Liebe und Eigenständigkeit

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Alfie Kohn

Liebe und Eigenständigkeit

Alfie Kohn

Liebe und Eigenständigkeit

Die Kunst bedingungsloser Elternschaft, jenseits von Belohnung und Bestrafung

Aus dem amerikanischen Englisch von Cordula Kolarik


© 2005 Alfie Kohn

© 2010 der deutschen Ausgabe: Arbor Verlag GmbH, Freiburg

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel:

Unconditionalparenting: moving from rewards andpunishments to love and reason

Alle Rechte vorbehalten

E-Book 2019

Titelfoto: © 2010 Svea Anais Perrine / photocase.com

Lektorat: Richard Reschika

Gestaltung: Anke Brodersen

E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de

www.arbor-verlag.de

ISBN E-Book: 978-3-86781-271-9

Wichtiger Hinweis:

Die Ratschläge zur Selbstbehandlung in diesem Buch sind vom Autor und vom Verlag sorgfältig erwogen und geprüft worden. Dennoch kann eine Garantie nicht übernommen werden. Sie brauchen psychotherapeutische Hilfe, wenn Sie sich durch die Übungen von Emotionen und Erinnerungen überwältigt fühlen. Bei ernsthafteren und/oder länger anhaltenden Beschwerden sollten Sie auf jeden Fall einen Arzt oder einen Heilpraktiker Ihres Vertrauens zu Rate ziehen. Eine Haftung des Autors und des Verlages für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist ausgeschlossen.

Inhalt

Einleitung

1 Wenn Elternliebe an Bedingungen geknüpft ist

2 Liebe schenken und Liebe entziehen

3 Zu viel Kontrolle

4 Strafen sind schädlich

5 Zum Erfolg gedrängt

6 Was hindert uns daran, bessere Eltern zu sein?

7 Grundsätze bedingungsloser Elternliebe

8 Liebe ohne Wenn und Aber

9 Mitspracherecht für Kinder

10 Die Sicht des Kindes

Anhang: Erziehungsstile

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Danksagung

Ein wenig Menschlichkeit ist viel mehr wert als alle Vorschriften der Welt.

Jean Piaget

Einleitung

Schon bevor ich Kinder hatte, wusste ich, dass es nicht nur eine Freude, sondern auch eine Herausforderung sein würde, Eltern zu sein. Aber ich wusste es nicht wirklich.

Ich wusste nicht, wie erschöpft oder ratlos man sich fühlen konnte und wie ich jedes Mal, wenn mir alles über den Kopf wuchs, irgendwie doch weitermachen musste.

Ich begriff nicht, dass Kinder manchmal deshalb so laut schreien, dass die Nachbarn kurz davor sind, das Jugendamt zu rufen, weil man die falsche Sorte Nudeln zum Abendessen gekocht hat.

Mir war nicht klar, dass sich die Atemübungen, die Frauen bei Kursen zum Thema natürliche Geburt lernen, erst dann wirklich auszahlen, wenn das Kind schon lange auf der Welt ist.

Nie hätte ich voraussehen können, wie erleichtert ich sein würde, zu hören, dass die Kinder anderer Leute mit den gleichen Dingen zu kämpfen haben und sich manchmal ähnlich verhalten wie meine. (Noch befreiender ist die Erkenntnis, dass auch andere Eltern dunkle Momente haben, in denen sie merken, dass sie ihr eigenes Kind nicht mögen, oder sich fragen, ob es das alles wert ist, oder diverse andere unaussprechliche Gedanken hegen.)

Fazit: Kinder großzuziehen ist nichts für Schwächlinge. Meine Frau sagt, es sei ein Test der Fähigkeit, mit Unordnung und Unberechenbarkeit umzugehen – ein Test, für den man nicht üben kann und dessen Ergebnisse nicht immer beruhigend ausfallen. Vergessen Sie „Raketentechnik“ oder „Gehirnchirurgie“: Wenn wir betonen wollen, etwas sei eigentlich nicht so furchtbar schwer, sollten wir sagen: „Hey, es ist ja nicht so schwer wie Kinder großzuziehen …“

Eben weil es so schwierig ist, sind wir vielleicht versucht, unsere Energie darauf zu konzentrieren, den Widerstand unserer Kinder gegenüber unseren Wünschen zu durchbrechen und sie zu bewegen, das zu tun, was wir ihnen sagen. Wenn wir nicht aufpassen, kann das unser Hauptziel werden. Es kann passieren, dass wir uns all den Leuten um uns herum anschließen, die Fügsamkeit und kurzfristigen Gehorsam bei Kindern über alles schätzen.

Vor ein paar Jahren saß ich während einer Vortragsreise in einem Flugzeug, das gerade gelandet war und zum Flugsteig rollte. Sobald ein Ton signalisierte, dass wir aufstehen und unser Handgepäck herunterholen durften, beugte sich einer meiner Sitznachbarn in die Reihe vor uns und beglückwünschte die Eltern eines kleinen Jungen, der dort saß. „Er war auf dem Flug so ein guter Junge!“, erklärte er.

Denken Sie einen Augenblick lang über das Schlüsselwort in dem Satz nach. Gut ist ein Adjektiv voller moralischer Bedeutungen. Es kann ein Synonym für ethisch oder ehrenwert oder mitfühlend sein. Doch wenn man von Kindern spricht, heißt das Wort oft nichts weiter als ruhig – oder vielleicht keine Nervensäge. Als ich diese Bemerkung im Flugzeug hörte, machte es bei mir klick. Mir wurde klar, dass die meisten Menschen in unserer Gesellschaft sich genau das am meisten von Kindern wünschen: nicht, dass sie fürsorglich, kreativ oder neugierig sind, sondern einfach dass sie sich gut benehmen. Ein „gutes“ Kind – vom Säugling bis zum Jugendlichen – ist eines, das uns Erwachsene nicht allzu sehr stört.

Es mag sein, dass sich die Strategien, dieses Ergebnis zu erreichen, im Lauf der letzten paar Generationen geändert haben. Während Kinder einst harten körperlichen Bestrafungen unterworfen waren, werden sie jetzt vielleicht zu Auszeiten verurteilt oder bekommen Belohnungen, wenn sie uns gehorchen. Doch verwechseln Sie neue Mittel nicht mit neuen Zielen. Das Ziel ist noch immer Kontrolle, auch wenn wir diese mit moderneren Methoden sicherstellen. Der Grund dafür ist nicht der, dass uns unsere Kinder nicht am Herzen lägen. Es hat mehr damit zu tun, dass uns der ständige alltägliche Druck des Familienlebens überwältigt. Die Notwendigkeit, die Kinder ins Bett oder Auto, in die Badewanne und wieder heraus zu bekommen, macht es uns schwer, einen Schritt zurückzutreten und zu sehen, was wir eigentlich tun.

Wenn es uns nur darum geht, Kinder dazu zu bewegen, zu tun, was wir sagen, ist das unter anderem deshalb problematisch, weil es möglicherweise im Widerspruch zu anderen, höher gesteckten Zielen, die wir für sie haben, steht. Heute Nachmittag geht es Ihnen vielleicht nur darum, dass Ihr Sohn damit aufhört, im Supermarkt einen Aufstand zu machen, und sich damit abfindet, dass Sie ihm keine große, bunte Tüte Süßigkeiten, die als Frühstücksflocken getarnt sind, kaufen werden. Aber es lohnt sich, etwas weiter zu blicken. In den Workshops, die ich für Eltern leite, beginne ich gern mit der Frage: „Was sind Ihre langfristigen Ziele für Ihre Kinder? Welches Wort oder welcher Ausdruck kommt Ihnen in den Sinn, wenn Sie beschreiben möchten, wie Sie sich Ihre Kinder wünschen würden, wenn sie erwachsen sind?“

Denken Sie einen Moment darüber nach, wie Sie diese Frage beantworten würden. Wenn ich Elterngruppen auffordere, die wichtigsten langfristigen Ziele zu nennen, die sie für ihre Kinder haben, bekomme ich landesweit bemerkenswert ähnliche Antworten zu hören. Die Liste, die von einer Gruppe erstellt wurde, war typisch: Die Eltern sagten, sie wünschten sich, dass ihre Kinder glückliche, ausgeglichene, selbstständige, ausgefüllte, produktive, selbstbewusste, seelisch gesunde, freundliche, rücksichtsvolle, verantwortungsbewusste, liebevolle, wissbegierige und zuversichtliche Menschen würden.

Was an dieser Liste von Adjektiven interessant ist – und was daran nützlich ist, überhaupt über diese Frage nachzudenken –, ist, dass sie uns dazu anregt, uns zu fragen, ob das, was wir tun, mit dem im Einklang steht, was wir wirklich wollen. Helfen meine alltäglichen Erziehungsmethoden wohl meinem Kind, zu dem Menschen heranzuwachsen, den ich mir wünschen würde? Trägt das, was ich gerade im Supermarkt zu meinem Kind gesagt habe, wenigstens ein bisschen dazu bei, dass es ein glücklicher, ausgeglichener, selbstständiger, ausgefüllter und so weiter Mensch werden kann – oder ist es möglich (schluck), dass die Art, wie ich mit solchen Situationen umgehe, ein solches Ergebnis weniger wahrscheinlich macht? Falls ja, was sollte ich stattdessen tun?

Wenn Sie es zu entmutigend finden, sich vorzustellen, was für Menschen Ihre Kinder in vielen Jahren vielleicht sind, denken Sie darüber nach, was Ihnen heute wirklich wichtig ist. Stellen Sie sich vor, Sie wären bei einer Geburtstagsfeier oder im Flur der Schule Ihres Kindes. Hinter einer Ecke stehen zwei andere Eltern, die nicht wissen, dass Sie da sind. Sie hören, wie die beiden über… Ihr Kind reden! Von all dem, was sie sagen könnten – worüber würden Sie sich am meisten freuen?1 Denken Sie einen Moment darüber nach, welches Wort oder welchen Satz Sie besonders gerne hören würden. Ich vermute – und hoffe –, dass es nicht der Satz wäre: „Mensch, dieses Kind tut alles, was man ihm sagt, und macht nie einen Mucks.“ Die entscheidende Frage ist, ob wir uns nicht manchmal so verhalten, als wäre es das, was uns am wichtigsten ist.

Vor fast fünfundzwanzig Jahren rezensierte eine Sozialpsychologin namens Elizabeth Cagan eine Reihe zeitgenössischer Erziehungsratgeber und kam zu dem Schluss, dass sie größtenteils eine pauschale Akzeptanz „elterlicher Vorrechte“ mit „kaum ernsthafter Berücksichtigung der Bedürfnisse, Gefühle oder der Entwicklung eines Kindes“ widerspiegelten. Die vorherrschende Grundannahme, fügte sie hinzu, sei offenbar die, dass die Wünsche der Eltern „automatisch legitim“ seien und man daher nur über die Frage diskutieren müsse, wie man Kinder dazu bewegen könne, all das zu tun, was man ihnen sage.2

 

Leider hat sich seitdem nicht viel geändert. Jedes Jahr werden in den Vereinigten Staaten mehr als hundert Erziehungsbücher veröffentlicht,3 außerdem zahllose Artikel in Elternzeitschriften, und die meisten sind voller Ratschläge, wie man Kinder dazu bringen kann, unsere Erwartungen zu erfüllen, wie man ihr Verhalten steuern kann, wie man sie dressieren kann, als ob es Haustiere wären. Viele dieser Ratgeber enthalten auch aufmunternde Worte über die Notwendigkeit, Kindern Paroli zu bieten und unsere Macht durchzusetzen – und in manchen Fällen werden jegliche Zweifel, die wir angesichts dessen haben mögen, explizit für unnötig erklärt. Diese Tendenz spiegelt sich sogar in den Titeln jüngst erschienener Bücher wider: Keine Angst vor Disziplin; Eltern haben die Zügel in der Hand; Eltern an der Macht; Die Macht in die Hand nehmen; Zurück an der Macht; Disziplin für Ihr Vorschulkind – ohne schlechtes Gewissen; Weil ich die Mama bin – darum; Das Steuer in die Hand nehmen; Erziehung ohne Schuldgefühle; „Die Antwort lautet Nein“ und so weiter.

Einige dieser Bücher verteidigen altmodische Werte und Methoden („Dir wird der Hintern ganz schön wehtun, wenn dein Vater nach Hause kommt“), während sich andere für neumodische Verfahren einsetzen („Gut gemacht! Du hast Pipi ins Töpfchen gemacht, Schatz! Jetzt kannst du deinen Aufkleber haben!“). Doch in keinem Fall fordern sie uns auf, uns zu vergewissern, ob das, was wir von unseren Kindern verlangen, auch vernünftig – oder in ihrem Interesse – ist.

Wie Ihnen vielleicht aufgefallen ist, enthalten viele dieser Bücher Vorschläge, die sich als, sagen wir mal, nicht sonderlich hilfreich erweisen, auch wenn sie bisweilen mit Hilfe absurd unrealistischer Eltern-Kind-Dialoge, die zeigen sollen, wie gut sie funktionieren, veranschaulicht werden.4 Zwar kann es frustrierend sein, über Methoden zu lesen, die sich als unwirksam erweisen, doch es ist viel gefährlicher, wenn in Büchern überhaupt nicht die Frage gestellt wird, was wir eigentlich unter „wirksam“ verstehen. Wenn wir uns keine Gedanken über unsere Ziele machen, haben wir nichts weiter als Praktiken, die nur dazu dienen sollen, Kinder dazu zu bewegen, zu tun, was man ihnen sagt. Das heißt, wir konzentrieren uns nur darauf, was für uns am bequemsten ist, nicht darauf, was sie brauchen.

Noch ein Wort über Erziehungsratgeber: Der Rat, den die meisten von ihnen geben, beruht nur auf der willkürlichen Meinung des Autors, illustriert durch sorgfältig ausgesuchte Anekdoten, die seine Sichtweise stützen. Selten wird überhaupt erwähnt, was Forschungen über die betreffenden Themen zu sagen haben. Ja, es ist möglich, das Erziehungsregal in Ihrer örtlichen Buchhandlung Titel für Titel durchzugehen, ohne überhaupt zu merken, dass es eine bedeutende Menge wissenschaftlicher Studien über verschiedene Erziehungsmethoden gibt.

Ich weiß, manche Leser sind skeptisch, wenn behauptet wird, „Studien zeigten“, dies und das sei wahr, und das ist auch verständlich. Erstens sagen Menschen, die mit solchen Sätzen um sich werfen, oft nicht, von welchen Studien sie eigentlich reden, geschweige denn, wie sie durchgeführt wurden oder wie signifikant ihre Ergebnisse waren. Und zweitens stellt sich wieder diese vertrackte Frage: Wenn ein Forscher behauptet, er habe bewiesen, es sei wirksamer, seinem Kind gegenüber x zu tun als y, möchten wir ihn sofort fragen: „Was genau verstehen Sie unter wirksam? Meinen Sie, dass es Kindern in psychischer Hinsicht besser geht, wenn man x tut? Führt x dazu, dass sich die Kinder mehr Gedanken darüber machen, welche Auswirkungen ihr Handeln auf andere Menschen hat? Oder ist bei Anwendung von x einfach nur die Wahrscheinlichkeit, blinden Gehorsam zu erreichen, größer?“

Manche Experten und auch manche Eltern scheinen sich nur für diese letzte Frage zu interessieren. Eine erfolgreiche Strategie ist nach ihrer Definition alles, was Kinder dazu bringt, Anweisungen zu befolgen. Ihre Sicht beschränkt sich mit anderen Worten darauf, wie Kinder sich verhalten, ohne zu berücksichtigen, was sie empfinden, wenn sie einer bestimmten Aufforderung nachkommen sollen, oder was sie über denjenigen denken, dem es gelungen ist, sie zum Befolgen der Anweisung zu bewegen. Dies ist eine recht zweifelhafte Weise, den Wert elterlichen Eingreifens zu beurteilen. Forschungsergebnisse legen nahe, dass sich selbst Erziehungsmethoden, die zu „wirken“ scheinen, oft als sehr viel weniger erfolgreich herausstellen, wenn man sinnvollere Kriterien anlegt. Die Festlegung des Kindes auf ein bestimmtes Verhalten ist oft nur oberflächlich, und das Verhalten ist daher von kurzer Dauer.5

Doch das ist noch nicht alles. Das Problem liegt nicht nur darin, dass uns viel entgeht, wenn wir unsere Strategien nur danach beurteilen, ob sie Kinder dazu bringen, uns zu gehorchen, sondern auch darin, dass Gehorsam selbst nicht immer wünschenswert ist. Es gibt so etwas wie zu gutes Benehmen. In einer Studie etwa wurden Kleinkinder in Washington, D.C., beobachtet, bis sie fünf Jahre alt waren, und es wurde festgestellt, dass „häufige Fügsamkeit manchmal mit Verhaltensstörungen assoziiert“ war. Umgekehrt könne ein gewisses Maß an Widerstand gegen die elterliche Autorität ein „positives Zeichen“ sein. Andere Psychologen schildern im Journal of Abnormal Child Psychology ein beunruhigendes Phänomen, das sie als „zwanghafte Fügsamkeit“ bezeichneten und bei dem Kinder aus Angst vor ihren Eltern alles tun, was man ihnen sagt – sofort und ohne nachzudenken. Auch viele Therapeuten haben sich zu den emotionalen Folgen eines exzessiven Bedürfnisses, Erwachsenen zu gefallen und zu gehorchen, geäußert. Sie weisen darauf hin, dass Kinder mit auffallend gutem Benehmen tun, was ihre Eltern von ihnen wollen, und das werden, was sich ihre Eltern von ihnen wünschen – jedoch oft um den Preis, dass sie ein Gefühl für sich selbst verlieren.6

Man könnte sagen, dass Disziplin Kindern nicht immer hilft, Selbstdisziplin zu entwickeln. Doch selbst dieses zweite Ziel ist nicht immer so ausschließlich positiv, wie man denkt. Es ist nicht unbedingt besser, Kinder dazu zu bewegen, unsere Wünsche und Werte zu verinnerlichen, so dass sie auch dann, wenn wir nicht in der Nähe sind, tun, was wir wollen. Verinnerlichung – oder Selbstdisziplin – fördern zu wollen, kann auf den Versuch hinauslaufen, das Verhalten von Kindern per Fernsteuerung zu lenken. Das ist nur eine stärkere Form von Gehorsam. Schließlich ist es ein großer Unterschied, ob ein Kind etwas tut, weil es glaubt, es sei richtig, dies zu tun, oder ob ein Kind etwas nur aus Pflichtgefühl tut. Dafür zu sorgen, dass Kinder unsere Werte verinnerlichen, ist nicht dasselbe wie ihnen zu helfen, eigene Werte zu entwickeln.7 Und es ist genau das Gegenteil von dem Ziel, dass Kinder selbstständig denken sollen.

Die meisten von uns, davon bin ich überzeugt, wünschen sich tatsächlich, dass unsere Kinder selbstständig denken, Durchsetzungsvermögen und innere Festigkeit haben… wenn sie mit ihren Freunden zusammen sind. Wir hoffen, dass sie Menschen, die andere schikanieren, die Stirn bieten und Gruppendruck widerstehen können, vor allem wenn es um Sex und Drogen geht. Doch wenn es uns wichtig ist, dass unsere Kinder nicht „Opfer der Ideen anderer“ werden, müssen wir sie lehren, „selbst über alle Ideen, einschließlich der von Erwachsenen, nachzudenken“.8 Oder anders herum: Wenn wir zu Hause großen Wert auf Gehorsam legen, kann das dazu führen, dass unsere Kinder auch das befolgen, was Menschen außerhalb von zu Hause ihnen sagen. Die Autorin Barbara Coloroso bemerkt, dass sie Eltern von Teenagern oft klagen hört: „Er war so ein braves Kind, so wohlerzogen, hatte so gute Manieren, hat sich so gut gekleidet. Doch sehen Sie sich ihn jetzt an!“ Darauf antwortet sie:

Seit er klein war, zog er sich so an, wie Sie es ihm sagten; er verhielt sich so, wie Sie es ihm sagten; er sagte das, was Sie ihm vorsagten. Er hat stets darauf gehört, dass ihm jemand anders sagte, was er tun sollte … Er hat sich nicht verändert. Er hört noch immer darauf, dass ihm jemand anders sagt, was er tun soll. Das Problem ist nur, dass derjenige nicht mehr Sie sind, sondern Leute in seinem Alter.

Je mehr wir über unsere langfristigen Ziele für unsere Kinder nachdenken, umso komplizierter wird es. Jedes Ziel könnte sich als problematisch herausstellen, wenn wir es isoliert betrachten: Nur wenige Eigenschaften sind so wichtig, dass wir bereit wären, alles andere zu opfern, um sie zu erreichen. (Zum Thema Glück etwa siehe Kapitel 10, Anmerkung 1.) Vielleicht ist es klüger, Kindern zu helfen, ein Gleichgewicht zwischen entgegengesetzten Eigenschaften zu erreichen – also etwa unabhängig, aber auch fürsorglich zu sein oder zuversichtlich und dennoch bereit, die eigenen Grenzen zu erkennen. Ebenso betonen manche Eltern vielleicht, ihnen sei es am wichtigsten, ihren Kindern zu helfen, sich selbst Ziele zu setzen und sie zu erreichen. Wenn wir derselben Ansicht sind, müssen wir uns auf die Möglichkeit gefasst machen, dass sie andere Entscheidungen treffen als wir und sich Werte zu eigen machen, die nicht dieselben sind wie unsere.

Das Nachdenken über langfristige Ziele kann uns in vielerlei Richtungen führen, doch was ich betonen will, ist, dass wir gründlich über diese Ziele nachdenken sollten. Sie sollten unser Prüfstein sein und uns daran hindern, im Treibsand des täglichen Lebens mit seiner ständigen Versuchung, alles zu tun, wodurch sich Folgsamkeit erreichen lässt, zu versinken. Als Vater zweier Kinder kenne ich die Frustrationen und Herausforderungen, die zu diesem Job dazugehören, nur zu gut. Es gibt Zeiten, wenn meine besten Strategien versagen, wenn mir die Geduld reißt, wenn ich einfach nur will, dass meine Kinder tun, was ich ihnen sage. Es ist schwer, den Gesamtzusammenhang im Blick zu behalten, wenn eins meiner Kinder im Restaurant herumkreischt. Im Übrigen ist es manchmal ebenso schwer, daran zu denken, was wir eigentlich für Menschen sein wollen, wenn wir gerade einen hektischen Tag erleben oder merken, wie uns weniger edle Regungen überkommen. Es ist schwer, aber es lohnt sich.

Manche Menschen begründen das, was sie tun, dadurch, dass sie die bedeutsameren Ziele – etwa den Versuch, ein guter Mensch zu sein oder sein Kind zu einem guten Menschen zu erziehen – als „idealistisch“ abtun. Doch das bedeutet nur, Ideale zu haben, ohne die wir nicht viel wert sind. „Idealistisch“ muss nicht „praxisfern“ bedeuten. Ja, sowohl pragmatische als auch moralische Gründe sprechen dafür, sich auf langfristige Ziele statt auf sofortige Folgsamkeit zu konzentrieren und daran zu denken, was unsere Kinder brauchen, statt nur daran, was wir von ihnen verlangen, und das ganze Kind statt nur das Verhalten zu sehen.

In diesem Buch werde ich erläutern, warum es sinnvoll ist, sich von den üblichen Strategien, Kinder als Objekte zu behandeln, abzuwenden und Wege zu finden, mit ihnen zusammen zuarbeiten. Zwar wird mit vielen Menschen – Erwachsenen wie Kindern – ständig etwas getan, als wären sie Objekte. Doch es genügt nicht, zu antworten: „Nun, so ist die Welt eben“, wenn man etwas dagegen einwendet, Strafen und Belohnungen zu benutzen, um das Verhalten von Menschen zu steuern. Die entscheidende Frage lautet: Was für Menschen sollen unsere Kinder werden? Menschen, die Dinge so hinnehmen, wie sie sind, oder Menschen, die versuchen, etwas zu verbessern?

So etwas zu sagen, ist subversiv. Es verkehrt konventionelle Erziehungsratschläge ins Gegenteil und es stellt das kurzsichtige Bemühen, sie dazu zu bringen, nach unserer Pfeife zu tanzen, auf die Probe. Für manche von uns stellt es vielleicht vieles von dem, was wir tun – und möglicherweise auch das, was mit uns getan wurde, als wir klein waren –, in Frage.

In diesem Buch geht es nicht nur um Erziehungsmethoden, sondern umfassender um die Art, wie wir uns unseren Kindern gegenüber verhalten sowie darum, wie wir über sie denken und fühlen. Das Buch soll Ihnen helfen, zu Ihrer eigenen Intuition zurückzufinden und sich bewusst zu werden, was wirklich wichtig ist – nachdem der Schlafanzug angezogen ist, die Hausaufgaben erledigt und die Geschwisterstreitereien endlich beigelegt sind. Es fordert sie auf, Ihre grundlegenden Annahmen über Eltern-Kind-Beziehungen zu überdenken.

Vor allem bietet dieses Buch praktische Alternativen für die Taktiken, die wir manchmal versucht sind zu benutzen, um unsere Kinder dazu zu bewegen, sich besser zu benehmen oder erfolgreicher zu werden. Ich glaube, dass diese Alternativen unseren Kindern helfen können, zu guten Menschen heranzuwachsen – gut im umfassendsten Sinne des Wortes.