Verletzte Gefühle

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Verletzte Gefühle
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GANIJEWA • VERLETZTE GEFÜHLE

ALISSA GANIJEWA

Verletzte Gefühle

Roman

Aus dem Russischen

von Johannes Eigner


Gefördert von der Autonomen NPO

»Institut für Übersetzung«, Russland.



A-9020 Klagenfurt/Celovec, 8.-Mai-Straße 12

Tel. + 43(0)463 370 36, Fax. + 43(0)463 376 35

office@wieser-verlag.com

www.wieser-verlag.com

Copyright © 2021 bei Wieser Verlag GmbH,

Klagenfurt/Celovec

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Josef G. Pichler

ISBN 978-3-99029-458-1 (Print Ausgabe)

ISBN 978-3-99047114-2 (Epub)

Zweifelsohne gibt es heute schon nicht mehr jene feierliche, bange Haltung gegenüber der Denunziation wie früher.

Aleksandr Sinowjew, »Homo sovieticus«

So Glotzäugige.

Fjodor Sologub, »Der kleine Dämon«

Personen

Andrej Iwanowitsch Ljamzin: Regionalminister für wirtschaftliche Entwicklung

Ella Sergejewna Ljamzina: Schuldirektorin, Ehefrau Ljamzins

Marina Anatoljewna Semjonowa: Unternehmerin, Geliebte Ljamzins

Pjotr Iljuschenko: Pope

Lena (Lenotschka): Sekretärin Ljamzins

Viktor: Kriminalpolizist

Natalja Petrowna: Stellvertreterin Ljamzins

Nikolaj (Kolja): Angestellter in Semjonowas Firma

Tolja: Angestellter in Ljamzins Ministerium

Tanja: Haushälterin der Ljamzins

Kapustin: Oberstaatsanwalt

Katuschkin: Journalist

Sopachin: Geschichtelehrer in Ljamzinas Schule

Ernest Pogodin: Salonmaler

Tschaschtschin: Theaterdirektor

1

Ein Mann lief torkelnd im Nieselregen. »Der ist wohl betrunken«, dachte Nikolaj, »den schmeißt es ordentlich hin und her.« Die Straße verschwamm schon im Dämmerlicht, im Schein der unregelmäßig flackernden Lampen auf ihren Aluminiummasten. In der städtischen Beleuchtung ging allem Anschein nach das Quecksilber zu Ende. Ivan der Schreckliche litt an Quecksilbervergiftung, kam es Nikolaj plötzlich in den Sinn. Er behandelte seine Syphilis und rieb die Beine mit Quecksilbertinktur ein. Oder man rieb sie ihm ein? Am Bächlein, am Bächlein, an jenem Uferstückchen, wusch sich Marusenka die weißen Füßchen, mit wem warst du, Marusenka, die ganze Nacht unterwegs, mit wem, Ma…

Eine große Hand klatschte mit voller Wucht ans nasse Seitenfenster. Nikolaj ließ die Scheibe herunter: Es war eben jener Torkelnde. Teure Jacke, goldener Ring am Finger, ein durchaus solider, aber aus irgendeinem Grund aufgeregter Gesichtsausdruck. Betrunken ja, aber nicht einer aus der Gosse.

»Nimm mich mit, mein Freund!«, flehte der Mann mit unerwarteter Bass-Stimme, wobei er sich nervös über das vom Regen nasse Gesicht wischte.

»Schau ich etwa aus wie ein Taxifahrer?«, knurrte Nikolaj verdrossen.

»Es ist dringend, Bruder, sehr dringend! Ich zahl’ auch dafür!«

»War ich nicht deutlich genug? Ich bin nicht dein Kutscher!«

Die Ampel leuchtete grün auf, und hinten begann man ungeduldig zu hupen. Doch der sonderbare Mann legte sich mit seinem gesamten Elefantengewicht auf das Auto, ein Losfahren war nicht möglich.

»Hör zu, verschwinde von hier!«, schnauzte ihn Nikolaj an. Da zog der Unbekannte vor dessen Nase die Geldtasche hervor – feinstes Kalbsleder – und begann plötzlich Fünfhunderterscheine in das Wageninnere zu werfen. Das Geld fiel auf Nikolajs Schultern, auf sein rundliches Bäuchlein und flatterte irgendwo hin unter den Sitz. Hinter ihm auf der Straße ging das erboste Gehupe weiter.

»Geht’s noch?«, brummte Nikolaj in immer größer werdender Verzweiflung, und er entriegelte nach kurzem Zögern die hintere Tür. Der Mann ließ sich schwer atmend auf die Sitzbank plumpsen. Die Tür fiel ins Schloss, der Wagen fuhr stotternd los.

Nikolaj richtete den Rückspiegel ein, der dort hängende Rosenkranz kam in heftiges Baumeln. »In der Hand der Rosenkranz, im Kopf die Weiber ganz …«, huschte es Nikolaj unangebrachterweise durch den Kopf. In der regennassen Fensterscheibe spiegelte sich das angstvolle Gesicht des Passagiers.

»Wohin musst du überhaupt?«, erkundigte sich Nikolaj streng.

»Und du selbst?«, schreckte der Mann hoch.

»Ich muss ins Zentrum.«

»Ich auch. Aber mach bitte einen Umweg, machen wir eine Extra-Runde.«

»Bist wohl vor jemandem auf der Flucht, oder?«

Der Mann verstummte und stieß weiter kurze, heftige Atemzüge aus. Er roch, was verwunderlich war, überhaupt nicht nach Alkohol. Nikolaj starrte gedankenverloren auf die nasse Straße. Irgendwo hatte er gelesen, dass sich jede Minute sieben Prozent der Menschheit in betrunkenem Zustand befinden. Wie viele sind das insgesamt? Nikolaj legte die Stirn in Falten und schätzte. Fünfzig Millionen? … Wenn dieser schnaufende Alte tatsächlich einen sitzen hat, müsste man das ziemlich riechen. Vielleicht überdeckt das Kräutersäckchen, das seine Frau an der Windschutzscheibe angebracht hat, den Geruch. Ätherische Öle. Selbstgenähtes Aroma-Sachet. Unregelmäßige Stickerei.

Die Frau hat gesagt, das ist ein Gebrauchtwagen, das heißt, er ist von der Energie der früheren Besitzer verseucht. Da bedarf es eines Reinigungsrituals. Du hältst über der Motorhaube eine mit einem Geldschein entzündete Kerze, wenn auch nur mit einem Hundertrubelschein, Hauptsache, er verbrennt ganz, und du rufst laut: »Auf den Erfolg gezahlt!« Du gehst zwölf Mal im Uhrzeigersinn um das Auto herum, bläst die Kerze aus, wirfst den Stummel weit von dir, und die Sache ist erledigt.

Nikolaj sog den Lavendelduft ein.

»Haben Sie das gehört?«, er wandte sich an den Passagier, den er auf einmal mit »Sie« ansprach. »Vor kurzem hat mir ein Kollege erzählt, dass die Ameisen, also wissen Sie, die Ameisen sich über den Geruch verständigen.«

»Hm, was?«, rührte sich der Mann auf dem Hintersitz.

»Die Ameisen, habe ich gesagt. Die haben Pheromone. Und wenn nun eine Ameise stirbt, so bleiben diese Pheromone noch eine Weile erhalten, und, stellen Sie sich vor, die übrigen Artgenossen plaudern mit ihr noch eine Woche. Sie glauben, sie lebt noch. Und wenn man umgekehrt auf eine lebende Ameise Fäulnisgeruch sprüht, so als ob sie schon in Verwesung begriffen wäre, dann ist es aus mit ihr. Sie wird zu Grabe getragen.« Nikolaj schmunzelte. »Die Arme wehrt sich dagegen, will zurücklaufen in den Ameisenhügel, aber zack, sie wird erneut gepackt und zur Beerdigung geschleppt. Unglaublich, was? Dass so was möglich ist!«

Der Passagier begriff anscheinend, worum es ging, und nickte zustimmend. Er schnaufte noch immer und griff sich in Brusthöhe an seine modische Jacke.

»Ich wusste nicht, dass es bei Ameisen Beerdigungen gibt.«

»Die haben wahrscheinlich auch ihren Leichenwagen, das würd’ mich nicht wundern«, grinste Nikolaj. Es erheiterte ihn auf einmal, dass er ohne jeden Hintergedanken, einfach so unversehens den Passagier am Haken hatte. »Und warum haben Sie nicht ›Uber‹ genommen?«

»Uber … Uber … damit die nachverfolgen können, wohin und woher? Nein, mir reicht es.«

»Wer ist denn hinter Ihnen her?«

Der Mitfahrer jedoch zog sich wieder in sich zurück und schwieg.

»Ein jeder hat seine Ängste«, sinnierte Nikolaj laut vor sich hin. »Manche haben Angst, das Telefon zu Hause zu vergessen. Meine Tochter ist so eine. Das hat sogar eine eigene Bezeichnung. Ich hab’s vergessen. Irgend so eine Phobie. Es gibt Angst vor Mikroben. Vorm Altern. Vor Maulwürfen, Flugzeugen, Gold, Blindheit. Angst davor, an Krebs zu erkranken, in Scheiße zu treten. Zu heiraten. Sich zu verlieben. Leute anzufurzen. Vor einer Menge im Rampenlicht zu stehen. Vor Ärzten, der Schwiegermutter, dem eigenen Spiegelbild. Vor Läusesucht, Strahlung, AIDS, Terroristen. Einzuschlafen und nicht wieder aufzuwachen, ein Haar im Abendessen zu finden. Vor Clowns, Computern, Zugluft. Mundgeruch. Leeren Räumen. Tunnels, Höhe, Wasser, Geld, Medikamenten. Bösen Geistern …«

»Was arbeiten Sie?«, unterbrach ihn der Passagier unvermittelt.

»Ich? In einer Baufirma. Und Sie?«

»In einer Baufirma?« Der Mann wurde lebhafter. »In welcher?«

»Sie etwa auch?« Nikolaj richtete von Neuem den Rückspiegel ein, um irgendwie das Gesicht des Gesprächspartners zu sehen zu bekommen.

Doch anstatt zu antworten starrte der Mann nur ins feuchte Dunkel.

»Wo sind wir da?«

»So wie Sie gebeten haben. Wir fahren jetzt außen herum, und dann ins Zentrum.«

Der Mann beruhigte sich anscheinend. Er wandte sich vom Fenster ab und sagte im Vertrauen: »Das mit den Ängsten … in letzter Zeit habe ich auch Angst vorm Telefon. Augen, überall Augen, verstehen Sie?«

Nikolaj schien verstanden zu haben. Getrübtes Urteilsvermögen. Verfolgungswahn. Wie heißt das noch mal, paranoide Schizophrenie. Schrittweise hat sie sich in die Stadt geschlichen und offenbar jeden Einzelnen in ihren Würgegriff genommen. Bekannte von Nikolaj setzten sich während Gesprächen immer öfter auf ihre Telefone, ließen sie unter ihren warmen Hinterbacken verschwinden, verklebten das Video-Auge der Notebooks mit Isolierband, bewegten sich auf Zehenspitzen im Netz, nur anonymisiert …

 

In Nikolajs Kopf tauchten kuriose alte Plakate auf. »Schwätze nicht am Telefon, den Schwätzer findet der Spion«. »Der Feind ist bös und schlau – mit beiden Augen schau« … Die Schwiegermutter kam ganz aufgeregt aus dem Krankenhaus. Es stellte sich heraus, dass die Urin- und Stuhlproben der Patienten in ein kommerzielles Labor geschickt wurden. Und von dort angeblich direkt an ausländische Agenten für irgendeine ungeheuerliche Sabotage. Welche genau, konnte niemand vernünftig erklären, doch das Labor wurde schon von Leuten aus den Diensten durchsucht. Die ganze Aufregung wegen einer einzigen zufälligen Mitteilung »an die Stellen«. Ein achtsamer Bürger. »Achtsamkeit ist des Feindes Leid« …

Nikolaj rief sich noch einmal das Bild der wie ein aufgeregtes Huhn gestikulierenden Schwiegermutter in den Kopf … Gut, er hat noch weit bis zur Pension. Eine fatale Sache. Grütze und Schwarzbrot. Er erinnerte sich an einen Witz, den er gestern von Stefan, einem Arbeitskollegen beim Generalunternehmer, gehört hat:

»Auskunft – was wollen Sie?« – »Hallo, Enkelchen, gib mir das Nümmerchen vom Telefon, wo sie, na, die Pension auszahlen.« – »Entschuldigen Sie, wir vermitteln keine Auslandsgespräche …«

Nikolaj wieherte vor Lachen, Beljaewa, die mürrische Schachtel, schielte missbilligend auf sie: Worauf, möchte ich wissen, spielt ihr da an.

Übrigens, mit der Arbeit hatte Nikolaj Glück, über einen Freund ist er hineingekommen. Beschaffungsabteilung, Großaufträge von der Stadt und der Regionalregierung. Unlängst wurde die Eishalle für das Sportfest übergeben. Blitzlichter, rote Bänder, Festtagsreden. Dann wurden die Wände feucht, die Fugen waren schlecht abgedichtet. Alles wurde auf den Sub-Unternehmer geschoben … »Man hätte es so wie die Chinesen machen sollen«, scherzte Stepan. »Als sie ihre Mauer bauten, haben sie gekochten Reis zum Zement getan.«

Reis mochte Nikolaj nicht, und ein Teil der für die Halle bestimmten Metalldachfliesen soll auf dem neuen Dach der Landvilla der Chefin entdeckt worden sein. Marina Semjonowa ist die Generaldirektorin. Junges Blut, gepflegteste Hände. Nikolaj hat sie erst einmal von Angesicht zu Angesicht gesehen, beim Silvesterbesäufnis. Dafür hing ihr Ölportrait im Empfangszimmer. Eine Arbeit des jungen Künstlers Ernest Pogodin. Zobelpelz, herausfordernder Blinzelblick. Leichtes Sfumato, lasuriert. Schwerer Goldrahmen. Stammkunden erhalten Rabatt.

Das Auto holperte voran, die dunkle Straße war mit Schlaglöchern übersät, die Räder durchfurchten schmatzend die Pfützen. Nikolaj fluchte. Der Asphalt war erst im Vorjahr erneuert worden – während Schneefalls und kunterbunt mit Dreck vermischt, nur damit es zum Stichtag fertig wurde. Und jetzt, bitte, nichts als Schlick und Gräben.

»Haben wir’s?«, keuchte der Passagier auf.

»Sie haben mich ja hierher gejagt, was grummeln Sie jetzt daher. Gleich steigen wir aus«, schnappte Nikolaj über die Schulter zurück.

Der Regen wurde heftiger, es prasselte hernieder und klatschte unverfroren auf das Wagenäußere, wie eine Männerhand auf einen Frauenschenkel. Die Scheibenwischer flogen tachykardisch rasend hin und her. An den Straßenseiten waren schon keine hölzernen Wohnbaracken mehr zu sehen, bloß noch eine Betonabzäunung. PO-2-Zaunelemente mit hervorspringenden Rhomben. Die Aufschriften waren in der hereinbrechenden Dunkelheit nicht zu erkennen, aber die paar größten hielten sich jahrelang, Nikolaj hatte sie sich gemerkt. Eine weit ausladender Anschlag »Tamada[1] und Akkordeonist« samt Telefonnummer, ein schiefes, halb verblichenes »Russland für die Traurigen!«

»Jetzt noch um die Ecke und wir drehen um. Wie geht es Ihnen?«, rief Nikolaj dem auf dem Rücksitz hin und her sackenden Passagier zu, doch der war anscheinend eingenickt und keuchte nur etwas Unverständliches.

»Das hat noch gefehlt, dass ihm womöglich schlecht wird«, dachte Nikolaj. Die Fahrbahn bot nun keinerlei Halt mehr, das Auto heulte auf, die Räder verwirbelten die Pfütze zu schmutzigem Schaum.

»Wir kommen nicht vom Fleck!«, schrie Nikolaj und stieg bis zum Anschlag auf das Gaspedal. Wieder und wieder. Der Reifen kratzte am abgebrochenen Rand des Asphalts, das schwere Vordergestell hob sich, der Wagen erzitterte mit Geheul, um schließlich kraftlos wieder zurück ins Schlammwasser zu rutschen. Es fehlte bloß ein Quäntchen mehr Antrieb. Wenn doch der Passagier für einen Augenblick ausstiege …

Nikolaj drehte sich um. Der Mann lag halb da, an die Seitentür gedrückt, und war, so schien es, gänzlich weggetreten.

»He, Alter«, rief Nikolaj, »wir sind steckengeblieben! Aussteigen!«

Schweigen. Keine Reaktion.

»Schei…benkleister«, stieß Nikolaj verärgert hervor, schlug den Mantelkragen hoch und stieg vorsichtig hinaus in das rauschende, nasse Etwas.

Er stand sofort bis zum Knie im kalten Wasser und fluchte noch lauter. Vorsichtig begann er, das abgesunkene Heck anzuheben, wobei er jeden erdenklichen Halt zu finden versuchte. »Dieser Ganter dort hinten ist ja schon ganz gaga, der schiebt mich nicht hinaus. Nun gut, allein schaffe ich es nicht, jemand wird schon anhalten und helfen«, dachte Nikolaj, den es am ganzen Leib fröstelte. Die Straße war allerdings schon vollkommen menschenleer, nur ein Ungetüm von LKW dröhnte vorbei, noch von der Ferne umgab es ihn mit grauen Schwaden.

Nachdem sich Nikolaj zur Hintertür durchgearbeitet hatte, klopfte er einige Male an die Scheibe, doch sein Mitfahrer rührte sich kein bisschen. Seine Nase war an die Scheibe gedrückt, eine weiß schimmernde, unförmige Knolle.

»Na komm«, knurrte Nikolaj, riss an der Türschnalle und öffnete die Tür auf Anschlag.

Da kippte der Mann aus dem Wageninneren und fiel Nikolaj wie niedergemäht vor die Füße. Mit der Stirn schlug er an den schiefen, aus der Pfütze ragenden Randstein, seine Arme waren unter dem Gewicht des Rumpfes unnatürlich verdreht. Die kurzen Beine in feinsten Lackstiefeletten verschwanden im schwarzen Wasser. Der Mann bewegte sich nicht.

»Hören Sie!«, schrie Nikolaj, nervös schluckend, mit einer ihm fremden kreischenden Stimme. »Machen Sie da irgendwelche Spielchen?«

Er hockte sich nieder und schüttelte den Mann an den Schultern. Sein Körper war völlig reglos, und von der Stirn floss Blut in einem dünnen Rinnsal, das alsbald vom Regen weggewaschen wurde. Ein Auge starrte leblos auf den Tanz der Regentropfen auf der Straße, das andere war zum Boden gedrückt. Unter leisem Zähneklappern legte Nikolaj seine Fingerkuppen auf den Kehlkopf des Mannes und tastete seitwärts bis zur weichen Vertiefung am Hals. Er hielt inne, wartete. Kein Puls zu spüren. Da durchfuhr es ihn: am Handy muss eine Taschenlampe sein; das Wichtigste jetzt ist, keinerlei Aufmerksamkeit zu erregen. Im Übrigen waren ohnehin keine Autos auf der Straße. Kein Arbeitstag, kaum bewohntes Gebiet. Keine Beleuchtung, keine Menschenseele.

Er schaltete die Taschenlampe ein und richtete den Lichtstrahl auf das eine Auge. Die Pupille reagierte nicht. Über Nikolajs Brust rannen Schweißtropfen, obwohl ihm die Kälte durch und durch ging. Es musste etwas getan werden. Die Polizei anrufen? Da wird man ihm sofort einen Mord anhängen. Nein, kommt nicht in Frage. Die Jacke des Mannes durchstöbern, nach Ausweis, Telefon? In der Geldtasche des Toten müssen ja Kreditkarten sein … nein, geht nicht, das hinterlässt Fingerabdrücke.

Die Flucht ergreifen, es blieb nichts anderes übrig! Nikolaj packte den Mann am Kragen seiner Lederjacke und zog ihn auf das, was ein Gehsteig sein sollte, geradewegs zum Zaun. Die nasse Jacke war ganz glitschig, fast wie flüssiger Teer, und rutschte aus den vor Anspannung verkrampften Fingern, das Herz pochte dumpf in seinem knöchernen Käfig. »Schneller, schneller«, hämmerte sich Nikolaj ein. Nachdem er den Leichnam weggeschleppt hatte, klopfte er die Taschen seines Mantels ab – alles da, nichts verloren in der Pfütze. Er lief zur Fahrertür. Sprang hinein, versperrte von innen, legte die Hände aufs Lenkrad, atmete durch und fuhr los.

Es kam ihm in den Sinn, dass die Geldscheine, die der Tote ins Wageninnere geworfen hatte, jetzt unter seinem Sitz, unter dem tropfnassen Mantel, aufgeweicht sein müssen. »Warum nur hab ich diese seltsame Figur einsteigen lassen!«, ging es ihm wie eine Leier durch den Kopf. Er fuhr auf eine beleuchtete Straße und dann immer weiter durch den strömenden Regen, er wusste selbst nicht, wohin. Der im Regen wankende Unglücksvogel hatte sich in seinem Gedächtnis festgekrallt. Nun liegt sein Leichnam beim Betonzaun, mit dem Gesicht nach unten, die Nasenlöcher im Dreck. Der hat schon beim Petrus angeklopft … Hätte er zuvor zufällig noch gelebt, so wäre er jetzt sicher erstickt. Das Genick angehoben, der nasse Kragen der Jacke zerknautscht. Nikolaj musste daran denken, dass sich auch Tote noch bewegen können. Elektrochemie. Muskelkontraktionen. Spasmen der Gliedmaßen, Zusammenkrampfen der Finger. Scheinbare Kopfbewegungen infolge inneren Gasdrucks. Ein plötzlicher Stöhnlaut der von Luft umspielten Stimmbänder … Vielleicht machte auch der jetzt einen Katzenbuckel oder bog sich zu einem Rad.

Im Handschuhfach klingelte das Telefon, langsamer Glockenton. Seine Frau suchte ihn. Nikolaj sollte schon längst zu Hause sein von seinem ehemaligen Institutskollegen. Der hatte ihn eingeladen in sein Häuschen, wie es sie viele gibt in der Stadt. Er wollte auf Freundschaftsbasis zum Großhandelspreis eine Spanndecke fürs Wohnzimmer bestellen.

Motorsäge »Freundschaft« – erinnerte sich Nikolaj auf einmal und erschrak darüber, dass er an so einen haarsträubenden Unsinn dachte, doch dieser Unsinn klebte in seinem Gedächtnis fest. »Freundschaft«. Einzylinder-Verbrennungsmotor. Vier PS. Die Bezeichnung steht zu Ehren des dreihundertsten Jahrestages – 1954 – der Vereinigung der Ukraine mit Russland. Das Hetmanat und das russische Zarenreich. Das Vierundfünfzigerjahr also. Das heißt, sechs Jahrzehnte später … Zuerst die Herstellung der Freundschaft, dann die Herstellung der historischen Gerechtigkeit, dann … die Herstellung feuchten Gipskartons … »Zum Teufel, was geht mir da im Kopf herum?«, stöhnte er laut.

Das Telefon läutete wieder und wieder. Nein, Nikolaj konnte jetzt mit niemandem sprechen … »Mit welchem Glockenton beginnt die Melodie?«, fragte er sich plötzlich besorgt. »Mit dem Ton der kleinen oder der großen Glocke? Wenn mit dem der Kleinen, dann ist es die Trauerstimmung. So ist es wohl – oder nicht?« Nikolaj spitzte die Ohren, als hinge von der Abfolge der Glockentöne seine Zukunft ab. Doch die Melodie brach unvermittelt ab.

Er umrundete zum x-ten Mal das desolate Gebäude des ehemaligen Pionierpalastes und begriff, dass er um ein und dasselbe Viertel kreiste, über die immer selben Kreuzungen. Was, wenn ihn die Straßenkameras fixiert hatten? Obwohl, wegen der Regenfluten sind die wahrscheinlich nicht funktionstüchtig. Nikolaj hielt bei der nächsten Abzweigung an, stellte den Motor ab und stützte sich benommen an die verschwommene Windschutzscheibe. Seine Mutter hatte Regenallergie. Wenn es vom Himmel schüttete, röteten sich ihre Augen, die Stimme versagte und sie bekam Pickel. Sie hatte Angst vor Regen, schloss die Fenster, ging in das hinterste Zimmer. Sie hatte Angst … Dieser Mann hatte gesagt, er habe Angst.

Nikolaj führte sich wieder und wieder das Bild vor Augen, wie der Unbekannte aus seinem Auto kippte. Mit der Stirn auf den Randstein. Den Randstein. Pressbeton … Nikolajs Hand löste sich vom Lenkrad und drückte krampfhaft auf die Hupe. Einige verschwommene Gestalten, die am Gehsteig vorbeihuschten, hielten kurz inne, um zu schauen, woher der Hupton kam, und verschwanden alsbald mit ihren zusammengeklappten Regenschirmen in ein Haus. Es war ein Café.

Schon ein paar Minuten später saß auch Nikolaj drinnen. Er hörte, wie sich seine eigene Stimme, völlig unabhängig von ihm und ziemlich fest, an die Kellnerin wandte und eine Tasse Kaffee verlangte.

»Und vergessen Sie die Milch nicht.«

»Die Milch ist aus«, antwortete die Kellnerin. »Ich kann einen Americano anbieten.«

Nikolaj nickte. Die Kellnerin war sehr jung, etwa im Alter seiner Tochter. Die Haare zu einem Zopf geflochten. Bordeauxfarbene Schürze. Leicht plattfüßig. Sie verschwand hinter den Tischen, an denen junge Leute die Köpfe zusammensteckten und fröhlich durcheinander plapperten. Das Café war gut besucht. In einer Ecke eine ausgelassene Männerrunde. Sie fletschten die Zähne vor Lachen, sodass die Goldkronen funkelnd zum Vorschein kamen. Aus irgendeinem Grund kam Nikolaj eine Freundin seiner Frau in den Sinn, die sich in der städtischen Zahnambulanz mit Hepatitis angesteckt hat. Colgate Zahnpasta. Angeblich heißt das aus dem Spanischen übersetzt »geh und häng dich auf«. Geh und … Nikolaj fasste sich an den Kopf, der ihm dröhnte und voll war von dummem Zeug, welches er einfach nicht losbekommen konnte. Bloß an irgendetwas denken, um sich nicht an den leeren, trüben Blick desjenigen zu erinnern, der jetzt in der Dunkelheit mit dem Gesicht nach unten im Regen lag. Nikolaj befühlte seine Hose – durch und durch nass, gleich wird es ihn frösteln und er sich verkühlen. Und wieder fuhr ihm so eine unnütze Frage durch den Kopf: Warum friert heißes Wasser schneller zu Eis als kaltes? … Was wird aus seinem verstorbenen Mitfahrer, wenn es in der Nacht friert und die Pfütze zu Eis erstarrt? Er wird wohl schon ganz unter Wasser sein.

 

Die Kellnerin stand vor Nikolaj und klimperte mit der Kaffeetasse. Schwarzer Inhalt, weißer Rand. Sie drehte sich um und ging zur lachenden Runde, von wo man sie gerufen hatte. Der Lauteste von denen, der mit den Goldkronen, erzählt etwas Lustiges, sie wird verlegen und schwenkt ihren Zopf hin und her. Über ihnen laufen auf dem an der Wand befestigten Flachbildschirm tonlos die Nachrichten. Bild um Bild. Inspizierung der beschädigten Stromleitungen, ein Alte im Frotteemantel mit fleckigen Händen klagt, dass es kein Licht gibt, die streng frisierte Ansagerin bewegt unkoordiniert ihren Mund. Nikolaj nippte am Kaffee und zuckte, da er heiß war. Wieder blickte er auf den Bildschirm. Man zeigte irgendeinen Funktionär vor städtischem Hintergrund. Ein bekanntes, aber doch nicht zuordenbares Gesicht, ovale Figur, lässig aufgeknöpfte modische Jacke …

Nicht doch! Plötzlich durchfuhr Nikolaj eine heftige, aufwühlende Ahnung. Er starrte auf das Gesicht des Sprechenden. Dass er ihn nicht gleich erkannt hat! Aus dem Bildschirm blickte und sprach zu ihm sein Mitfahrer von vorhin. Stimmt es wirklich? Nikolaj kniff die Augen zusammen und öffnete sie wieder. Ja, das war der nämliche Mann. Eben der, der auf der Straße dahingetorkelt war. Da gab es keinen Zweifel. Vor Aufregung nahm Nikolaj einen großen Schluck, verbrannte sich, spuckte den Kaffee geschwind zurück auf die Untertasse und sog Luft durch seine zusammengerollten Lippen. Auf dem Bildschirm bewegte Andrej Iwanowitsch Ljamzin weiterhin energisch seinen Unterkiefer, also niemand anderer als der Regionalminister für wirtschaftliche Entwicklung. Der nunmehr – vorerst hatte außer Nikolaj niemand eine Ahnung davon – verstorbene Minister.

Ihm wurde übel und quälend drängte es ihn zur Toilette. Er stand auf und ging raschen, gleichwohl gehemmten Schrittes zum WC.