Ich will nochmal!

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Ich will nochmal!
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Gewidmet meiner Sissy

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2021 Verlag Anton Pustet

5020 Salzburg, Bergstraße 12

Sämtliche Rechte vorbehalten.

Lektorat: Martina Schneider

Layout und Produktion: Tanja Kühnel

eISBN 978-3-7025-8081-0

Auch als gedrucktes Buch erhältlich

ISBN 978-3-7025-1012-1

www.pustet.at

Bildnachweis:

Cover u. S. 2/3: frescomovie, Doczky, Picsfive, Dinga, JosepPerianes sowie tichr; alle shutterstock.com; S. 64 Raul Bal/shutterstock.com; Karte S. 6/7 Alfonso de Tomas/shutterstock.com

Alle anderen Bilder und Illustrationen (Credentials, Umschlag Innenseiten): Alfred Berghammer.

INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort

Die Anreise

25. Oktober: Die Pyrenäenüberschreitung

26. bis 28. Oktober: Navarra

29. Oktober bis 1. November: Rioja

1. bis 2. November: Kastilien und León

2. bis 4. November: Burgos

4. bis 6. November: Palencia

6. bis 10. November: León

11. bis 12. November: Das Bierzo

12. bis 18. November: Galicien

Nachbetrachtungen



Auf schönen Wegen über die Pyrenäen.

VORWORT

Vor zehn Jahren bin ich unmittelbar nach meiner Pensionierung von Salzburg zu Fuß den Jakobsweg nach Santiago de Compostela gepilgert. Wie es mir dabei gegangen ist, steht im Reisetagebuch eines Pilgers (Verlag Anton Pustet, 2010) beschrieben.

Die drei Monate dieser Reise waren die intensivsten und eindrücklichsten meiner bis dahin zurückgelegten sechs Lebensjahrzehnte. Jeder Tag brachte neue Eindrücke auf den Routen der schönsten Regionen Europas. Ich bin eine große Strecke des Weges allein gegangen, den kleineren Teil hat mich meine Frau begleitet, doch einsam habe ich mich nie gefühlt. Es begegneten mir so viele Menschen aller möglichen Nationalitäten. Es gab viel zu lachen, noch mehr zu staunen und unendlich viel Zeit, zu mir selbst zu finden. Ich habe Freundschaften geknüpft, die teilweise immer noch bestehen. Ich kann diese drei Wochen mit einem ganzen Lebensweg vergleichen, den ich mit allen Höhen und Tiefen wie in einem Zeitraffer erlebt habe, immer mit einem Ziel vor Augen, das die Sehnsucht stärker werden lässt.

Und wer möchte nicht eine derart wunderbare Zeit des Lebens noch einmal wiederholen? So wurde über die Jahre in mir der Wunsch immer größer, noch einmal den Jakobsweg zu beschreiten. Diesmal sollte es der Camino Francés sein – die Hauptroute der Pilger, die ich beim letzten Mal, wo es möglich war, gemieden hatte. Diese führt von den französischen Pyrenäen bis Santiago de Compostela. Die Route ist während des Sommerhalbjahres ziemlich frequentiert. Deshalb wählte ich die Zeit des Spätherbstes in der Hoffnung, dass es mit den Pilgermassen nicht so arg sein würde. Ich habe schön behutsam während des Jahres 2019 immer wieder über dieses Thema mit Sissy, meiner Frau, gesprochen. Schließlich war sie damit einverstanden, dass ich allein gehe, möglicherweise aus Erleichterung darüber, dass ich sie nicht drängte mitzugehen.

Sie und viele Freunde und Familienmitglieder fragten mich, warum ich diese Anstrengung noch einmal auf mich nehmen wollte. Und – offen gesagt – ein bisschen fragte ich mich das auch selbst. Zum Teil hatte das wahrscheinlich mit einer gewissen Torschlusspanik zu tun. Ich war vor zehn Jahren so begeistert vom Pilgern gewesen, hatte mir für die folgenden Jahre einige Routen vorgenommen und auch die Pilgerführer schon besorgt, die seither in meiner Bibliothek verstauben. In den ersten beiden Jahren nach meiner großen Pilgerreise habe ich meiner Frau zwar ausgesuchte Strecken des Jakobswegs gezeigt, unter anderem das Inntal, die Via Podiensis (von Genf nach Le Puy) und den österreichischen Jakobsweg von der slowakischen Grenze bis Maria Plain. Aber bei dieser letzten Unternehmung machte mir mein linkes Sprunggelenk, das ich mir bereits mit 17 Jahren nachhaltig lädiert habe, deutlich, dass nun einmal Schluss sein musste mit solchen Strapazen.

Vor drei Jahren habe ich mir dieses Sprunggelenk operativ in Zürich sanieren lassen. Das Gelenk wurde neu aufgesetzt und mit zwei Schrauben versteift. Lange wusste ich nicht, ob ich überhaupt jemals wieder Sport treiben oder im schlimmsten Fall vielleicht gar nicht mehr ordentlich gehen könnte. Ich habe es wieder gelernt und durch Spezialschuhe mit einer Abroll-Sohle sogar wieder einen annehmbaren Sport-Level erreicht. Soviel zur Vorgeschichte.

Jetzt wieder zur Torschlusspanik. Ich bin 70 geworden und mir wurde bewusst, dass mir nicht mehr allzu viel Zeit bliebe, wenn ich wirklich noch einmal eine längere Pilgerreise machen wollte. Dazu kommt, dass ich bei meiner Reise vor zehn Jahren neben den bereits geschilderten beglückenden Erfahrungen einige spirituell besonders berührende Augenblicke erlebt habe. Meine Hoffnung war, dass ich auch bei dieser Pilgertour wieder besonders in die Sphären der Gottesnähe eintauchen könnte. Ob daraus etwas geworden ist, wird erst am Schluss dieses Reisetagebuchs verraten. Am Ende werde ich auch eine Gesamtbilanz ziehen: Hat es sich gelohnt, die Strapazen eines so langen Pilgerwegs im Spätherbst auf mich zu nehmen?


Blick zurück auf die Morgennebel in Frankreich.


Altstadt von Bayonne. Vom Atlantik in die Pyrenäen.

DIE ANREISE

Am 24. Oktober ging es los. Nur besonders gute Kenner meiner Person haben durchschaut, dass dieses Datum etwas mit Fußball zu tun hatte: Am Mittwoch, den 23. Oktober besuchte ich mit anderen Fußball-verrückten Familienmitgliedern das Champions League Gruppenspiel Salzburg gegen FC Napoli. Kurz überlegte ich, ob ich den für die Anreise notwendigen Zwischenstopp in Paris mit einer Übernachtung und entsprechendem Freizeitprogramm verbinden sollte. Aber allein eine Stadt zu besichtigen oder in diverse Lokale einzukehren ist nicht so meine Sache. Geteilte Freude ist für mich doppelte Freude, deshalb sollte Paris einer späteren Reise mit meiner Frau vorbehalten bleiben. Ich hatte aber zumindest vor, die zweistündige Pause zwischen Flug und Zug für ein stimmiges Mittagessen zu nützen. Wie naiv!

Am Donnerstagmorgen brachte mich Sissy zum Flughafen Salzburg, wo ich in das Flugzeug nach Frankfurt einstieg, um von dort noch am Vormittag nach Paris, Flughafen Charles de Gaulle, zu gelangen. Die Flüge liefen routiniert und pünktlich ab. Ich fragte mich nur, was die Leute alle vorhatten, die zwei Flugzeuge am Wochentag außerhalb der Reisesaison fast bis zum letzten Platz füllten.

War das etwa unsere Antwort auf die Klimaerwärmung? Ich unterdrückte das aufwallende Gefühl der „Flugscham“, denn Ende Oktober hat man keine Zeit zu verlieren, wenn man dem nahenden Winter entkommen möchte.

Um etwa dreiviertel zwölf war ich am Flughafen Charles de Gaulle in der Nähe von Paris gelandet. In rund eindreiviertel Stunden würde ein TGV, ein französischer Hochgeschwindigkeitszug, vom Bahnhof Paris Montparnasse nach Bayonne abfahren. Für diesen Zug hatte mir eine freundliche Dame vom Schalter der Deutschen Bahn in Salzburg einen Sitzplatz reserviert. Ohne Reservierung kann man nicht mit dem TGV fahren. Interessanterweise hatte man mich beim ÖBB-Schalter zu den deutschen Kollegen verwiesen, weil man diese Fahrt dort wesentlich billiger buchen konnte.

 

Aber wie sollte ich nun die rund 40 Kilometer vom Flughafen Charles de Gaulle zum Bahnhof Paris Montparnasse kommen? Das sicherste und schnellste wäre zweifellos ein Taxi gewesen. Aber 40 Kilometer und so viel Zeit! Ich schaute mich also nach einem Bus um. Siehe da, eine Linie fuhr direkt vom Flughafen über den Gare de Lyon zum Gare Montparnasse, Zeitbedarf rund eine Stunde. Genau den hatte ich gebraucht! Ich kaufte mir am Automaten eine Karte. Der Bus kam pünktlich und ich machte es mir auf einem Sitz in der Mitte gemütlich. Wir fuhren los, Autobahnen, Schnellstraßen, Abzweigungen und so weiter. Wegen des starken Verkehrs ging es teilweise nur sehr zäh voran. Ich konnte keine Busspuren entdecken, wo wir schnellere Fahrt gehabt hätten. Aber was soll’s, dachte ich, es ist ja noch genug Zeit! Nach etwa einer Stunde stieg meine Nervosität an wie die Temperatursäule an einem Hochsommertag. Gegen 13.15 Uhr erreichten wir den Gare de Lyon, die Station vor Gare Montparnasse. Während andere Busbenützer in aller Ruhe ausstiegen, ging ich zum Fahrer nach vorn und zeigte ihm meine Karte für den TGV. Ob sich das wohl ausginge? Er meinte, das wäre „dure“ (hart). Nun was hätte es bedeutet, wenn ich den TGV nicht erreiche: Ich hätte mir eine neue Reservierung besorgen müssen, für morgen oder übermorgen. Mein bereits gebuchtes und bezahltes Quartier in Saint-Jean-Pied-de-Port wäre verfallen. Ich hätte mir in Paris ein Hotelzimmer besorgen müssen, für wie viele Nächte? Das alles in einer Sprache, die ich nur „un peu“ (ein wenig) beherrsche. Schon zu Beginn der Reise so eine Komplikation hatte ich nicht erwartet.

Meine Nervosität hatte sich deshalb in eine kleine Panik ausgewachsen. Ich sauste nach hinten zu meinem Sitz, schnappte meinen Rucksack und hastete zum Ausgang nach vor. Rufe von hinten! Ich hatte meine Regenjacke verloren. Also noch einmal zurück, Regenjacke holen. Außerhalb des Busses musterte ich den vorbeiflutenden Verkehr. In den Filmen muss man nur mal mit den Fingern schnippen (laut pfeifen kann ich nicht) und ein Taxi hält. Aber bald merkte ich, dass das aussichtlos war. Aber halt, hinter mir war ja der Bahnhof. Dort warteten geduldig zwei lange Reihen von Taxis. Ich eilte nach vorn – lange Schlange – und zeigte dem ersten Fahrer mein TGV-Ticket und fragte ihn, ob er das schaffen könne. Zu meiner großen Erleichterung meinte er, das sei nicht unmöglich. Also nichts wie hinein und los ging es.

Die große Gemeinheit war, dass viele mit Ampeln geregelte Kreuzungen und Fußgängerübergange folgten und diese generell auf Rot schalteten, sobald wir in deren Nähe kamen. Der Fahrer beachtete das Rotlicht sehr genau, aber sonst fuhr er wie bei einer Verfolgungsjagd in einem Thriller. Wenn möglich, jagte er die Geschwindigkeit bis 100 km/h hinauf. Zuletzt, kurz vor dem Gare Montparnasse gibt es für jede Richtung eine Fahrbahn. Unsere war mit einer wartenden Kolonne besetzt. Da nahm er einfach die für den Gegenverkehr vorgesehene und erzürnte damit den Fahrer eines entgegenkommenden Taxis. Fünf Minuten vor Abfahrt des TGV erreichten wir den Bahnhof. Ich war dem Taxifahrer unendlich dankbar – dafür, rechtzeitig und dennoch lebendig angekommen zu sein – und rundete den Fuhrlohn großzügig auf.

Am Bahnhof wuselten die Massen hin und her. Wo war der richtige Bahnsteig? Nach kurzer Orientierungsphase fand ich ihn. Aber halt, Kontrolle! Ohne Ticket kann man nicht auf den Bahnsteig. In welche Tasche meines Rucksacks hatte ich nur das Ticket gesteckt. Ein Griff … und die Sucherei ging los. Aber so viele Möglichkeiten gab es ja Gottseidank nicht, ich fand das Ticket, schnell in den Zug hinein – hurra, ich hatte es geschafft! Ich suchte mir den reservierten Sitz, ein wundervoller Fensterplatz in Fahrtrichtung an einem schönen Tisch, ließ mich nieder und der Zug rollte an.

Die Zugfahrt war herrlich entspannt, meine Nerven hatten sich nach der stressigen Anreise schnell wieder erholt. Und die quengelnden Kinder in unmittelbarer Nähe störten mich überhaupt nicht. Einige Dinge fielen mir aber auf: Es gab keine Fahrscheinkontrolle. Logisch: erstens war der Zug überfüllt und zweitens hatte es ja am Bahnsteig eine Kontrolle gegeben. Speisewagen gab es leider auch keinen, nur ein Buffet, wo man kleinere Snacks und Getränke beziehen konnte, aber nur mit Karte, Bargeld ist kein vorgesehenes Zahlungsmittel mehr. Wegen meiner Gluten-Sensitivität war die Auswahl sehr klein, so bestand mein Mittagessen diesmal aus Kartoffelchips, Schokolade und Wasser.

In Bayonne hatte ich eineinhalb Stunden Zeit bis zur Abfahrt des Regionalzuges, der mich endlich an den Ausgangspunkt meiner Pilgerreise bringen sollte. Ich schlenderte durch die Stadt in der Nähe des Atlantiks, deckte mich mit Proviant für den nächsten Tag ein und gönnte mir eine Erfrischung in einer kleinen Bar. In Ruhe bestieg ich den Regionalzug nach Saint-Jean-Pied-de-Port. Nicht viele wollten dorthin, aber einige hatten so wie ich große Rucksäcke mitgebracht. Endlich waren wir in Saint-Jean. Alles lag im Dunkeln, ein schon am frühen Abend verschlafenes Nest. Dank Google Maps auf meinem Handy fand ich leicht die Pension, wo ein Zimmer für mich reserviert war. Sonst wäre es in der dunklen Einsamkeit schwierig gewesen, denn auf den Straßen war niemand mehr zu sehen. Was hat man nur früher ohne Smartphone gemacht? Die Rezeption der Pension war noch besetzt. Ich bekam einen Code zu einem Schlüsselkasten, in dem mein Zimmerschlüssel verwahrt war. Das hörte sich einfach an, war es aber nicht. Ich versuchte alles Mögliche, aber konnte nicht entdecken, wo das Kästchen aufging. Zum Glück nahte die Hausherrin und alles war – gewusst wie – dann doch ganz einfach. Das Zimmer samt Bad hatte schon lang vergangene Zeiten gesehen, war aber sauber und auch sonst ganz in Ordnung.


Am Bahnhof von Bayonne: Umsteigen vom Schnell- in den Bummelzug.

In unmittelbarer Nachbarschaft ließ ich mich nach dem Bezug meines Quartiers in einem Restaurant nieder. Der Kellner fragte mich, ob ich Englisch oder Französisch vorzöge. Voll Stolz sagte ich: „Französisch.“ Ich kann zwar nicht gut Französisch, aber die für einen Touristen notwendigen Vokabel beherrsche ich ausreichend. Trotzdem war es immer ein wenig spannend, was bei meiner Bestellung herauskommen werde. Ich bekam erfreulicherweise die Forelle und die Creme Brûlée, die ich mir vorgestellt hatte. Bei einem Glas Wein lehnte ich mich mit einem Gefühl satter Zufriedenheit zurück: Es war alles gut gegangen und morgen sollte es endlich losgehen!


Saint-Jean-Pied-de-Port im Morgengrauen. Start der Pyrenäenüberquerung.

DIE PYRENÄENÜBERSCHREITUNG

Freitag, 25. Oktober: Am Morgen wachte ich voller Tatendrang wie üblich um sechs Uhr auf. In meiner Pension gab es nur einen Getränkeautomaten, aber kein Frühstück. Nicht verzagen, das Smartphone fragen. Das Internet verriet mir ein Café ganz in der Nähe, das auch schon geöffnet hatte. Vorsichtig ging ich durch ein stockdunkles Gässchen und betrat das Lokal für Frühaufsteher und Nachtschwärmer. Die hübsche Kellnerin war erstaunt über meinen Wunsch nach einem Frühstück ohne Brot, bis sie mein mitgebrachtes entdeckte. Sie zeigte sich beeindruckt und nahm es gleich mit. Auf einem Teller erhielt ich es getoastet zurück, zusammen mit Butter und Kaffee. Nach dem Frühstück ging es zuerst zurück in die Pension, um meinen Rucksack aus dem Zimmer zu holen. Dann suchte ich die Gasse auf, wo der Camino Francés beginnt. Dort stellte ich fest, dass das Pilgerbüro bereits geöffnet hatte. Zwei Freiwillige schoben dort in der frühen Morgenstunde schon Dienst. Ich wollte eigentlich nur einen Pilgerstempel, bekam aber zusätzlich detaillierte Anweisungen über den Wegverlauf, die ich eigentlich nicht benötigt hätte, mit. Ich ließ sie über mich ergehen, weil ich den Idealismus der Herren von der Jakobsweg-Gesellschaft zumindest durch Zuhören honorieren wollte.

Danach ging es aber nun wirklich endlich los: Romantisch und verwunschen wirkte das mittelalterliche Saint-Jean-Pied-de-Port beim Verlassen durch die Rue de la Citadelle.

Die Dunkelheit wich der Morgendämmerung und die Wiesen waren noch von grauen Nebeln verhangen. Ich war keineswegs allein bei meinem frühen Marsch. Eine Menge Pilgerinnen und Pilger strebte wie ich in einem stetigen Bergauf dem Lepoeder-Pass zu. Etwa die Hälfte davon waren Asiaten, einige davon mit Mundschutz. Wollten sie sich vor der reinen, aber zweifellos taufrischen Bergluft schützen? Manche überholten mich und viele wurden von mir überholt. Ich schätze, dass mindestens 100 Pilger an diesem Tag mit mir unterwegs waren. Die Kulturlandschaft mit Wiesen und Feldern blieb allmählich zurück und nahezu baumlose Hügel und Kuppen füllten den weiten Horizont. Das gedämpfte Licht des Spätherbsts betonte die unterschiedlichen Pastelltöne der einzelnen Landschafts-Schichten.


Ein Stein erinnert an das Jahr 778, in dem Roland hier den Heldentod starb.

Ein windstiller Tag mit ungetrübtem Sonnenschein und milden Temperaturen erfreute unsere Pilgerherzen. Auf den weiten Hängen lagerten und grasten große Schafherden und immer wieder Pferde, die eine unbeschränkte Freiheit zu genießen schienen. Getrübt wurde die Idylle nur durch Jäger, die, mit Geländefahrzeugen angereist, in weitflächigen Treibjagden Wild aufzustöbern suchten. Einmal knallte so nahe bei mir ein Schuss, dass ich versucht war, mich zu ducken, um der Kugel zu entgehen. Es dürfte aber nicht so arg gewesen sein, denn ich hörte sie weder fliegen noch irgendwo einschlagen.


Schafherde in der Freiheit der Pyrenäen.

In der Nähe des höchsten Punktes auf 1250 Meter spendet die Rolandsquelle ihr köstliches Wasser. Die Rolandsage hatte mich schon als Bub in ihren Bann gezogen. Es ist ein französisches Versepos aus dem 11. Jahrhundert, welche das heldenhafte Ende Rolands besingt. Karl der Große war 778 mit einer großen Streitmacht von einem ziemlich erfolglosen Kampf gegen die Mauren nach Frankreich zurückgekehrt. Die Nachhut unter dem Ritter Roland geriet in dieser Gegend in einen Hinterhalt der Basken, in dem alle, zuletzt auch der tapfere Roland, niedergemetzelt wurden. Eine tragische Hauptrolle spielte dabei nach der Sage das riesige Horn Olifant, das, wenn es rechtzeitig geblasen worden wäre, die Hauptstreitmacht zu Hilfe geholt hätte. So kündete es am Schluss nur mehr vom bevorstehenden Tod der Helden. An diese Sage erinnert auch ein Gedenkstein am Ibaneta Pass, bei dem man am Abstieg vorbeikommt.

Heldentod ist heute keiner mehr zu sterben, zumindest nicht hier, aber an ausgewählten Stellen mit WLAN-Empfang für Notfälle, wird in mehreren Sprachen auf die Möglichkeit, Hilfe zu rufen, hingewiesen. Verständlich, wenn man bedenkt, dass sich an manchen Tagen hunderte Pilger an diese Gebirgsüberquerung wagen, viele nicht in einem geeigneten körperlichen Zustand, die gut 1400 Höhenmeter im Anstieg und 24 Berg-Kilometer bewältigen müssen. Manche haben aber auch große Scheu vor den Strapazen dieser Gebirgsüberquerung und nehmen einen Umweg, der mit einer zusätzlichen Nächtigung verbunden ist.

Die Wege sind problemlos zu beschreiten, deshalb sah ich auch viele Pilger oder Wanderer mit Sportschuhen. Ich kam mir mit meinen Bergschuhen fast etwas over-equiped vor. Bei Nässe, Nebel oder schlechtem Wetter würde die Sache aber sicher wieder ganz anders aussehen, und wer konnte schon wissen, was noch auf uns wartete.

Die Versorgung hilfsbedürftiger Pilger war schon vor tausend Jahren ein Thema, und vermutlich ein wesentlich bedeutenderes als heute. Dazu wurde die Abtei Roncesvalles, erstmals 1071 urkundlich erwähnt, erbaut.

Schon bald nach dem Erreichen des Passes blickt man auf diese kleine Ansiedlung hinunter und freut sich, dass man es nach sieben bis acht Stunden anstrengendem Bergauf und Bergab bald geschafft haben wird. Von der Herberge hatte ich schon öfter Gräuelgeschichten gehört, weshalb ich es dort gar nicht versuchte, wo es die meisten anderen Pilger hinzog. Bei meiner ersten Pilgerwanderung auf dem Jakobsweg vor zehn Jahren hatte ich die Erfahrung gemacht, dass es sich bei solchen Geschichten meist nicht um Übertreibungen handelte, sondern oft um die unangenehme Wahrheit. Ich entdeckte ein Hotel und ein Gasthaus, wo ich hoffte, ein Zimmer zu bekommen. Im Hotel hatte ich kein Glück, dafür aber im Gasthaus, wo eine Reihe von Pilgern ebenfalls dieselbe Idee gehabt hatte wie ich. Ich wartete geduldig, bis ich an der Reihe war, in der Erwartung, dass für mich noch ein freies Zimmer übrigbliebe. Ich hatte Glück und nützte nach dem Beziehen des Zimmers die Zeit bis zum Abendessen, um die romantische mittelalterliche Abtei samt Nebengebäuden in der warmen Sonne des Nachmittags zu fotografieren. Zum Abendessen wurde ich in einen Speisesaal eingelassen, wo die Pilger großen Tischen zugeteilt wurden. Ich saß mit acht anderen zusammen. Wir löffelten brav die fade Suppe aus. Anschließend gab es Nudeln, auf die ich wegen meiner Glutenunverträglichkeit verzichtete. Ich gehe davon aus, dass dies für die anderen ein glücklicher Umstand war, denn sie putzen alles weg. Die anschließende Forelle war klein und vertrocknet, das Joghurt zum Dessert gezuckert. Auf dem Tisch standen auch zwei Flaschen Wein, ich versagte mir aber heute, davon zu kosten. Auf irgendetwas Verlockendes soll man ja am Freitag als Fasttag verzichten. Ich gebe gleich zu, dass es das einzige Mal auf meinem Pilgerweg war, wo ich so standhaft asketisch geblieben bin. Die erste Mahlzeit auf spanischem Boden brachte mir also – teils aus eigenem Zutun – eine Enttäuschung.

 

Abtei Roncesvalles als erste Ansiedlung nach der Pyrenäenüberschreitung.


Der Rolandsbrunnen auf dem Lepoeder Pass.

Ein erster geistlicher Höhepunkt war der Abendgottesdienst in der um 1232 erbauten Kirche der Augustinerabtei. Ich ging dorthin mit zwei jungen Amerikanern, Josh und Crystal. Außer uns gab es nur wenige Pilger, die diese Gelegenheit nutzten. Die drei geistlichen Herren des Konvents wurden unterstützt durch den Erzbischof von Pamplona, der die Heilige Messe sehr lebendig und engagiert feierte. Sein abschließender Pilgersegen zog sich über Minuten. Ich verstand leider so gut wie nichts. Der für die Abtei verantwortliche Pater zeigte uns nach der Messe noch die Krypta und den Kreuzgang. Dazu gab es dankenswerterweise ein Infoblatt auf Englisch, denn seine Ausführungen waren für mich und die Amerikanerin Crystal im wahrsten Sinn des Wortes „spanisch“. Faszinierend war das Eintauchen in die Atmosphäre der mittelalterlichen Räume, in denen im Halbdunkel so vieles über den jahrhundertelangen Kampf des Christentums gegen den Islam, seine Niederlagen und Erfolge, zu erfahren und noch mehr zu erahnen war.

Noch ein paar Worte zu der von mir verschmähten Herberge: Im Lauf des Weges traf ich Pilger, die dort übernachtet hatten. Es waren zirka 100 Personen in einem Schlafsaal in Stockbetten untergebracht. Platz für die eigenen Siebensachen gab es außerhalb des eigenen Bettes fast gar nicht. Die Geräusche der Nacht sollen zudem unvergesslich vielfältig gewesen sein. Ich freute mich im Nachhinein sehr, dass ich mir das erspart hatte! Aber würde ich auf dem weiteren Weg solchen Schlafsälen entkommen?

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