Die Pfaffenhure

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Die Pfaffenhure
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Alice Frontzek

Die Pfaffenhure

Ein Roman um Martin Luther


Zum Buch

Erfurt 1501 Martin Luther, der spätere deutsche Reformator, zieht im Alter von 17 Jahren aus seiner beschaulichen Heimat nach Erfurt, um sich dort als „Martinus Ludher ex Mansfeld“ in die Matrikel der Universität einzuschreiben. Schnell erliegt er den Versuchungen, die die Großstadt für ihre jungen Bewohner bereithält. Trinkgelage und Begegnungen mit dem weiblichen Geschlecht – das „leichte Leben“ erscheint Martin zunächst wie ein Befreiungsschlag von der harten Erziehung, die er vor allem durch seinen streng gläubigen Vater erfahren hat. Doch als er die schöne Anna – die Tochter einer Pfaffenhure – kennenlernt und die Verbindung mit ihr nicht folgenlos bleibt, brechen sich die alten Muster von Schuld und Sühne wieder Bahn. Die Suche nach dem richtigen Ausweg stellt Martins Gewissen auf eine harte Probe und bringt ihn in einen moralischen Zwiespalt …

Alice Frontzek, 1966 in Berlin geboren, ist bei Hildesheim aufgewachsen und hat in Erlangen studiert. 1993 zog sie mit ihrem Mann von Nürnberg nach Erfurt. Mit der Familiengründung entschloss sie sich zur Freiberuflichkeit, um ihren vier Kindern gerecht zu werden. So arbeitet sie als Übersetzerin, Stadtführerin sowie Dozentin für Englisch und Deutsch in der Erwachsenenbildung. 2010 begann sie mit verschriftlichten Stadtrundgängen und Thüringenbeiträgen in Zeitschriften ihre Autorenlaufbahn. Mittlerweile ist sie in Thüringen verwurzelt und widmet sich der Regionalliteratur.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Susanne Tachlinski

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung der Bilder von: © https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Lucas_Cranach_d.Ä._-_Porträt_einer_Frau.jpg

und https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Portrait_of_Martin_Luther_as_an_Augustinian_Monk.jpg und https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Vermeersch_IA_Dom_Erfurt.JPG

ISBN 978-3-8392-6906-0

Kapitel 1

1501

Hans Ludher hatte beschlossen, mit seinem ältesten Sohn Martin über Eisenach nach Erfurt zur Intitulation zu reisen. Er war stolz auf ihn. Martin hatte nicht nur in der Lateinschule im heimischen Mansfeld und in der Domschule in Magdeburg gute Leistungen erbracht. Nein, er hatte diese sogar noch übertroffen und sich in den letzten vier Jahren an der Pfarrschule St. Georg in Eisenach zu einem wohlerzogenen und gebildeten jungen Mann entwickelt. In der Grammatik und in lateinischen Versen war er seinen Gesellen weit überlegen. Natürlich war das zu einem großen Teil auch der wohlhabenden Bürgersfrau Ursula Cotta zu verdanken, die seinen Knaben, wie sie einmal schrieb, um seines hellen Singens und seiner aufrichtigen Andacht willen lieb gewonnen hatte und ihn unter Zustimmung ihres Eheherrn an ihren Tisch nahm. Ihr wollte Hans noch einmal persönlich danken.

Anfang April hatte Martin in Eisenach die Schule beendet, war nach Hause gekommen und sie hatten kaum eine Woche Zeit gehabt, sich um seinen Umzug nach Erfurt zu kümmern. Die Erfurter Universität war die größte, beste und vor allem nächste. Darüber hinaus neben der Kölner die einzige, an der nicht nur Kirchenrecht, sondern auch bürgerliches Recht gelehrt wurde – man sprach vom »Bologna des Nordens«. Martin würde ein hervorragender Jurist werden, Berater hoher Herren, vielleicht sogar der Rechtsbeistand eines Fürsten oder Herzogs. Wer konnte es schon voraussagen! Des Menschen Herz erdenkt sich seinen Weg, Gott allein lenkt seinen Schritt!

Hans goss sich zufrieden etwas von der heißen Milch auf dem Herd in seinen Becher, schnitt eine Scheibe Brot vom Laib und setzte sich damit an den großen Holztisch neben dem Ofen. Es war still im Haus. Seine Frau Margarethe, die nur »Grete« gerufen wurde, war draußen bei den Hühnern. Martin schlief noch. Ja, er sollte sich nur ruhig ausschlafen. Er hatte es sich verdient. Ein wohlhabender Rechtsgelehrter würde er werden, in eine reiche Familie einheiraten. Hier hatte Hans schon genaue Vorstellungen, wie sich das Haus des Ratsherrn von Eisleben und das seine verbinden würden. Martin würde es einmal leichter haben als sein Vater. In Eisenach hatte er höfliche Sitten gelernt. Hans hatte ihn wohlwollend beobachtet und musste sich eingestehen, dass er zu tun hatte, einen ebenso feinen Eindruck zu machen wie sein Sohn. Wir Bergbauern, dachte er, ein bräunlich Volk, die wir weder Wind noch Sonnenbrand scheuen und einen großen Teil unserer Zeit im dunklen Schacht tief unter der Erde zubringen. Er seufzte, nahm einen großen Schluck, schaute in den Sonnenstrahl, der durch das kleine Fenster fiel, und sein Gesicht nahm einen zuversichtlichen Ausdruck an. Dank seines Onkels ging es ihm jetzt recht gut. Der hatte eine eigene Hütte im Kupferbergbau, der er als Vorarbeiter vorstand. Die harte Arbeit machten nun andere. Er führte die Aufsicht, eignete sich kaufmännische Kenntnisse an, verwaltete die Bücher und war bei Vertragsverhandlungen dabei. Oft hatten sie schon im Wirtshaus zusammengesessen und geplant, wie er bald seine eigene Hütte haben würde. Ja, er wurde langsam in die bessere Gesellschaft eingeführt. Mittlerweile konnte er es sich leisten, seinen Sohn auf die Universität zu schicken. Wenigstens den ältesten.

Die schwere Holztür, die zum Hof ging, öffnete sich knarrend, und Grete, mit Holz auf dem Rücken und einem Korb Eier in der Hand, schob sie mit der Schulter weiter auf. Hans erhob sich von seinem Stuhl, hielt ihr die Tür und nahm ihr die Trage vom Rücken. »Du sollst mir doch Bescheid sagen, wenn wir Holz brauchen.«

»Ich habe es mein ganzes Leben selbst gesammelt. Es geht schon. Außerdem ist es nicht viel. Es wird heute warm. Ich brauche nur ein wenig zum Kochen. Wie wäre es mit ein paar Eiern? Komm, deck den Tisch! Ich höre schon die Kinder. Ich mache Rührei mit Kräutern, dazu Brot mit Butter. Schenk doch schon mal sechs Becher von der Ziegenmilch ein und gib in jeden einen kleinen Klecks Honig!« Sie lächelte ihn freundlich an und machte sich am Herd zu schaffen.

Wie immer trug sie ihr weißes Kopftuch streng bis in die Stirn gezogen. Kein Haar schaute hervor. Nur Hans wusste, dass sie wunderschönes langes, mittlerweile grau-blondes Haar hatte, das sie sich jeden Morgen zu einem Knoten band. Die Enden des weißen Kopftuchschals hingen rechts und links über ihre Brust. Die Furchen um ihre Lippen waren tiefer geworden. Sie hatten nicht wenig Sorgen gehabt, und wenn seine Grete etwas besonders beschäftigte, pflegte sie die Lippen zusammenzupressen und die Stirn in Falten zu legen. Bald würde er sich für sie eine Haushaltshilfe leisten können.

»Hey, schubs mich nicht!« Die zwei Mädchen hüpften die Holztreppe hinunter, gefolgt von den beiden Brüdern, die noch etwas verschlafen die Stufen hinunterschlichen. Alle hatten sie noch Schulferien und deshalb länger liegen bleiben dürfen.

»Morgen!«, sagte einer nach dem anderen und setzte sich auf die lange Bank an den Tisch. »Flegelt euch nicht hin! Sitzt aufrecht! Und es heißt ›Guten Morgen‹! Sind eure Hände sauber?« Hans war entschlossen, aus allen Kindern wenigstens Menschen mit gutem Benehmen zu machen. Er hatte in den letzten Jahren gelernt, wie alleine die Wortwahl und das Verhalten darüber entschieden, ob man in die höhere Gesellschaft aufgenommen wurde oder nicht. Er machte ein strenges Gesicht. Ließe er zu viel des Spaßes zu, verlören sie ihr Pflichtbewusstsein. »Dorothea, geh und hol Martin. Ich möchte, dass wir zusammen frühstücken!«

Dorothea stand wieder auf, lief die Treppe nach oben und pochte an die Tür zu Martins Kammer. »Aufstehen! Es ist spät. Wir sitzen schon alle am Tisch. Die Eier sind fertig!«

»Komme, danke!«, tönte es schwach von innen.

Wenig später saßen sie alle gemeinsam in der Küche, die Hände zum Gebet gefaltet.

»Wir danken dir, Herrgott, himmlischer Vater, dass Du uns Speise und Trank gegeben hast. Lass uns teilhaben am ewigen Gastmahl. Amen.«

Dann aßen sie still. Während des Frühstücks schaute Martin zu seiner Mutter herüber, die seinen Blick mit einem liebevollen Lächeln erwiderte. Wie viel besser es ihr und Vater doch nun geht, dachte er. Sie meinen es herzlich gut mit uns, mit mir. Und er erinnerte sich an die Zeit, in der sie um ihr tägliches Brot ringen mussten und seine Mutter ihn um einer einfachen Nuss willen so ohrfeigte, dass seine Nase blutete. Auch sein Vater hatte ihn einmal so geschlagen, dass er vor ihm davonlief und lange nicht mit ihm sprach, bis er wieder Vertrauen zu ihm gefasst hatte. Aber Martin wusste, dass sein Vater ihn liebte. Als er klein war, hatte er ihn immer den steilen Weg zur Schule hinauf in seinen Armen getragen, bis er ihm irgendwann zu schwer geworden war. Viel Zeit war seitdem vergangen. Die letzten vier Jahre in Eisenach hatten ihn erwachsen gemacht. Davor war er ein Jahr in Magdeburg gewesen. Er schaute zu seinen Geschwistern, die zufrieden schmatzend am Tisch saßen. Ihnen erging es richtig gut, jetzt, da es die Eltern leichter hatten.

 

Als Hans gegessen und seine Milch ausgetrunken hatte, brach er das Schweigen. »Martin, ich habe eine Antwort von Frau Cotta erhalten. Sie würde sich freuen, wenn wir sie in Eisenach besuchen kämen, bevor du dein Studium in Erfurt aufnimmst. Wir werden einen Umweg machen und ebenfalls bei Mutters Verwandtschaft vorbeischauen. Mutter möchte ihrer Schwester Honig von unseren Bienen zukommen lassen. Wir grämen uns nicht mehr, dass sie dich damals nicht aufnehmen wollten oder konnten – am Ende war es eine Fügung des Schicksals, dass du bei vornehmen Leuten aufwachsen und lernen durftest.« Er blickte nachdenklich zur Seite, lächelte und klopfte dann, sich selbst bestärkend, mit der Hand auf den Tisch. »Ja, eine glückliche Fügung! Grete, ich möchte Frau Cotta auch von deinem Honig, deiner Wurst und deinem Wein mitbringen. Wir brauchen einen Wagen für den Weg. Schließlich müssen wir Martin ein paar Sachen für sein Studium einpacken.«

Jeder, der fertig gegessen hatte, stimmte nun in das Gespräch ein. Wie Eisenach denn wäre, dass man mitfahren wolle, später vielleicht einmal, was Martin denn genau studieren würde. Und er solle noch einmal erzählen, wie er in Eisenach vor den Türen für seinen Unterhalt singen musste.

»Nun, mit mir zogen noch andere Schulgenossen mit guten Stimmen singend von Haus zu Haus. Dafür erhielten wir kleine Gaben, Parteken genannt – oder auch große Scheltworte! Ja, ich war ein richtiger Partekenhengst.« Alle brachen sie in großes Gelächter aus. Es war ein lustiges Geplapper, das sich am Tisch entspann, während Grete Teller, Becher, Pfanne und Topf reinigte. Draußen läutete die Glocke erst viermal, dann neunmal. Volle Stunde, neun Uhr, Zeit zum Fertigmachen für die Morgenandacht. Danach würde langsam alles für die Reise zusammengesucht, in Haus und Hof geholfen und das Gepäck letztmalig überprüft werden. Für übermorgen war die Abreise geplant. Ein Donnerstag. Dann könnten sie bis Samstag in Eisenach sein. Ostersonntag würden sie abends in Erfurt ankommen und am Ostermontag in der Michaeliskirche dem Ostergottesdienst, der gleichzeitig mit der Intitulation gefeiert würde, beiwohnen. Am Dienstag musste Hans wieder zurück nach Mansfeld. Dann hätte Martin noch gut zehn Tage bis zum 23. April, dem Semesteranfang.

Kapitel 2

1501

Nach der Morgenandacht am Donnerstag servierte Grete eine letzte kleine Mahlzeit für die Familie und insbesondere für Martin, damit er und Hans den langen Weg bis zum nächsten Gasthaus durchhielten, ohne hungrig zu werden. Sie hatte einen Gemüseeintopf mit Möhren, Rüben, Kohl und etwas Rindfleisch zubereitet, würzig mit einem großen Stück Markknochen, Salz und etwas Bier. Dazu Brot. Ein großes Bündel Proviant hatte sie ebenfalls geschnürt: einen Laib Brot, ein Stück Schinken, einen Käse, getrocknete Pflaumen, Wein und Bier. Und natürlich die Geschenke für Frau Cotta und ihre Schwester – Honig, Wein und Kupferbecher aus dem Verkauf von Hans’ Hütte. Außerdem Messingbesteck für Martins Studentenleben, weiße Leinenbettwäsche, zwei Leinenhandtücher, Kleidung für kalte Tage und eine Decke. Martin packte sich Schreibzeug in eine flache Holzkiste: eine Schiefertafel, Kreide, zwei Bögen Pergament, Tinte, Feder und das Lateinbuch, das er zum Abschluss in Eisenach bekommen hatte. Wenn etwas fehlte, war es auch nicht so schlimm.

»Du bist ja nicht aus der Welt. Und in den Semesterferien kommst du nach Hause!«, sagte seine Mutter, als sie ihn zum Abschied auf die Stirn küsste.

Er umarmte seine Geschwister, streichelte den Schwestern über den Kopf und setzte sich zu seinem Vater auf den Kutschbock. Hans hatte sich von seinem Onkel einen kleinen Wagen geliehen. Davor hatte er seine zwei Pferde gespannt, die er mit Martin in Eisenach und Erfurt reiten wollte, sobald sie die Kutsche untergestellt hätten.

Der Vater hatte seinen besten Umhang gewählt, seine gute Sonntagshose sowie das weiße, geplättete Leinenhemd, das er nur zu besonderen Anlässen trug. Er wollte den Anschein erwecken, als sei dies seine tägliche Kleidung. Er strengte sich an, sich in seiner ungewöhnlichen Aufmachung wie selbstverständlich zu bewegen, doch der kleinste Grashalm, der winzigste Brotkrümel machten ihn nervös. Grete strich ihm säubernd über sein Hemd und klopfte ihm den Umhang ab. Dazu musste sie sich auf ihre Zehenspitzen stellen. »Gut siehst du aus! Viel Erfolg und gute Reise. Bleibt auf den Geleitstraßen. Gott schütze euch!«, verabschiedete sie sich von Mann und Sohn. Sie reichten sich die Hand. Dann trieb Hans die Pferde an.

Die Luft war noch frisch, der Himmel blau mit ein paar Schönwetterwölkchen, die Vögel zwitscherten, die Bäume trugen ihre ersten Knospen und der Boden war trocken. Es war ein perfekter Tag zum Reisen. Martin und Hans verließen Mansfeld und fuhren hinaus in die offene Landschaft. Auf den Wegen war es noch ruhig. Die meisten Menschen blieben um Karfreitag herum zu Hause. Es wurde kürzer gearbeitet und die Familie konnte sich in Haus und Hof den Ostervorbereitungen widmen, wie Grete, die buk und schmückte, um diesmal ohne Hans mit den Kindern ein schönes Osterfest zu verbringen.

Das Hufgeklapper der Pferde und das gleichmäßige Drehen der Kutschräder auf dem teils steinigen, teils erdigen Untergrund wurden lauter, je stiller es in der Natur wurde. Es entspannte Vater und Sohn nach dem lebhaften Abschied und den aufregenden Vorbesprechungen, sodass sie in angenehmes Schweigen verfielen und jeder seinen eigenen Gedanken nachhing. Die Pferde liefen ruhig, und hin und wieder begegnete ihnen jemand mit einem Fuhrwerk oder einem Handwagen, dem sie zum Gruße die Hand hoben. Das leichte Schaukeln auf dem Kutschbock ließ Martins Augen immer wieder zufallen, bis er beim nächsten Holpern erneut aufschreckte und sich zwang, wach zu bleiben. Schließlich wollte er nicht von der Kutsche fallen.

Mit zwei Zwischenübernachtungen in Sondershausen und Langensalza erreichten sie Eisenach am Samstagmittag. Zunächst bezogen sie einen Gasthof am Georgentor, wo sie die Pferde ausspannen und die Kutsche unter einem Dach abstellen konnten. Gegen einen Obolus wurden Hans’ Brauner und Martins Rappe versorgt. Dann machten sich die Männer auf den Weg zum Haus der Cottas.

Martin kannte sich aus und lief seinem Vater einen Schritt voraus. »Immer in Richtung Georgskirche. Da ist der Turm!«, sagte er.

»Ich weiß, schließlich bin ich auch nicht das erste Mal hier«, versuchte Hans mitzuhalten.

Sie kamen auf den weiten Marktplatz mit dem Trinkbrunnen, der großen Kirche, die Martin regelmäßig zu den Gottesdiensten besucht hatte, und dem Rathaus. Ringsherum standen stattliche Häuser, und eins davon war das der Familie Cotta. Es hatte drei Stockwerke und einen großen Dachboden. Der untere Bereich war massiv aus Stein und weiß getüncht, darüber befand sich verziertes Fachwerk, grau gestrichen. Es gab viele Fenster, dekorativ geschnitzte Türen und ein großes Tor. Martin fasste seinen Vater am Ärmel und zog ihn schneller vorwärts. Sie standen vor der schweren braunen Holztür mit dem Löwenklopfer und der Schelle an der Seite. Martin zog an der Schnur. Dann hörten sie Schritte, das Zurückschieben eines Riegels – die Magd öffnete. Es war Marie, die Martin bei seiner Abreise noch eine Extraportion Wurst zugesteckt hatte. Sie war sichtlich erfreut. Man hatte die beiden schon erwartet, denn nun erschien Frau Cotta in der Tür, gefolgt von ihrem Mann Conrad und einer Kinderschar. »Kommen Sie herein, Herr Ludher, was für eine Freude, dich so schnell wiederzusehen, Martin. Herein, herein!« Frau Cotta machte eine einladende Geste.

»Guten Tag, Hans. Grüß dich, Martin!«, meldete sich nun auch Conrad Cotta zu Wort, der Hans bei dessen Besuch vor einem Jahr das Du angeboten hatte.

Martin begrüßte die Mädchen, die ihm fast wie Schwestern ans Herz gewachsen waren. Die Älteste, fast vierzehn, zog ihn etwas schüchtern in Richtung guter Stube. Sie hieß Clara und trug ihre langen Haare zu zwei Zöpfen geflochten, die ihr hübsches Gesicht umspielten. Martin und sie hatten sich fast ein wenig ineinander verliebt. Das glaubte er jedenfalls, und ihre Zaghaftigkeit heute bestätigte ihm seinen Verdacht. Gesprochen hatten sie darüber nie, und natürlich konnte daraus nichts werden, denn damit hätte er Frau Cottas Vertrauen missbraucht, der er nichts als Dankbarkeit schuldete.

Sie gingen in die große Stube. Der Boden dort hatte breite, gewachste Holzdielen, und die Wände wiesen bis zur Hälfte eine Holzvertäfelung auf, die mit einer umlaufenden, durch Schnitzereien verzierten Leiste abschloss. Es gab einen Kachelofen, sowie einen hohen schmalen Holzschrank neben der Tür, der optisch jenen Teil des Raumes abtrennte, in dem ein großes Himmelbett stand. Sein grüner, schwerer Samtvorhang war bis auf einen Spalt zugezogen, durch den man kostbaren Bettstoff, ebenfalls in Grün mit Mustern, erkennen konnte.

Der Esstisch stand in der Mitte des Zimmers. Die Magd Marie stellte gerade eine große Zinnschüssel mit einer silbernen Kelle darauf. Es roch nach warmer, würziger Suppe. Neun Zinnteller waren eingedeckt.

Die drei Kleinsten setzten sich auf eine mit einer bunten Decke belegte Bank an das eine Ende des Tisches, Frau Cotta, ihre Tochter Clara und die Großmutter, die gerade hinzugekommen war, an eine der Längsseiten, ihnen gegenüber Martin und Hans, an den Kopf des Tisches Conrad, der Hausherr.

»Bitte nehmt Euch von dem Wein!«, forderte Frau Cotta die Gäste auf.

Sie reichten die Weinkanne herum, den Kindern schenkte die Magd ein leichtes Bier ein.

»Ich möchte mich noch mal sehr herzlich bei Euch bedanken. Martin hat sich bei Euch so wunderbar entwickelt. Ich weiß nicht, was aus ihm geworden wäre, hätte er nicht Eure freundliche Aufnahme erfahren. Er weiß sich zu benehmen wie ein feiner Herr«, wandte Hans sich an die Gastgeberin.

»Ja, er hat sich sehr gemacht. Ich sehe ihn noch vor mir stehen, ganz schüchtern, meist die Augen gesenkt, nervös mit den Fingern spielend. Aber sein ehrlicher Blick, die klare Stimme, seine ernsten Gebete und seine schnelle Auffassungsgabe sind mir gleich positiv aufgefallen. Auch sein Flötenspiel zeigte Hingabe und Musikalität. Es hätte mir leidgetan, so ein Potenzial ungefördert verloren gehen zu lassen. Seid ganz unbesorgt und fühlt Euch nicht verpflichtet. Er war eine Bereicherung, ein Quell der Freude und auch hier und da eine große Hilfe im Haus.« Frau Cotta nickte Martin lächelnd zu.

Hans öffnete seinen Säckel, den er neben seinen Stuhl gestellt hatte. »Meine Frau schickt ein paar gute Dinge zum Dank: selbst gemachten Honig, eine Flasche unseres Weins – wir haben seit einem Jahr einen kleinen Weinberg – und geräucherte Wurst der letzten Schlachtung, eine Spezialität.«

»Vielen Dank! Wir werden uns alles schmecken lassen. Marie, bring diese Köstlichkeiten bitte in die Vorratskammer. Aber nun lasst uns ein Tischgebet sprechen. Martin, gib uns die Ehre!«

Martin faltete die Hände, schloss die Augen und sprach: »Speis uns, Vater, Deine Kinder, tröste die betrübten Sünder, sprich den Segen zu den Gaben, die wir jetzt hier vor uns haben, dass sie uns zu diesem Leben, Stärke, Kraft und Nahrung geben, bis wir endlich mit den Frommen zu der Himmelsmahlzeit kommen. Amen.«

»Danke, das war sehr schön. Greift zu!«, bat Frau Cotta.

Sie ließen sich die Suppe schmecken, die gefolgt wurde von einem Zanderbraten mit Gemüse und Brot. Zum Nachtisch gab es Grießbrei mit geschmolzenem Zucker und etwas Zimt. Das Schweigegebot während des Essens wurde heute nicht so streng genommen. Nur mit vollem Mund durfte nicht gesprochen werden. Bei den Jüngeren gab es viel zu kichern, was mit einem bösen Blick des Vaters quittiert wurde. Die Erwachsenen, zu denen Martin nun gezählt wurde, unterhielten sich noch lange am Tisch über das anstehende Studium, über Erfurt, über den Transport ihrer Briefe mit Boten und dem Postdienst einiger Zünfte, über das kleine Eisenach mit seinen dreitausend Einwohnern, über Magdeburg mit den fast fünfzehntausend Einwohnern und darüber, was Martin besser gefiele.

»Nun, eine große Stadt ist natürlich sehr aufregend, es gibt viel zu entdecken, viel Neues und Merkwürdiges. In einer Stadt wie Eisenach fühlt man sich sicher, alles ist schnell vertraut. In Magdeburg hatte ich einst ein Erlebnis, das ich bis heute nicht vergesse: Ich habe mit diesen meinen Augen einen Fürsten von Anhalt gesehen, der in der Breiten Straße zu Magdeburg in einer Barfüßerkutte umherging und um Brot bettelte. Auf seinem fast bis zum Boden gekrümmten Rücken trug er einen Sack wie ein Esel. Er sah aus wie ein Totenbild, nur Haut und Knochen. Ich weiß, wie ich vor Andacht erstarrte und mich meines eigenen Standes, der ja weiß Gott nicht hoch ist, schämte. Ich hatte Angst, dass diese Frömmigkeit womöglich die einzig Richtige ist. Seitdem ist mir Magdeburg unheimlich.«

 

Alle lachten und schenkten sich erneut ein.

»Nein, die zehn Gebote muss man einhalten, die Kirche besuchen und aufrichtig beten. Meint das Schicksal es gut mit einem, dann soll man den Armen geben und mit Ablässen die Kirche unterstützen. Wem nützt es, wenn man sich selber zu Tode darbt? Hat jemand Hände zum Arbeiten oder einen Kopf zum Denken, so soll er sie auch nutzen. Nicht umsonst hat Gott einen jeden von uns mit speziellen Gaben gesegnet!«

Alle stimmten Conrad zu. Er war ein großer, kräftiger Mann mit kantigem Gesicht und einem Schnurrbart. Seine Kleidung war aus feinem Stoff in Tannengrün. Er war Obervierherr von Eisenach, niemand bezweifelte seine Autorität und die Unumstößlichkeit seiner Aussagen.

Ursula Cotta ergänzte: »Ja, diese Unsicherheit habe ich bei dir bemerkt, aber nun gehst du aufrecht, kannst einem in die Augen sehen, hältst deine Finger still«, hier zwinkerte sie Martin lächelnd zu, »und du weißt, dass rechte Frömmigkeit Aufrichtigkeit, Fleiß und regelmäßiges Beten bedeutet. Nichts, wovor man sich fürchten muss.«

Ursula war jünger als Martins Mutter, vielleicht Mitte dreißig. Sie war schlank, etwa einen Meter fünfundsechzig groß, hatte feine Gesichtszüge, eine kleine, sehr gerade Nase, blaue Augen, wohlgeformte Lippen und eine helle, glatte Haut. Ihr Gesicht war umrahmt von einem weißen Schleier mit einem breiten Spitzensaum. Sie trug ein langes, glatt herunterfallendes weinrotes Samtkleid mit weinrot-wollweiß gemusterten langen Ärmeln. Um die Hüfte hatte sie einen dünnen Gürtel gebunden, an dem ein Samtsäckchen hing, in welchem sie ihr Taschentuch und ihren Rosenkranz, Haarnadeln und immer ein paar Münzen aufbewahrte.

Hans war still geworden. Sein Bauch krampfte ein wenig, denn bruchstückhaft fiel ihm ein, wie er in Eisleben einmal seinen Knecht so übel zugerichtet hatte, dass dieser nicht mehr aufgestanden war. Der Schurke hatte geklaut und es nicht zugeben wollen. Trotzdem war Hans’ Ruf danach angeschlagen gewesen. Er hatte die abfälligen Blicke der Leute nicht länger ertragen und mehrere Ablässe gekauft. Irgendwann musste es auch mal gut sein, fand er, es war immerhin ein Unfall gewesen! Auf den Vorschlag seines Onkels waren sie schließlich nach Mansleben umgezogen. Ein Jahr, nachdem Martin geboren worden war. Am 10. November des Nachts war der Kleine zur Welt gekommen und gleich am nächsten Tag auf den Namen des Heiligen Martin getauft worden. Ja, er, Hans, war nicht ganz unschuldig daran, dass Martin Frömmigkeit mit Angst verband. Wie oft hatte er sich nicht anders zu helfen gewusst, als seinen Sohn damit einzuschüchtern, dass Gott ihn bestrafen würde, wäre er nicht gehorsam! Wie sollte er ihn sonst erziehen? Vielleicht hätte er ihm stattdessen öfter sagen sollen, welche Dinge Gott mit Wohlwollen sah … einfach von der anderen Seite betrachtet. Doch tatsächlich war der Teufel überall. Als seine Frau eine neugeborene Tochter verlor, waren sie sich sicher gewesen, die Nachbarin habe sie verflucht, und freuten sich, als diese erschlagen aufgefunden und wahrscheinlich vom Teufel geholt worden war. Ja, das hatte Martin sicher alles Angst gemacht. Aber seine eigenen Eltern hatten Hans die Regeln des Lebens auch nicht anders vermittelt.

Und? War er nun nicht auf dem besten Wege, doch zu etwas zu kommen? Immerhin war er ordentlich gekleidet, sein Gesicht war gewaschen und geölt, damit die Falten und die trockene Haut nicht verrieten, welch harte Arbeit lange Zeit sein Leben bestimmt hatte. Er war zweiundvierzig Jahre alt. Ein Mann in den besten Jahren! Was pflegte er immer zu sagen: »Wer im zwanzigsten Jahr nicht schön, im dreißigsten nicht stark, im vierzigsten nicht klug und im fünfzigsten nicht reich ist, der darf danach nicht hoffen.« Klüger war er geworden, und reich zu sein, war er auf dem besten Wege. Er unterbrach seine Gedanken. Seine zeitweiligen Gewissensbisse hatten hier jetzt nichts verloren.

Frau Cotta brachte gerade drei Flöten und bat Martin, mit ihr und Clara die Lieder zu spielen, die sie gemeinsam geübt hatten. Hans war sehr beeindruckt und musste sich zusammenreißen, dass ihm nicht vor Rührung die Tränen kamen. Martin spielte wirklich schön – das hatte er gar nicht gewusst!

Als die Kirchturmuhr von St. Georg viermal läutete, verabschiedeten sie sich und besuchten Gretes Schwester Elisabeth. Nein, sie würden nicht zum Abendbrot bleiben, beschieden sie die Tante. Sie wären müde, müssten noch nach den Pferden sehen und morgen in aller Herrgottsfrühe nach Erfurt aufbrechen. Aber ob Elisabeth sie nicht noch zum Sechs-Uhr-Gottesdienst begleiten wolle, um für gutes Geleit für ihren Neffen und ihren Schwager auf ihrer Reise und einen guten Studienbeginn für Martin zu bitten?

Elisabeth willigte ein, und so gingen sie gemeinsam zurück zum Marktplatz zur Kirche, wo sie der Familie Cotta in den vorderen Bänken zuwinkten. Die Cottas gehörten zu den Bürgern, die dort ihren reservierten Platz hatten. Elisabeth, Hans und Martin standen mit vielen anderen Eisenachern etwas weiter hinten, knieten sich zum Gebet auf Bahnen von Decken, die vor ihnen lagen, und lauschten der lateinischen Predigt des Priesters. Während Hans die Bilder in den Kirchenfenstern betrachtete und das eintönige Singsang des Geistlichen ihn müde werden ließ, freute sich Martin, dass er alles verstand und hier und da Grammatikfehler des Priesters erkannte. Zweimal musste er gar innerlich lachen, denn der Prediger verwechselte ähnlich klingende lateinische Ausdrücke, die aber gänzlich unterschiedliche Bedeutungen hatten. So wollte er einen Heiligen »celleberimus«, der Gefeiertste, nennen, sagte stattdessen aber »cellerimus«, was den Heiligen zum Schnellsten machte. Martin verkniff es sich, laut loszuprusten, und schaute sich um. Niemand sonst schien den Fehler bemerkt zu haben, sein Lateinlehrer war nicht zu sehen, zwei alte Klassenkameraden auf der anderen Seite waren damit beschäftigt, die anwesenden Mädchen mit Mimik und Gestik zu kommentieren, und hatten offenbar nicht zugehört. Na ja.

Nach der Kirche wurde sich abermals, aber diesmal etwas kürzer, von den Cottas und von Elisabeth und anderen Bekannten verabschiedet. Dann gingen Vater und Sohn zügig in ihr Gasthaus, aßen noch einen kleinen Happen, tranken jeder einen Krug Bier und schliefen bis zum ersten Hahnenschrei.