Das Haus An Der Schleuse

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Das Haus An Der Schleuse
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Andrea Calò

DAS HAUS AN DER SCHLEUSE

Bilder des Innenlebens

Übersetzung aus dem Italienischen

Vera Schladitz del Campo

Meinem Schwesterchen Elena gewidmet,

der es durch den absurden Willen des Lebens nicht gestattet war, ein Exemplar dieses Buches

aus meinen Händen zu empfangen,

um es lesen zu können,

die aber so tief in meinem Herzen wohnt,

dass sie es selbst hätte schreiben können.

[Elena Calò 1. Mai 1985 - 25. September 2011]

Ein Buch zu schreiben, ist wie auf eine Reise zu gehen. Koffer werden gepackt, man reist von einem bestimmten Ort ab und möchte einen anderen Ort erreichen, das ersehnte Ziel. Aber wie es nun einmal auf einer Reise geschehen kann, lauern Gefahren, Fehler, Ängste und Unvorhergesehenes, die bereit sind, uns zu überraschen, abzubremsen und manchmal sogar die Freude am Reisen zu verderben. Mit Hilfe der Menschen, die uns nahe stehen, oder denen wir auf unserem Weg begegnet sind, schaffen wir es trotzdem, uns aus der Klemme zu ziehen, manchmal mühelos, andere Male auf qualvolle Art und Weise; aber wir lassen uns nie von einem Fehler aufhalten, damit nicht verloren geht, was wir investiert haben. Auf meiner Reise hatte ich verschiedene Personen an meiner Seite. Alle haben mich angespornt und ermutigt, die Reise fortzusetzen, um meinen heimlichen Wunschtraum zu verwirklichen, den ich schon seit so vielen Jahren träumte. Diese Personen machten es möglich, dass ich mich meinem Traum, meinem Projekt, widmen konnte.

Meiner Frau Sonia, die schon immer mehr als alle anderen an mich geglaubt hat, danke ich für das geduldige Lesen der Korrekturfahnen, das seit den ersten Vorbereitungsphasen dieses Textes stattfand. Ihr ist es zu verdanken, dass es dieses Buch heute gibt.

Dank meinem Schwager Enzo dafür, dass er mich mit angenehmen Unterhaltungen zu den im Buch behandelten Themen begleitet hat und dafür, dass er mir einen Teil eines seiner Aufsätze geschenkt hat und der in die vorliegende Abhandlung eingefügt werden konnte: Die Klarheit seines Denkens hat mich oft geleitet und mir dabei geholfen, das komplizierte Geflecht zu entwirren.

Dank meinen Eltern, die mir das Leben geschenkt, mich aufgezogen, erzogen, und somit ermöglicht haben, dass all dies zur Wirklichkeit wird.

Zuletzt, aber nicht als letzte, danke ich dir, Elena, dafür, dass du mein Herz geprägt und meinen Verstand auf diesem langen Weg geleitet hast: Hier drinnen lebt wirklich ein großer Teil von dir.

KAPITEL 1

Jeder freie Geist birgt Träume und Torheiten in sich.

Anonym

Ich habe mich immer gefragt, wie viele Grashalme man auf einem Quadratmeter Land zählen könnte. Eine einfache Frage, aber die Antwort ist gar nicht so alltäglich. Zu viele Variablen sind zu berücksichtigen: Zu welchem Feld das Stückchen Land gehört, welche Grasart dort wächst, die Vielfalt der vorhandenen Arten, die Beschaffenheit der Erde und so weiter. Dies sind nur einige der vielen möglichen Fragen. Deshalb habe ich immer alle Versuche gemieden, das Thema zu vertiefen, indem ich mich davon überzeugte, dass es am Ende nicht so wichtig wäre, das herauszubekommen. Da ich mein Leben auf keine Weise definieren konnte, habe ich das Ganze unter dem Stichwort „Sterile Kenntnisse“ abgeheftet. Schön wäre das, alles zu wissen! Aber auch gefährlich und was mich betrifft, wäre ich in jeder Situation meines Lebens der Gewalt totaler Ungewissheit ausgeliefert. Wenn mir zu viele Varianten zur Verfügung stünden, fände ich für jede meiner eventuellen Entscheidungen einen plausiblen und messbaren Gegensatz. Mein Entscheidungsprozess würde dadurch verlangsamt und würde mich am Ende ohnehin im Zweifel belassen, ob meine Wahl richtig war. Der Instinkt würde zugunsten des Verstandes verloren gehen, der nicht immer als das geeignetste Mittel zur Bewältigung aller Lebenssituationen anerkannt wird und imstande ist, uns zu den richtigen Entscheidungen zu führen. Die Bedeutung dessen, was richtig ist, ist letztendlich relativ und hängt von den Menschen, ihren Erfahrungen, ihren vergangenen Erlebnissen ab. Es wird leider von den Moden forciert, die unterschiedslos von der Allgemeinheit, der Gesellschaft und den Religionen diktiert werden. Es werden Menschen geformt, die sich an ein „System“ anpassen, wenn stattdessen das genaue Gegenteil der Fall sein sollte. Ich würde mein Leben als kleiner Mann zubringen, den man in die Mitte eines Gatters stellt und mit vielen Gummibändern an dessen Umzäunung festbindet. Ich könnte mich innerhalb des mir zugewiesenen Raumes bewegen, aber nie darüber hinaus, weil ich ständig zur Mitte hingezogen würde, jedes Mal, wenn ich versuchte, „über“ die Grenze hinaus zu schauen oder eine Erfahrung außerhalb derselben erleben zu wollen. Also beschließe ich, meine Neuronen den wirklich wichtigen Dingen des Lebens zu widmen. Welche aber sind die wirklich wichtigen Dinge? Hier haben wir wieder einen absolut relativen Begriff, da er mit den persönlichen Prioritäten, den Stimuli, den Gefühlen eines jeden von uns zusammenhängt. Der Verstand unterliegt leicht vergiftenden Einflüssen. Wenn er an seine Grenzen gestoßen ist, müssen wir innehalten und uns unserm Innern zuwenden, uns neu entdecken und Fragen zu unserer Gegenwart stellen, ohne zu sehr auf die Vergangenheit zu achten, die uns bis hierhin gebracht hat - und dann müssen wir unbeschwert unsere nahe Zukunft planen. Falls notwendig müssen wir den Kurs ändern und einen ordentlichen Großputz veranstalten. Die Gedanken zu weit schweifen zu lassen und Pläne zu schmieden, führt zu nichts, weil es zu viele Ereignisse gibt, die sich unserer Kontrolle entziehen, die uns an der Nase herumführen und in dem Augenblick, wenn man einander ansieht und miteinander redet, nicht im Geringsten vorhersagbar sind. Sie gehören zum Wirkungskreis des Unbekannten. Man muss sich ändern! Ich beziehe mich nicht bloß auf eine oberflächliche Schönheitsoperation, sondern ich spreche in der Tat von einer Maßnahme, die in die Tiefe geht, radikal und unmittelbar ist und imstande, im tiefsten Innern unseres Menschseins zu graben, dort, wo der wahrste Teil unseres Selbst wohnt, wo das Menschliche dem Göttlichen in all seinen Formen und Färbungen begegnet. Alles beseitigen und von Null auf wieder anfangen, das ist die Herausforderung. Aber das ist genauso einfach, wie die genaue Anzahl Grashalme auf einem Quadratmeter Erde eines Feldes zu erraten.

Die Himmel über Burgund haben ein ganz besonderes Licht und ihre Farbe hüllt uns ein und nimmt uns gefangen, selbst wenn das Wetter schlecht ist. Wenn man innehält, sich auf die Erde legt und den Blick bewundernd in die Höhe richtet, fallen diese Himmel auf einen herab, hüllen ein, lassen schweben. Der Blick schweift grenzenlos, man kann sich völlig in seinen Träumen verlieren, den verschiedensten Gedanken nachgehen. Und gerade dort, wo der Himmel dem Tal etwas Platz zugesteht, entfaltet sich ein Feldermosaik, dessen Farben vom Strohgelb reifen Weizens bis hin zum saftigen Grün der jungen Rebenblätter variieren. Hier und da fügen sich dunkle Flecken hochstämmiger Bäume ein, noch zusätzlich hervorgehoben durch die Schatten, die sie mit ihrem dichten Blätterwerk erzeugen. All das zeichnet sich auf einem weichen und hügeligen Gelände ab, das streckenweise flach und dann wiederum zart auf lieblichen Anhöhen ruht, auf deren Spitze unvermeidlich ein Schloss sichtbar wird. Am Fuß der Erhebungen vollenden die kleinen mittelalterlichen Dörfchen mit ihren Kirchen, dem angrenzenden Friedhof und den Bewässerungskanälen das wundervolle, idyllische Bild. Es ist das Bild einer Zeit, die mittlerweile einer fernen Vergangenheit angehört, die wiederum so weit zurückliegt, dass man sie in den meisten Fällen nicht voll und ganz verstehen kann. Die engen und unbefestigten Straßen, die die Landschaft durchfurchen, stecken Strecken ab, die freihändigen Skizzen ähneln. Sie bilden ein perfektes Gewebe, das jedes Dorf mit den anderen verbindet, wie ein riesiges Spinnennetz. Die Landhäuser, in ihrer typischen Bauart aus Naturstein, sind wie Knoten in diesem Gewebe. Sie stellen Orientierungspunkte für die Wanderer dar, neugierig gemacht durch die Einfachheit einer Lebensrealität, die in diesen stillen Landschaften noch anzutreffen ist. Riesig in ihrer erhabenen Eleganz der typischen Schönheit französischer Bauwerke des zwanzigsten Jahrhunderts, wegen des Steins, aus dem sie gebaut sind, wegen der immer lebendigen Farben, der großen verdunkelnden Klappläden und der Fenster aus Holz und Schmiedeeisen, die regelmäßig mit matten Emaillelacken in pastellenen Farben aufgefrischt werden. Viele dieser Gebäude erlauben üppigen Efeuarten bis zum Giebel der typischen Spitzdächer zu klettern, auf denen majestätische Dachfenster sichtbar werden. Ich stelle mir das Panorama vor, das man von dort oben aus betrachten kann, als letzten Eindruck am Abend vor dem Einschlafen oder als erstes sanftes Erwachen am nächsten Morgen. Die Zweige, die es verstehen, entlang des Mauerrandes zu wachsen und manchmal beinahe die Fenster zu berühren, winden sich in der warmen Jahreszeit eng um die zahlreichen Schornsteine, um sie dann im Winter, wenn die Kamine geheizt werden, wieder zu meiden. Wo der Efeu das Mauerwerk nicht bedeckt, ergänzen frische Flecken kompakten Mooses den natürlichen Anstrich der nach Norden gerichteten Fassaden, als ob es rohe, auf ein altes zerknittertes Kleid genähte Stofffetzen wären. Auf vielen anderen, ein buntes Blütenmeer aus Rosen, Alpenveilchen, Glyzinien und Jasmin, die aus einem Grasbett mit rotem Mohn und dichten Lavendelbüscheln stolz emporragen. Die wilden und doch gepflegten duftenden Kräuter vollenden das Bild einfacher, doch gleichzeitig Ruhe spendender kühler Gärten. Pferde und Rinder laufen frei auf den Wiesen umher, bleiben auf gebührendem Abstand von Schafen und Ziegen, die es ihrerseits vorziehen, sich in Gruppen zu sammeln, die Zeit bewegungslos dastehend zu verbringen und ab und zu ein frisches Büschel Gras zu kauen. Wenn man sie aufmerksam beobachtet, reagieren sie mit trägem, schläfrigem Blick, mit halb geschlossenen Augen, sich kaum bewegend, gelangweilt, völlig desinteressiert an der fremden Gestalt, die keine Anzeichen irgendeiner Gefährdung oder sonstiger drohender Gefahr erkennen lässt. Zweifellos ist ihr Ende kein anderes als das der Tiere, die in Verschlägen und engen Gehegen gehalten werden, aber bestimmt kann die Qualität ihrer Existenz in keiner Weise mit der ihrer eingepferchten Artgenossen verglichen werden. Aus diesem Grund ist ihr Fleisch besser, so meinen viele. Die Zeit scheint langsamer zu verrinnen, wie die Rhythmen des Lebens und der Gefühle. Alles entspannt sich, alles öffnet sich. Das Bewusstsein der eigenen Probleme löst sich auf und man konzentriert sich auf das Leere, beinahe Unwirkliche in einer materiellen Welt. Ich bleibe stehen und betrachte ein Feld. Ich richte meine Augen bis an die Grenze des Sichtbaren und sehe die Horizontlinie. Ich kann mit meinen Sinnen nicht darüber hinaus, weil das Auge es mir nicht erlaubt, aber meine Vorstellungskraft überwindet die Grenze in einem einzigen Augenblick und zeichnet vor mir die Fortsetzung des kaum wahrnehmbaren Bildes dieser Landschaft. Ich fühle mich so klein inmitten so großer Weite, aber über die Maßen empfinde ich ein Gefühl der Sicherheit und innerer Erfüllung, ein Gefühl, das ich selten zuvor in meinem Leben verspürt habe.

 

Ich habe Burgund gewählt, um ein paar Ferientage zu verbringen, um mich mit meiner Frau zu entspannen und für eine Weile den Lärm des Stadtlebens vergessen zu können. Es ist alles so anders hier. In der Stadt überkommt mich ab und zu der Wunsch abzuschalten. Die Orte des Alltags machen mich nervös wie ein ungemein lästiger Juckreiz. Die Gesellschaft der Menschen befriedigt mich nicht mehr sonderlich und es überkommt mich der Wunsch, allein zu sein: Fast so, als ob die einzig mögliche Versöhnung nur über die Abwesenheit der Geräusche der Stadt und ihrer Einwohner gehen könnte. In solchen Momenten versuche ich oft, mich auf das kleinste Detail einer Landschaft zu konzentrieren: den Beginn eines aufwärtsführenden Weges in die Berge, das Fenster eines Hauses, das auf eine Wiese hinausgeht, eine Bank, die neben einem Feldbrunnen steht. Ich fühle, dass sich dort der Lärm in Wohlklang verwandelt, sich in das universelle Konzert integriert und mit ihm vereint. Auch eine menschliche Stimme kann wieder einem Gesang ähneln, ohne stürmisch zu drängeln, um das Primat der Allgegenwart zu erzielen. Wenn ich während meiner von Unduldsamkeit geprägten Tage auf der Straße gehe, kommt mir die Menschheit, wegen ihrer Anzahl und ihrer Aufregung, wie eine arrogante Menge vor. Ich empfinde ihre Hast, an ihr Ziel zu kommen, als Zeichen der Verzweiflung, die nicht ausschließt, sich auch mit den Fingernägeln oder der Waffengewalt Platz zu verschaffen, wenn es sein muss. Und da kann ich mir nicht helfen, mich für einen anderen Bestimmungsort geboren zu fühlen, sei dieser der Beginn eines aufwärtsführenden Weges in die Berge, das Fenster eines Hauses und die Wiese davor, oder eine Bank, die neben einem Feldbrunnen steht, das spielt keine große Rolle. Wie dem auch sei, es handelt sich um ein „Anderswo“, in dem die Stimme wieder zum Gesang erklingen kann, meinem Gesang.

Unser Ziel war ein kleines Haus am Canal de Bourgogne, etwa auf der Hälfte seiner Gesamtlänge gelegen, mit Blick auf den Kanal, Eigentum des Wärters einer der vielen Schleusen, die es dort gibt, im Dorf Gissey sur Ouche. Wir waren auf der Suche nach ein bisschen Ruhe, Entspannung, Abschottung von der chaotischen Stadtwelt und auf Selbstsuche. Die Landschaft vor uns entfaltete ein Farbenkonzert, Sonnenreflexe, die sich in den Pfützen widerspiegelten, uns vollkommen in Bann schlugen. Es würde schwierig sein, in das Stadtleben zurückzukehren, das war uns schon jetzt bewusst, noch bevor wir die Bekanntschaft des Ortes gemacht hatten. Aber das Beste sollte noch kommen. Es zeigte sich eindringlich vor unseren Augen, drang in unsere Herzen und nahm unsere Aufmerksamkeit für immer gefangen. Gissey ist ein Dorf mit einer Handvoll, meist aus Naturstein gebauter Häuser, genau wie im Mittelalter. Das Rathaus, eine Schule, eine Kirche und der angrenzende Friedhof waren die einzigen öffentlichen, von der Hauptstraße aus sichtbaren Gebäude. Ein einziges, eher kleines Restaurant, bot Touristenmenüs zu einem Festpreis an, war aber nur an bestimmten Tagen der Woche, einschließlich Samstag und Sonntag geöffnet, abends jedoch selten. Kein Laden, nicht mal ein Lebensmittelgeschäft. Auch hier konnte man frei laufende Tiere auf den Feldern sehen, Vögel, die in den Himmel schweben, dabei Kreise und weitreichende Bögen ziehen und niedergleiten, um dann wiederum wie Tänzer, von den perfekten Noten einer klassischen Arie geleitet, in die Höhe zu fliegen.

In der Nähe des Dorfes angekommen, bogen wir in einen schmalen, mit Steinen und Kies übersäten Feldweg ein, der so schmal war, dass zwei Autos wohl kaum aneinander hätten vorbeifahren können. Die kleine Straße, übersät mit großen, tiefen Löchern, hier und da mit Regenwasser gefüllt, das der Boden nicht hatte aufnehmen können, führte am Kanal entlang, der sich zu unserer Linken ausbreitete und auf dem wir vereinzelte kleine Kähne erblickten, die sich in gerader Linie fortbewegten. Auf den Kähnen lachten die Leute fröhlich und schauten in die Gegend. Blicke voller Folklore zeichneten sich auf ihren Gesichtern ab, deren milchweiße und mitunter bonbonrosa Haut glänzend und straff war und deren Wangen in ein leuchtendes Rot übergingen. Die Männer knipsten Fotos, knabberten an leckeren Häppchen und nippten gierig Wein aus langen Stielgläsern. Vielleicht hatte die Stärke des Alkohols sie bereits in den Fängen. Frauen mittleren Alters saßen entspannt, die Beine lässig auf Bänke aus dunklem Holz und Metall gelegt, oder auch ausgestreckt auf Liegestühlen mit Bezugsstoff aus grobem, beigefarbenem Tuch, die auf Deck aufgestellt waren. Kinder, an ihre Mütter gelehnt, genossen ihr Eis, die Gesichter halb unter ihren bunten Kappen versteckt als Schutz vor der Sonne und den neugierigen Blicken der Reisegefährten, denen sie verlegen auswichen. Sie machten den Eindruck, die absoluteste Freiheit zu genießen, oder etwas sehr Ähnliches, nämlich Sorglosigkeit, so als ob sie integrierender Bestandteil der Umwelt wären, in Harmonie mit ihr lebten. Die Probleme des Alltags schienen sie nicht zu berühren, als ob es in Wirklichkeit überhaupt keine Probleme gäbe, gegen die man ankämpfen musste, als wären sie völlig davon ausgenommen. Man hörte nicht nur Französisch sprechen, sondern auch Deutsch, Englisch und Spanisch. Es war kein italienischer Gast darunter oder zumindest sprach niemand Italienisch in dem Moment. Jedenfalls hatte keiner der Anwesenden typisch italienische Gesichtszüge. Sie kamen in der Tat sehr nahe an uns vorbei und man konnte sie gut sehen, so gut, dass man fast die Unvollkommenheiten der Haut erkennen konnte. Wir betrachteten den Kahn, wie er durch das Wasser glitt und die fröhliche Gesellschaft beförderte. Keine ohrenbetäubenden Geräusche waren zu hören, trotz der laufenden Motoren. Der Eindruck war, dass der Kahn auf dem Wasser vorwärts rutschte, als würde er allein durch die Kraft der Luft angetrieben. Zu den Fenstern unseres Autos, das wir ausgeschaltet hatten, um das Geschehen zu bewundern und zu verewigen, drang das Gelächter der Menschen, ihr Gerede und die Symphonie des Gesangs der Vögelchen herein, die das freie Feld rechts der Fahrbahn besiedelten. Auf dieser Seite war das ganze Feld, soweit wir sehen konnten, eine einzige riesige, grüne Fläche. Sie war von Hügeln dunkleren und intensiveren Grüns wie eingerahmt. Sie schienen dorthin platziert worden zu sein, um nicht sofort die Schönheiten zu enthüllen, die sich hinter ihnen entfalteten.

„Es ist alles so unglaublich hier!“ sagte Sonia mit einer Stimme voller Freude und spürbarer Erregung und Augen, in denen jenes Licht leuchtete, das ich mit dieser Intensität schon seit einiger Zeit nicht mehr gesehen hatte. „Es kommt mir wie eine andere Welt vor! Es scheint fast, dass die Grenzlinie überschritten worden sei, als wir in diese Straße einbogen, jene Grenzlinie, die das Wirkliche von dem trennt, was stattdessen lediglich ein Produkt der Träume ist. Es ist unbeschreiblich, ich bin glücklich!“, folgerte sie.

„Es ist alles so echt, aber zugleich auch so unglaublich! Die Farben, die Klänge, die Düfte und die Bilder. Alles scheint seinen eigenen Platz zu haben, eine so genaue Position, dass das einzelne Ding wie „deplatziert“ empfunden würde, wenn diese von einem Laien verändert würde. Alles gehört zu dem Bild, das wir in diesem Augenblick betrachten und scheint die Unterschrift seines Autors zu tragen, einer übergeordneten, erfahrenen Instanz. Man kann sich keineswegs vorstellen, wie man verbessern könnte, was in unseren Augen schon von Anfang an perfekt erschien. Ich bin auch glücklich!“

Sie drehte den Schlüssel, um das Auto wieder zu starten und mit einem Lächeln forderte ich sie auf, in Richtung unseres nunmehr nahen Ziels weiterzufahren, zu dem Haus an der Schleuse 34s. Während wir fuhren, schlossen die Bäume hinter uns den Tunnel auf der Straße, als ob sie ein Bühnenvorhang wären, der am Ende der Vorstellung fällt.

KAPITEL 2

Die Leute sagen: „Er ist verrückt.“

Oder:Er lebt in einer Fantasiewelt.

Oder auch:Wie kann er Dingen ohne Logik vertrauen?“

Aber der Krieger lauscht weiter dem Wind

und spricht mit den Sternen.

[Paulo Coelho - Handbuch des Kriegers des Lichts]

Das Haus war klein, mit Mauern aus Naturstein gebaut. Das Dach hatte ein beträchtliches Gefälle auf beiden Seiten des Hauses. Das war notwendig, um die Entlastung des Schnees während des Winters zu begünstigen und somit zu verhindern, dass sich schwere Eisplatten bildeten, die die Holzbalkenstruktur, die auch im Innern, in den Zimmern, sichtbar war, gefährden würden. Die Hausbesitzer und Schleusenwächter hießen Urs und Doris, ein sehr harmonisches Paar. Sie hatten das Haus in zwei Bereiche aufgeteilt, einen geräumigeren, für sie bestimmten, und den anderen, der an Touristen als Ferienwohnung vermietet wurde. In seiner Einfachheit gab es in dem Haus alles, was man braucht: ein Wohnzimmer mit Kochnische, eine wunderbar ausgestattete Küchenzeile mit dem notwendigen Geschirr, Töpfen und jeder Menge Besteck, ein bequemes Sofa, ein eigenes, sehr kleines Bad, aber mit einer geräumigen Dusche. Der Schlafbereich, der den oberen Teil der Struktur nutzte, befand sich auf dem Hängeboden. Zugang hierzu hatte man über eine stabile Innentreppe. Jedes nur erdenkliche Haushaltsgerät war vorhanden, ob nützlich oder nicht, sei dahingestellt. Es gab ein Radio, Satellitenfernsehen, sogar einen drahtlosen Internetanschluss. All dies schien fast fehl am Platz in einem, dem Anschein nach, so einfachen, ländlichen, natürlichen und minimalistischen Kontext. Ich kam nicht umhin, all diese Annehmlichkeiten zu schätzen, die inzwischen überwältigend Einzug in mein Stadtmensch-Leben gehalten hatten. Wie auch immer, ich versprach mir, ihre Anwendung auf ein Unverzichtbares zu beschränken. Wir waren auf der Suche nach absoluter Ruhe, nach Ablösung vom Überflüssigen, nach Eintauchen in die Natur. Ganz sicher war, dass wir unsere kostbare Zeit nicht verschwenden wollten, indem wir die Tätigkeiten eines chaotischen Alltags wiederholten. Auf der Außenseite war das Haus nicht von Blumen oder für gepflegte Gärten typischen Pflanzen umgeben. Im Gegenteil, zarte Farbflecken tönten es, ein Geschenk der Blumen und wilden Sträucher, der roten Mohnblumen und der anderen, intensiv orangefarbenen, eleganten Blüten, der weißen und lila Glockenblumen, die an den Mauern hochkletterten oder hier und da Polster auf dem Boden bildeten, so schön und dicht, dass man vorsichtig sein musste, sie nicht zu zertreten. Es gab Gräser und Sträucher, die ich sicherlich ausgerupft hätte, wenn sie im Garten meines Hauses in der Stadt gewachsen wären, entweder weil sie nicht dort hingepasst hätten oder, bei oberflächlicher Betrachtung, nicht schön genug gewesen wären. Diese einzigartig geformten Blüten ließen Maserungen und Farbschattierungen auf den weichen, sich samtig anfühlenden Blütenblättern erkennen. Und ihre Lebenskraft, die Art wie sie schwankten, sich auf ihren langen Stielen der Luft auslieferten, ließ sie wie von einem großen Lehrer ausgebildete Tänzer erscheinen. All dies faszinierte uns, schlug uns in den Bann einer Art Zauber oder Hypnose. Warum geschah das nur dort und in jenem Moment? Ich habe in meinem Leben viele blühende Glockenblumen und Mohnblumen gesehen. Warum habe ich nie bemerkt, wie schön, zart und elegant sie sind? Ich erkannte meine unermessliche Oberflächlichkeit und das machte mich ein wenig traurig. An einer Ecke des Hauses hingegen wuchs eine wunderschöne, tiefrote Rose, mit Blütenblättern, so weich wie der feinste Samt, der ein Duft entströmte, der einen gefangen nahm, die Sinne überwältigte. Wir hatten zwei Fahrräder, entscheidend für die Fortbewegung in der näheren Umgebung, wenn man nicht das Auto nehmen wollte.

 

Nach dem Austausch einiger Informationen, die Gegend und ihre Sehenswürdigkeiten betreffend, verabschiedeten sich Urs und Doris von uns und ließen uns auspacken, aber nicht ohne uns für den Nachmittag auf einen Willkommensaperitif einzuladen. Die Stille um uns herum war greifbar, eine direkt von den Ohren wahrgenommene, fast unangenehme Stille, die wir nicht gewohnt waren. Ich sah meine Frau an und bat sie zu lauschen. Man hörte das unvermeidliche Zwitschern der stets zahlreichen Vögel und ihrer verschiedenen Arten, das sanfte Rauschen des Wassers in der Schleuse hinter uns, die dazu diente, den Wasserpegel im Kanal unter Kontrolle zu halten, die Eigentümer des Schleusenhauses, die die Grüße der Passanten erwiderten, sowie auch das Rascheln der Blätter in den Bäumen, die die Luft bewegte.

Es gibt viele Schleusen am Kanal, eine für jede Wasserstandsdifferenz; in der Regel handelt es sich um ein paar Meter. Für jede Schleuse gibt es ein Haus, von einem Wächter bewohnt, der die Aufgabe hat, die Schleuse zu öffnen und zu schließen, jedes Mal, wenn ein Kahn vorbeifährt. Die Öffnungs-und-Schließvorgänge werden bis zum heutigen Tag noch von Hand und mit denselben Bewegungen ausgeführt, die die Zeiten bis heute überdauert haben. Eine Schleuse besteht aus einer wasserdichten Kammer, die lang aber sehr schmal im Vergleich zur Breite des Kanals ist. Sie tritt in Form einer Aushebung des Geländes in Erscheinung, die mit Steinblöcken, die die Erddämme verstärken sollen, gefestigt ist, weil sie andernfalls der Erosion durch das Wasser ausgesetzt wäre. Der Wasserstand im Innern der Kammer wird erhöht oder verringert, um den Kähnen die Einfahrt zu ermöglichen. Sie werden angehoben oder abgesenkt und so auf das gewünschte Niveau des Aufstiegs- oder Abstiegskanals gebracht. Die Passagiere auf den Kähnen schienen immer sehr interessiert und beobachteten genau den Hergang dieser Aktion, als ob sie sie persönlich auszuführen hätten. Trotz Versuchen der französischen Regierung, diese Systeme zu automatisieren, haben der Kanal und die Menschen, die für ihn arbeiten, sich immer erfolgreich dafür eingesetzt, dass diese Handfertigkeit, die die Touristen bis zum heutigen Tag sehr schätzen und bewundern, nicht untergeht.

Urs und Doris riefen uns für den Aperitif und luden uns ein, uns zu ihnen an den Tisch mit Blick auf die Schleuse zu setzen. Von dort aus hatte man eine großartige Aussicht. Man konnte den Blick frei über den Kanal schweifen lassen, der mit seinen lebendigen Farben betrunken machte; von den Lichtreflexen mit Details der Bäume, die sich malerisch auf der Wasseroberfläche widerspiegelten, bis hin zu den Blumen und Sträuchern, die zahlreich an den Ufern wuchsen. Kleine Entenfamilien schwammen in der Reihe und bewegten sich im Zickzack auf der freien Wasseroberfläche. Es war nicht ungewöhnlich, diese kleinen Familien zu den Kanalufern schwimmen zu sehen, wenn die Kähne durchfuhren, und dann abzuwarten, bis sie vorbei gefahren waren, um sich dann wieder hinter ihnen aufzureihen und ihren Weg fortzusetzen. Der Bauch des Kanals beherbergt viele große Fische, die wegen des trüben, militärgrünen Wassers schwierig von außen zu sehen sind. Der Kanal ist eine unverzichtbare Attraktion für Anglergruppen, die sich regelmäßig auf den Pfaden entlang des Ufers aufstellen. Manche sind erfahren und gut ausgerüstet, andere einfache Anfänger, nur mit Angel und kleinem Fischernetz. Aber alle haben das gemeinsame Ziel, einen großen Fisch nach Hause mitzubringen und ihn genüsslich zum Abendessen, allein oder zusammen mit der Familie zu verspeisen, begleitet von einer deftigen französischen Soße, einem guten Wein und einer Baguette. Man sah in der Tat viele, in Reihen aufgestellt wie Soldaten, einige konzentrierter, andere entspannter, fast schläfrig. Sie parkten ihre Autos nicht weit entfernt von ihren Angelplätzen, ließen jedoch die Wagenfenster ausnahmslos offen. Gegenüber der Schleuse markierten einige kleine Hügel eine, aufgrund ihrer bescheidenen Höhe, nicht unüberwindbare Grenze. In der ganzen Gegend um uns herum gab es keine Häuser oder Gebäude irgendwelcher Art, Form oder anderer Nutzungsbestimmung. Ein paar Schritte weit vom Ufer des Kanals entfernt, auf der uns gegenüberliegenden Seite, erfüllte ein wilder Sturzbach die Luft mit dem Getöse seines rauschenden Wassers, das seinen Lauf stellenweise etwas änderte, wegen der großen Felsblöcke, die hier und da im Flussbett lagen. Die Blätter, die sich von den Zweigen der am Rand stehenden Bäume loslösten, schaukelten ein bisschen durch die Luft, fielen ins Wasser und wurden dann von der Strömung fortgerissen. Die Steine, mit eleganten, behenden und kreisenden Bewegungen umspült, lagen überrascht da, still und unfähig die Talfahrt der Blätter aufzuhalten oder auch nur zu verlangsamen. Welch ein Tanz!

Es war früher Nachmittag, die Sonne stand hoch am Himmel und erwärmte die Luft, aber man spürte die Hitze nicht. Die Luftfeuchtigkeit war gering, trotz der Nähe zu dem Wasserlauf. Urs zeigte sein übliches, nettes Lächeln. Er forderte uns auf, es uns bequem zu machen und entschuldigte sich, dass er uns ein paar Minuten allein lassen musste, um den Aperitif zuzubereiten. Aus dem Innern des Hauses, durch das kleine, halb offene Fenster, kam das dumpfe Geräusch des Messers, mit dem Doris beim Schneiden von Käsewürfeln und in Gewürzöl getauchtem, geröstetem Brot, herumhantierte. Das Messer schien auf eine Arbeitsplatte aus Naturstein zu stoßen, und zwar in derartig regelmäßigen Abständen, dass man denken konnte, sie würden durch eine Maschine erzeugt und nicht durch einen menschlichen Arm. Meine Frau und ich sahen uns an und schwiegen. Wir fühlten uns ungeheuer schläfrig und entspannt. Nur zwei Stunden Aufenthalt an diesem Ort und wir hatten bereits die Verbindung zur Realität des Stadtlebens verloren, das uns kaum noch anzugehören schien.

„Aber gibt es denn all das tatsächlich? Oder träume ich vielleicht?“, rief Sonia leise aus, möglicherweise, um nicht von den Besitzern gehört zu werden, die unsere Worte sowieso nicht verstanden hätten.

„Es ist eine unglaubliche Wirklichkeit und ich hatte gedacht, es gäbe sie nicht mehr. Jetzt aber entfaltet sie sich hier vor unseren Augen, mit all seinen Einzelheiten. Dem ist nichts hinzuzufügen! Genießen wir es doch, mein Schatz. Alles und nur für uns!“ antwortete ich und hielt ihre Hände fest umspannt.

Urs tauchte wieder auf, mit zwei Flaschen in der Hand, eine mit Weißwein und die andere, bereits geöffnete, mit einem eher dickflüssigen, tiefroten Wein. Er erklärte uns, dass es sich um einen Brombeerlikör handelte, der auf seinem Grund und Boden hergestellt wird, einen sehr hohen Alkoholgehalt hat und dass er gewöhnlich benutzt wurde, um andere Weine zu verschneiden, oder für Cocktails, Aperitifs oder Desserts. Auch dass er selten so getrunken wurde, wie er war, wegen seines leicht säuerlichen Geschmacks. Er goss circa einen Zentimeter dieses Likörs in die Gläser, füllte dann mit Weißwein auf, was ein Gemisch von einer ganz ähnlichen Farbe wie Roséwein ergab. Der beißende, aber sehr angenehme Geschmack bewahrte den Alkoholgehalt des Likörs fast unverändert, nur etwas abgemildert durch den merklich ausgewogeneren Geschmack des Weißweins. Doris kam aus dem Haus und trug triumphierend eine Platte mit Käsesnacks auf Brot, die sie vor ein paar Minuten zubereitet hatte. Nach den üblichen guten Wünschen begannen wir von allem zu kosten und ließen uns dabei von den Geschmäcken, den Düften, dem zarten und unaufdringlichen Gesang der Vögel, dem Rauschen der sich aneinander reibenden Blätter der Bäume, dem Hauch eines Lüftchens, das man langsam zu schätzen begann und der Luft etwas Biss verlieh, vollkommen mitreißen. Ein kleines, weißes Wölkchen hier und da trübte den Himmel, der bis zu diesem Moment blau gewesen war, und entkräftete so die grenzenlose Monochromie. Wir sprachen über viele Dinge, unser Leben in der Stadt, unsere Arbeit. Urs und Doris erzählten aus ihrer Vergangenheit und veranschaulichten die Wege und Entscheidungen, die sie in dieses Paradies geführt hatten. Ihre Gemütszustände gelangten direkt in unsere Herzen, von ihren Worten ans Ziel begleitet. Sie liebten diesen Ort, fühlten sich Teil davon. Und das Licht, das in ihren Augen glänzte, ihr Lächeln und die Fröhlichkeit, die sie in jeder Situation zeigten, bestätigten uns das jeden Augenblick, auch in den folgenden Tagen. Sie lebten ein echtes Leben, eines in seiner Einfachheit erfülltes Leben. Ein Bild werde ich nie vergessen können, das sich wie mit Feuer in meinen Kopf eingebrannt hatte, während ich Urs beobachtete. Mit den Händen umspannte er sein halb volles Stielglas, das auf dem Tisch stand. Sein Blick, verloren auf den Horizont gerichtet, ließ ein leises Lächeln entstehen, das von den Gedanken herkam, die ihm in dem Augenblick durch den Kopf gingen. Sicherlich Gedanken erlesener Wichtigkeit und frei von Problemen jeglicher Art. Im Glas malte die Sonne Flecke aus Licht und Schatten, belebt durch das Schwappen des Weines, das die Bewegungen der Hand verursachten. Urs führte das Glas zum Mund, ohne es auch nur anzusehen; er war geradezu in seine Pläne versunken, beinahe geistesabwesend. Im Gegensatz dazu sprach Doris unaufhörlich und ihr Redeschwall wurde nur minimal durch eine Zigarette unterbrochen, die sie automatisch inhalierte.