-Taschenbuch (ISBN9783946413455 und ISBN9783947612062). Weitere Taschenbuch-Sammelbände werden folgen ...

Die Autorin

Andrea Habeney, geboren 1964 in Frankfurt am Main, in Sachsenhausen aufgewachsen. Nach dem Abitur studierte sie in Gießen Veterinärmedizin. 1997 folgte die Promotion. Bis 2013 führte Andrea Habeney im Westen Frankfurts eine eigene Praxis. Heute arbeitet sie als Tierärztin für eine Pharma-Firma.

Als Autorin hat sie sich einen Namen gemacht mit ihrer Frankfurter Krimi-Reihe um Kommissarin Jenny Becker: „Mörderbrunnen“ (Frühjahr 2011), „Mord ist der Liebe Tod“ (Herbst 2011), „Mord mit grüner Soße“ (April 2012), „Arsen und Apfelwein“ (2013), „Verschollen in Mainhattan“ (2014), „Apfelwein trifft Weißbier“ (Oktober 2015), „Abgetaucht“ (November 2017) und „Apfelwein auf Rezept“ (2019)

Zudem hat Andrea Habeney zwei weitere Fantasy-E-Books bei mainbook veröffentlicht: „Elbenmacht 1: Der Auserwählte“ und „Elbenmacht 2: Das Goldene Buch“.

Für Roger und Grit

eISBN 978-3-947612-68-0

Copyright © 2019 mainbook Verlag

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Gerd Fischer

Covergestaltung: Olaf Tischer

Coverbild: © Christian Müller - fotolia

Auf der Verlagshomepage finden Sie weitere spannende Taschenbücher und E-Books www.mainbook.de

Andrea Habeney

Haus der Hüterin

Band 10: Die Wächterin

Fantasy-Serie


Inhalt

Das Buch

Die Autorin

Haus der Hüterin, Band 10 - Die Wächterin

Die Hüterin Rylee funktionierte nur noch. Äußerlich würde ihr niemand, der sie nicht näher kannte, etwas anmerken. Sie empfing und bediente ihre Gäste wie immer perfekt und lächelte sogar, wenn es angebracht war. Ihr Innerstes war jedoch erstarrt.

Einzig ihre Freundin Emily und ihre Haushälterin Maj wussten, dass etwas nicht stimmte, wenn sie auch nur ahnten, um was es ging.

Vlad war die Ursache all ihrer Probleme, dachte Rylee leidenschaftslos, während sie sich um die Buchhaltung kümmerte und Listen für Einkäufe erstellte. Sie würde ihn einfach aus ihrem Leben streichen, und alles wäre gut.

Der charismatische Vampir war kurz, nachdem sie das neutrale Haus Securus Refugium übernommen hatte, in ihr Leben getreten. Schon bevor sie verstand, dass es sich bei ihm um den Original Dracula aus den Büchern ihrer Kindheit handelte, hatte er eine seltsame Faszination auf sie ausgeübt. Von Anfang an hatte er Interesse an ihr bekundet, obwohl sie unterschiedlicher nicht hätten sein können.

Auf der einen Seite sie, die junge Frau, die bisher kaum etwas erlebt hatte. Erst an ihrem achtzehnten Geburtstag war ihr eröffnet worden, dass sie eine Hüterin war und ein geheimnisvolles Haus geerbt hatte. Auf der anderen Seite er, der Fürst der Dunkelheit, der bereits seit hunderten von Jahren auf der Erde weilte und noch viele weitere Jahrhunderte weilen würde. Mit der Tatsache, dass auch sie kaum altern würde, solange sie sich in einem der neutralen Häuser aufhielt, hatte sie sich noch nicht wirklich beschäftigt. Sie war zu beängstigend, als dass sie sich damit auseinandersetzen wollte.

Rylee wischte den Gedanken an Vlad beiseite. Alle Hoffnungen, die sie sich auf eine gemeinsame Zukunft gemacht hatte, waren von ihm mit wenigen Worten hinfällig gemacht worden. Ausgesprochen am Morgen nach der ersten gemeinsamen Liebesnacht.

Der Satz „Ich heirate heute“ war wie ein Dolch in ihr Innerstes gedrungen und hatte Schmerzen verursacht, die stärker waren als alle, die sie je zuvor erlitten hatte.

Er hatte ihr noch etwas erklären wollen, doch Rylee hatte ihn zunächst nur entsetzt angestarrt, dann die Hände auf die Ohren gedrückt, die Augen geschlossen und den Kopf geschüttelt. „Geh!“, hatte sie mit tonloser Stimme gesagt. „Verschwinde! Und komm nie mehr zurück!“

Als sie irgendwann die Augen wieder geöffnet hatte, war er gegangen. Sie war zu Boden gesackt, und erst als Maj einige Zeit später klopfte, war sie so weit zu sich gekommen, dass sie hatte aufstehen und hinunter in die Küche gehen können.

Seitdem waren Gäste gekommen und wieder abgereist, doch wenn jemand sie gefragt hätte, könnte sie sich weder an ein Gesicht noch einen Namen erinnern.

Emily kam täglich, um nach ihr zu sehen, doch Rylee antwortete nicht auf ihre eindringlichen Fragen. Und Maj fragte gar nicht erst, sondern beobachtete sie nur besorgt. So kurz sie erst in Securus Refugium arbeitete, so wertvoll hatte sie sich schon in vielerlei Hinsicht erwiesen.

Als ehemalige Sklavin hatte sie keine geregelte Arbeit finden können, bis sie ihren ganzen Mut zusammen genommen und auf Rylees Stellenanzeige geantwortet hatte. Auf den ersten Blick wirkte sie unscheinbar, doch Rylee hatte schon einige überraschende Seiten an ihr entdeckt, und war froh, dass Maj nicht ihre Feindin war, sondern im Begriff stand, ihre Freundin zu werden.

Zum Glück hatte Rylee reichlich zu tun, zu viel, um nachzudenken. In einem so großen und mittlerweile gut besuchten Haus waren Hunderte Dinge zu beachten und zu planen. Nachdem das Haus wegen der Angriffe der sogenannten Fremden eine Zeit lang hatte geschlossen werden müssen, trafen jetzt umso mehr Besucher ein.

Gerade war eine vierköpfige Reisegruppe vom Handelsplaneten Aldibaran anwesend, die Handelsverbindungen mit der Erde knüpfen wollten, ein junges Paar vom Planeten Salamant, auf dem es kaum Wasser gab, wollte ihre Flitterwochen an der nicht weit entfernten Ostsee verbringen, und eine Familie machte Zwischenstation, um dann weiter nach Ungarn zu reisen, wo ihre Vorfahren heimisch waren. Die Erde, deren Bewohner bis auf einige Mitglieder in den höheren Ebenen der Regierungen nichts von Außerirdischen wussten, lag auf einem bedeutenden Handelsweg, und Securus Refugium war durch das Portal ein wichtiger Stützpunkt in diesem Quadranten des bekannten Universums.

Nachts war Rylee jedoch ihren Gedanken schutzlos ausgeliefert. Stundenlang lag sie im Bett und horchte auf die Geräusche des Hauses. Boh, ihr Werkater, legte sich meist zu ihr und Phillip, der Geist, der seit Kurzem mit im Haus lebte, war hin und wieder im Treppenhaus oder auf dem Dachboden zu hören.

Sie erlaubte niemandem, zu ihr durchzudringen. Nur mit dem Haus und dem Lebenden Baum im Garten kommunizierte sie, wenn auch nur, damit jene, die eng mit ihren Gefühlen verbunden waren, sich nicht zu viele Sorgen machen mussten.

Beide versuchten auf ihre Art, sie zu trösten. Im Garten wuchsen überall neue üppig blühende Blumen, und auch im Haus fand Rylee immer wieder kleine Geschenke. Doch nichts konnte sie dauerhaft aus ihrer Lethargie holen.

Ein Pling zeigte an, dass in ihrem Postfach eine Mail angekommen war. Gleichgültig las sie sie. Absender war die Gesellschaft, die die neutralen Häuser verwaltete, und zwar die Zentrale auf Aldibaran, nicht die Ortsgruppe der Erde, mit der sie sonst zu tun hatte. Deren Leiter war vor Kurzem bei der Invasion der Fremden getötet worden und so war es wenig überraschend, dass sich diesmal das Zentralbüro an sie wandte. Warum jedoch einer ihrer Mitarbeiter sie besuchen wollte, erschloss sich ihr nicht.

Sie bestätigte die Ankunft und wandte sich wieder ihren Büroarbeiten zu.

Zwei Stunden später spürte sie, wie sich jemand am Portal anmeldete. Widerwillig legte sie die Arbeit beiseite und ging hinunter in den Keller, wo sich der Portalraum befand. Sie überprüfte die Daten und gab den Zugang frei.

Statt einem stiegen gleich zwei Männer aus dem Rahmen und sahen sich interessiert im Portalraum um. Sie lagerte hier ihre magischen Bilder, und sie bedeckten fast jede freie Fläche an den Wänden und auf den Tischen.

„Miss Montgelas“, sagte der eine, ein gedrungen wirkender Endvierziger in einem dunklen Anzug. „Es freut mich wirklich, Sie kennenzulernen. Mein Name ist Antrax. Ich leite die Zentrale auf Aldibaran seit zwei Jahren. Dies ist Amadeus Borwinkel. Er wird die Leitung des örtlichen Büros übernehmen. Tragisch, was mit Zimmermann ... Naja, wie auch immer.“ Er verstummte.

 

Borwinkel trat vor und schüttelte Rylee Hand. „Sehr erfreut. Ich hoffe, wir werden gut zusammen arbeiten. Ich habe schon viel von Ihnen gehört.“

Rylee nickte. „Kommen Sie doch bitte mit nach oben. Möchten Sie einen Kaffee? Oder etwas anderes?“

Beide folgten ihr die Treppe hinauf ins Wohnzimmer, wo Maj bereits den Tisch gedeckt hatte. Antrax nahm ihre Anwesenheit mit dem Heben einer Augenbraue zur Kenntnis, äußerte sich jedoch nicht dazu. Als alle Platz genommen hatten und ihre Tassen gefüllt waren, fragte Rylee: „Sie wollten also gar nicht mich speziell besuchen, sondern Herrn Borwinkel auf seiner Reise begleiten?“

„Ganz im Gegenteil“, erklärte Antrax. „Ich bin nur ihretwegen mitgekommen und werde nach unserer Unterhaltung nach Aldibaran zurückkehren. Ich wollte Ihnen persönlich meinen Dank für Ihre unschätzbare Hilfe bei der Verteidigung der Häuser aussprechen. Ohne Sie ...“ Seine Stimme versagte, und er schien tatsächlich tief bewegt zu sein.

Rylee hatte bisher den Eindruck, dass die Verwaltung der Häuser für die Mitarbeiter der Gesellschaft eher eine geschäftliche Angelegenheit war. Antrax hingegen schien mit dem Herzen bei der Sache zu sein.

„Trotzdem sind mehrere Hüter umgekommen“, gab sie zu bedenken. „Und einige Ihrer Mitarbeiter.“

„Ohne Sie wären es vielleicht noch mehr geworden“, stellte er fest. „Vermutlich sogar. Kann die Gesellschaft als Dank irgendetwas für Sie tun?“

Rylee überlegte einen Moment. „Können Sie mir mehr über die Ereignisse, die zum Tod meiner Eltern geführt haben, sagen?“

Antrax schien überrascht über ihre Frage. „Ich müsste nachschauen. Ich glaube nicht, dass es genauere Informationen gibt, als die, die Zimmermann Ihnen bereits mitgeteilt hat. Es gab keine Zeugen. Zumindest keine, die überlebt haben. Und die Mitwirkenden sind meines Wissens alle tot.“ Er machte ein betrübtes Gesicht. „Vielleicht etwas anderes, mit dem ich Ihnen helfen kann?“

Rylee seufzte. „Nein danke. Ich hätte nur gerne gewusst ... Aber es würde ja sowieso nichts ändern.“ Beide schwiegen einen Moment. Dann öffnete Antrax eine flache Aktenmappe und nahm ein Papier heraus. „Dann stellen wir das zunächst zurück und wenden uns etwas anderem zu. Wie Sie sicher wissen, hat die Gesellschaft früher viel mehr Aufgaben übernommen als heute. Während es mittlerweile hauptsächlich um die Verwaltung geht, gab es bis vor etwa hundert Jahren eine eigene Einsatztruppe, die Vergehen gegen die Häuser oder ihre Hüter geahndet hat. Wir werden sie, bedingt durch die zurückliegenden Ereignisse, wieder auferstehen lassen. Sobald wir geeignete Mitarbeiter gefunden haben, werden sie sich in allen Häusern vorstellen.“ Er sah sie erwartungsvoll an.

Rylee nickte. „Das ist sicher eine gute Idee“, sagte sie zögernd. „Welche Befugnisse sollen sie haben?“

Er wedelte mit der Hand. „Das steht noch nicht fest und wird natürlich auch vom jeweiligen Planeten abhängen. Sicher ist, dass wir uns nicht nur auf die örtliche Exekutive verlassen dürfen.“

„Natürlich“, erwiderte Rylee.

Antrax nickte und hielt ihr das Papier, das er die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte, entgegen. „Und noch etwas Erfreuliches: Dies ist ein Schreiben der Timeressianer. Ein Volk, das, wie wir wissen, kaum Kontakte zu anderen Planeten pflegt, deshalb ist dieser Brief etwas ganz Besonderes. Sie zeigen sich hocherfreut über Ihre Bekanntschaft mit ihrem Botschafter und sprechen ihren Dank aus. Haus Securus Refugium wird ihre offizielle Anlaufstelle auf der Erde. Ihre und die Dankbarkeit und Anerkennung der Gesellschaft dafür, wie sehr Sie sich um die neutralen Häuser verdient gemacht haben, möchten wir mit einer Aufwertung um zwei Sterne ausdrücken. Sie gehören somit zu den am höchsten dotierten Häusern. Nicht viele haben noch mehr Sterne. Herzlichen Glückwunsch!“

Er hatte bei seinen Worten noch einmal in die Aktentasche gegriffen und ein zweites hochoffiziell aussehendes Blatt herausgezogen. Rylee nahm es und starrte darauf. In der Mitte waren sieben goldenen Sterne eingeprägt und am unteren Rand befand sich ein purpurnes Siegel.

Was hätte sie zu Beginn, als sie das verfallene Securus Refugium übernommen und schwer um die Anerkennung der anderen Häuser und ihrer Hüter gekämpft hatte, für solch eine Aufwertung gegeben? Jetzt jedoch ... Sie rang sich ein Lächeln ab und sagte. „Vielen Dank. Ich freue mich sehr!“

Antrax nickte und versuchte offensichtlich, seine Verwunderung zu verbergen. Vermutlich hatte er mehr Begeisterung erwartet. Er stand auf und sagte. „Sie haben es verdient. Ich muss leider auch schon wieder abreisen. Würden Sie mir das Portal öffnen?“

Borwinkel stand ebenfalls auf. „Mein Taxi müsste auch bereits warten. Auf gute Zusammenarbeit!“

Kurz darauf war Rylee wieder alleine. Achtlos ließ sie das Blatt im Wohnzimmer liegen und ging in die Küche, wo Maj gerade das Abendessen zubereitete.

„Wer war das, Her ... Rylee?“, fragte sie.

Rylee seufzte. Irgendwann würde die Tabatai hoffentlich davon ablassen, sie Herrin zu nennen. Sie erzählte von dem Besuch und der Aufwertung des Hauses.

„Aber das ist ja wunderbar!“, strahlte Maj. „Das ist ein Grund zum Feiern!“

Rylee fühlte einen Anflug schlechten Gewissens. Schließlich war nicht nur sie vom aufgewerteten Status betroffen, sondern auch das Haus selbst und alle Bewohner. Sie lauschte. Securus Refugium schien vorsichtig abzuwarten. Sie wandte sich direkt an das Haus und seinen Freund, den Lebenden Baum.

„Entschuldigt, Ihr beiden. Ich bin wirklich glücklich über unseren Erfolg! Wir haben sieben Sterne!!!“

Reine Freude schlug ihr entgegen, und ihr schlechtes Gewissen wurde noch stärker. Sie musste sich wirklich am Riemen reißen. Dieser vermaledeite Vampir würde nicht verhindern, dass sie sich anständig um ihr Haus kümmerte. Sie rief gespielt fröhlich. „Feiern ist eine tolle Idee! Ich rufe Emily an.“

Es war spät, als sie schließlich erschöpft in ihr Bett sank. Emily war mit ihrem frischgebackenen Ehemann, dem Zwergenoberst, gekommen, und in einer spontanen Anwandlung hatte Rylee auch ihre Freundin Polly, die ein paar Häuser weiter wohnte, eingeladen. Obwohl sie die junge Frau, die etwa in ihrem Alter war, sehr gerne mochte, verbrachten sie doch wenig Zeit zusammen. Polly wusste nichts von Außerirdischen oder von neutralen Häusern. Es wurde immer schwerer, sie von allem, was ihr verdächtig erscheinen könnte, fernzuhalten. Rylee dankte innerlich dafür, dass der Oberst einer Zwergenrasse angehörte, die über die Zeit die Größe von Menschen entwickelt hatte. Phillip, dem Geist, hatte sie zuvor eingebläut, unsichtbar zu bleiben, und Boh wusste sowieso, dass er sich in Pollys Gegenwart wie eine normale Hauskatze zu benehmen hatte. Trotzdem hätte sie Polly nicht einladen können, wenn nicht alle anwesenden Gäste, die nicht als Mensch durchgehen würden, im Lauf des Tages abgereist wären. Ihre einzigen neuen Gäste heute Abend waren drei Tortullaner. Ihr Tag betrug auf ihrem Heimatplaneten vierundfünfzig Stunden, von denen sie etwa vierzig schliefen. Nach einem kleinen Imbiss in Form von Wurzeln, die Maj im Garten ausgegraben hatte, hatten sie sich zurückgezogen und gebeten, vor dem Mittag des nächsten Tages nicht gestört zu werden.

So saßen Rylee und die anderen zusammen, tranken Wein und aßen alle möglichen Köstlichkeiten, die Maj gezaubert hatte. Phillip gab sich mit der Rolle als stiller Beobachter zufrieden, und auch das Haus und der Lebende Baum feierten auf ihre Weise mit.

Polly war nur für eine Woche hier. Sie studierte inzwischen in Hamburg und besuchte ihre Eltern nur noch ab und zu. Sie erzählte vom Leben in der großen Stadt, und Rylee dachte wehmütig, dass sie wohl immer seltener hierher zurückkommen würde.

Es war fast eins, als die Gäste gingen. Rylee räumte mit Maj zusammen auf und lag gegen halb zwei endlich in ihrem Bett. Sofort schlief sie ein, nur um wieder von wirren Träumen überwältigt zu werden. Sie stand vor dem Gartentor ihres Hauses und versuchte vergeblich, hinein zu kommen. Sie rüttelte am Tor und rief, bis sie heiser war. Dann rannte sie die Mauer entlang, die um das Grundstück herum führte. Stunde um Stunde, ohne anzukommen.

Sie hielt inne, als sie jemanden rufen hörte und drehte sich im Kreis, ohne eine Menschenseele zu entdecken. Doch das Rufen hörte nicht auf. „Rylee ... Fräulein Montgelas ...“

Rylee schrak aus dem Schlaf und setzte sich auf. Ein kalter Hauch strich über ihr erhitztes Gesicht und eine Stimme flüsterte in ihr Ohr. „Ihr müsst aufstehen!“

„Phillip!“, schrie sie erschrocken und zerrte die Bettdecke vor ihre Brust. „Was macht Ihr in meinem Zimmer? Wir hatten doch ausgemacht ...“

Der Geist, den sie im Mondlicht, das durch das Fenster drang, nur schemenhaft erkennen konnte, schwebte ein Stück zurück. „Es tut mir leid“, flüsterte er, „aber es ist jemand im Haus.“

„Natürlich ist jemand im Haus. Wir haben Gäste!“, erklärte sie ungehalten und versuchte, vollends wach zu werden.

Phillip schwebte näher heran. Sich deutlich zu artikulieren, bereitete ihm immer noch Schwierigkeiten, obwohl die Magie des Hauses seine Fähigkeiten, sichtbar zu werden und zu sprechen, schon deutlich verbessert hatte.

„Ein Feind“, hauchte er, und Rylee war schlagartig hellwach.

„Die Fremden?“, fragte sie, während sie aus dem Bett sprang und nach ihrer Jeans griff. „Dreht Ihr Euch bitte um?“, rief sie, während sie ihr Schlafshirt über den Kopf zog, doch der Geist hatte sich schon abgewandt und sah Richtung Wand.

„Nein“, flüsterte er. „Die dicke Frau!“

Rylee hielt inne. „Die dicke Frau ist ein Feind?“

Es war bereits dunkel gewesen, und sie hatten gerade in der Küche das Essen bereitet, als eine späte Besucherin am Gartentor erschienen war. Sie war so korpulent, dass sie sich zur Seite drehen musste, um das Tor passieren zu können. Angeblich hatte sie Verwandte auf der Erde und wollte am nächsten Tag weiterreisen. Anstandslos hatte sie den Eid geleistet und hatte sich kurz darauf, ohne noch etwas zu sich nehmen zu wollen, auf ihr Zimmer zurückgezogen. Polly hatte sie nicht mehr zu Gesicht bekommen, aber selbst wenn hätte die Besucherin problemlos als Mensch durchgehen können.

„Sie ist nicht mehr dick“, hauchte Phillip. „Sie ist jetzt etwas anderes. Und sie schleicht durchs Haus.“

Jetzt, wo Rylee vollends wach war, spürte sie, dass auch das Haus alarmiert war und nach ihr rief. Sie griff in den Äther und zog ein langes Messer, das sie dort verstaut hatte, heraus. Dann rief sie in Gedanken Boh. Sie stürzte aus dem Zimmer und stolperte fast über ihn. Sein Fell war gesträubt und er schien sich zwischen ihr und einer drohenden Gefahr aufgebaut zu haben. Hektisch sah sie sich um. Bevor sie noch fragen konnte, wo die Gefahr lauerte, zeigte das Haus ihr ein Bild von dem kleinen Weg, der von der Haustür zum Gartentor führte. Eine Gestalt bewegte sich vom Haus weg. Rylee rannte die Treppe hinunter und riss die Tür auf, sah jedoch nur noch, wie das Gartentor zuklappte. Ratlos blieb sie stehen.

Am nächsten Morgen schlief sie lange, ein Luxus, den sie sich, seit Maj bei ihr lebte, ab und zu gönnen konnte. Nachts hatten sie noch einige Zeit in der Küche gesessen und über den Vorfall diskutiert. Maj war durch die Geräusche aufgewacht und kurz nach Rylee in der Halle erschienen. Das Zimmer der dicken Frau war leer. Im Haus war alles unverändert, nichts fehlte. Vielleicht hatte sie dringend aufbrechen müssen. Doch warum sie sich verkleidet hatte, als sie angereist war, wusste niemand.

Maj putzte die Küche, als Rylee hereinkam, und Boh lag auf der Terrasse in der Herbstsonne. Sie goss sich Kaffee ein und lehnte Majs Angebot, ihr Frühstück zu machen, dankend ab. Die Tortullaner schliefen noch und erst abends würden neue Gäste eintreffen. Sie setzte sich zu Boh und starrte in den Garten. Wieder wanderten ihre Gedanken zu Vlad, und obwohl sie auch an diesem Tag viel zu erledigen hatte, fühlte sie sich wie gelähmt.

Plötzlich hob sie den Kopf. „Stephan ist hier“, sagte sie überrascht. Boh war schon aufgesprungen und verschwand Richtung Straße. Rylee folgte ihm langsamer. Als sie um die Hausecke trat, sah sie Stephan vor dem Gartentor warten. Es hatte eine Zeit gegeben, wo er, ohne zu fragen, hereingekommen wäre. Das Haus kannte ihn als Freund und Rylee hatte sich sogar einmal, als sie noch nicht lange hier lebte, mit Stephan auf eine Schamanenreise begeben, um mit Securus Refugium zu kommunizieren.

Inzwischen war ihr Verhältnis jedoch getrübt. Er hatte Rylee einige Zeit umworben, hatte ihr dann jedoch ohne Vorwarnung eine Verlobte präsentiert. Überflüssig zu erwähnen, dass Rylee sie nicht leiden konnte, zumal sie bei ihrem letzten Besuch Maj beleidigt hatte.

 

„Was für eine Überraschung“, sagte sie deshalb kühl, als sie ans Tor trat. „Komm doch herein.“

Er lächelte verlegen und trat durchs Tor. Unsicher streckte er die Arme aus, als wolle er sie umarmen, ließ sie jedoch wieder sinken. „Würdest du mir ein Portal nach Belizaire öffnen? Ich will einen befreundeten Schamanen aufsuchen. Ich brauche seinen Rat.“

„Und ich dachte schon, du wolltest mich besuchen“, sagte Rylee spöttisch und bereute es sofort.

Sein Blick richtete sich auf sie. „Besuchen. Ja, wir sehen uns kaum noch. Warum ...?“ Seine Stimme verklang.

Rylee wartete stirnrunzelnd, ob noch etwas kommen würde, drehte sich kurz darauf um und lief in Richtung Hauseingang. Stephan beugte sich hinunter und streichelte Boh, der ihn miauend begrüßte.

„Wenn du noch einen Moment Zeit hast, können wir über das Geld sprechen, das ich dir schulde“, sagte sie über die Schulter. „Ich kann es dir schneller zurückzahlen, als ich dachte. Die Einnahmen übertreffen meine Erwartungen bei weitem.“

„Das Geld ...“, sagte er, als ob er sich kaum daran erinnern könnte. „Ja, das hat doch Zeit.“

„Absolut nicht. Ich werd erst wieder ruhig schlafen, wenn ich schuldenfrei bin.“

Sie ließ ihn ins Haus und führte ihn in die Küche, wo sie ihn Maj vorstellte. Die Tabatai sah ihn misstrauisch an und warf einen Seitenblick zu Rylee, bevor sie ihm Kaffee anbot.

Kaum hatten sie sich gesetzt, hob Rylee den Kopf. „Deine Verlobte“, sagte sie mit wenig Begeisterung. „Warum hast du nicht gesagt, dass sie nachkommt?“

„Nalani?“, erwiderte er überrascht. „Ich wusste es nicht.“

Seufzend ging Rylee nach draußen und öffnete grußlos das Tor.

„Guten Morgen“, sagte die junge Frau, deren Schönheit Rylee jedes Mal einen Stich versetzte. „Ist Stephan noch da? Ich muss ihm unbedingt noch etwas geben.“

Rylee wies mit der Hand in Richtung Haus und folgte Nalani in die Küche.

Stephan war aufgestanden und sah seine Verlobte verwirrt an. „Ich muss reisen“, rechtfertigte er sich. „Wir hatten das doch schon mehrmals durchgesprochen. Und du kannst nicht mitkommen. Er mag keine Gesellschaft. Ich darf nur alleine zu ihm.“ Seine Stimme hatte einen fast verzweifelten Klang.

Nalani setzte ein Lächeln auf, das Rylee so falsch vorkam wie das eines Hütchenspielers. Sie hielt einen kleinen Beutel in der Hand, der so stark duftete, dass er Rylee noch in einiger Entfernung in der Nase kitzelte.

„Aber Liebster, natürlich. Ich wollte dir nur noch deinen Tee bringen. Du hast ihn liegen lassen. Versprich mir, dass du jeden Tag eine Tasse davon trinkst! Er tut dir gut.“ Sie sah Stephans Zögern. „Jeden Tag! Versprich es mir! Du liebst mich doch?“

Rylee wandte sich peinlich berührt ab, die Tabatai war jedoch näher getreten.

Nalani warf ihr einen Seitenblick zu, bevor sie sie bewusst ignorierte.

Stephan öffnete gehorsam den Mund. „Ich werde ...“

„Nein!“, sagte Maj scharf.

Alle fuhren herum und starrten sie überrascht an.

„Sie dürfen das nicht trinken!“, sagte sie entschieden. Dann schnappte sie den Kräuterbeutel aus Nalanis Hand und sah sich um.

In Nalanis Augen blitzte Panik auf. Sie stürzte sich auf Maj, die Finger gekrümmt, die Nägel lang und gebogen wie Krallen.

Maj wich zurück, rief „Boh!“ Und warf das Päckchen, bevor Nalani ihr den Beutel entreißen konnte.

Boh fing den Beutel mit den Zähnen auf und schoss davon. Mit einem Wutschrei griff die Frau nach der Tabatai, die sich nicht wehrte, sondern nur noch einen weiteren Schritt zurück machte.

Rylee packte Nalani am Arm und riss sie von Maj weg. Stephan stand mit offenem Mund daneben und sah hilflos von einer zur anderen.

„Sie ist irre!“, kreischte Nalani. „Ich habe dir gesagt, du musst sie loswerden!“

Rylee sah die Tabatai fragend an. „Was bedeutet das?“

Maj sagte ruhig. „Ich kenne den Geruch. In dem Beutel sind Taki-Kräuter. Und noch etwas anderes. Taki Kräuter machen willenlos und sorgen dafür, dass man jemanden liebt. Nein, das ist nicht richtig, man glaubt, ihn zu lieben.“ Sie deutete auf Nalani, die versuchte, sich aus Rylees Griff zu befreien. „Die Wirkung lässt in ein bis zwei Tagen nach. Sie hatte Angst, er würde dann merken, dass sie seine Gefühle manipuliert.“

Stephan wandte den Blick zu seiner Verlobten. „Ist das wahr?“, sagte er entsetzt.

„Natürlich nicht. Wie kannst du ihr glauben? Solch einem Abschaum?“ Ihre Stimme klang unerträglich schrill. „Wir lieben uns doch?“

Stephan sah hilflos zu Rylee. „Was ist hier los?“

Rylee hatte eins und eins zusammen gezählt. Vorsichtig sagte sie: „Ich habe mich von Anfang an gewundert, wie du dich in sie verlieben konntest. Abgesehen von ihrem Aussehen ist sie eine überhebliche, eiskalte Person, die überhaupt nicht zu dir passt. Du bist eine fantastische Partie. Ich kann mir gut vorstellen, dass sie dich mit einem Trank unter Kontrolle gebracht hat. Aber das weißt du besser als ich. Hat sie dir täglich davon zu trinken gegeben?“

Er nickte wie in Trance. „Es war ... ein Ritual. Eine Gemeinsamkeit.“

„Das ist alles eine Lüge“, schrie Nalani und versuchte wieder, sich loszureißen.

Rylee hatte Mühe, sie festzuhalten. Maj sah sie besorgt an. „Soll ich, Herrin?“

Rylee nickte und schubste Nalani, die nicht darauf gefasst war, in Richtung der Tabatai, die sie am Oberarm griff. Die kleine Frau hielt die viel größere mit Leichtigkeit fest.

Rylee trat zu Stephan, der immer noch nicht zu begreifen schien, was hier vorging.

„Ich mache dir einen Vorschlag. Du trittst deine Reise ganz normal an, trinkst aber nichts von diesem Zeug. Und dann schaust du einfach, was passiert.“

Er zögerte und nickte schweigend.

„Vorher trinken wir zusammen einen Kaffee.“ Stephan war wie im Schock. Nichtigkeiten erzählend führte sie ihn am Arm aus dem Zimmer. Über die Schulter sagte sie. „Bring sie einfach vors Haus. Es wird sie nicht mehr hinein lassen.“

Eine halbe Stunde später trat der immer noch verwirrt wirkende Stephan in das Portal und war Sekunden später verschwunden. Rylee wählte sich in ihren Bankaccount ein und schnappte nach Luft. Die Timaressianer hatten ihr zwanzigtausend Euro überwiesen, obwohl Zvexis nicht einmal das Portal benutzt hatte.

Sie würde das Geld behalten, schon aus Angst, die Timaressianer zu beleidigen, sollte sie sich weigern, es anzunehmen. Und schon war sie ihrem Ziel, Stephan das Geld, das sie ihm schuldete, zurück zu zahlen, ein Stück näher gekommen. Sie überwies ihm zwanzigtausend Euro und ihr Konto war trotzdem noch gut gefüllt. Es schien erst gestern gewesen zu sein, als sie ohne einen Cent in dem damals noch halbverfallenen Haus abgesetzt worden war. Und jetzt überwies sie fünfstellige Beträge.

Sie zwang sich in die Gegenwart zurück und bestellte noch einige Dinge für das Haus. Dann suchte sie im Netz nach einer Fahrschule. In einem Schuppen im hintersten Eck des Gartens hatten sie einen Wagen gefunden, den momentan – Rylee hatte noch keinen Führerschein – Emily nutzte. Leider gab es keine Fahrschule im Umkreis von sechzig Kilometern. Doch jetzt könnte sie die Aufgabe angehen, da Maj immer vertrauter mit dem Haus wurde. Sie schrieb die am nächsten gelegene Fahrschule an und erkundigte sich nach den Möglichkeiten.

Als sie damit fertig war, ging sie in den Keller und setzte sich in das alte Büro ihrer Eltern. Immer noch warteten hier Unmengen an Informationen darauf, gelesen zu werden. Ihre Mutter hatte sorgfältig ein Gästebuch geführt und Eigenheiten einer jeden Rasse, die das Haus besucht hatte, festgehalten. Rylee hatte sich vorgenommen, es ihr gleich zu tun, war aber über ein paar hingekritzelte Notizen nicht hinaus gekommen.

Wann immer sie Zeit hatte, las sie in den Aufzeichnungen und versuchte, mehr über das Universum und ihre Besucher zu lernen. Insbesondere interessierten sie deren Ernährungsgewohnheiten. Sie hatte ein kostbares Erbe übernommen. Einen ganzen Raum voll leerer Bilderrahmen, die sie auf ein Lebensmittel eichen konnte, sodass sie es immer wieder bei Bedarf reproduzieren konnte. So war sie ständig auf der Suche nach ausgefallenen, exotischen Lebensmitteln, die für die Nahrungsspezialisten unter ihren Gästen lebensnotwendig sein konnten.