Drei starke Geister

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Drei starke Geister
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Erster Theil.
Einleitung.
I.

An der Straße nach Nimes, bei der Brücke über den Gard — die man, im Vorbeigehen gesagt, mit Unrecht eine Brücke nennt, da es eine Wasserleitung ist, in der aber nichts, selbst kein Wasser mehr fließt — eine Viertelstunde ehe man an den Fluß und mithin an diese Brücke kommt, liegt ein freundliches Dörfchen, mit Namen Lafou. Wer etwa die Brücke über den Gard besucht, was ich Jedem rathe, der kehre zum Frühstück in dem Dörfchen Lafou ein. Es hat nur ein einziges Wirthshaus und man kommt daher nicht wegen der Wahl in Verlegenheit; aber man wird hier eben so gut und selbst besser bedient, als wenn eine Concurrenz zwischen mehreren Gastwirthen stattfinde. Man wird in ein großes Gastzimmer geführt, dessen Tapete die merkwürdigsten, mit ziegelrother Staffage von Menschen und Thieren belebten Weltansichten darstellt; man sieht hier die Statue Peters des Großen in St. Petersburg, den Westminsterpalast in London, die Börse von Paris, den Pozellanthurm in Peking, eine Tigerjagd, den Tod des Capitain Cook und das Grab des Kaisers in St. Helena. Geschichte, Denkmähler, Poesie, nichts fehlt hier; Alles ist auf einem rosenrothen Grunde gemalt und wird von blauen Bäumen beschatten Was aber noch besser sein wird, als dies Alles, obgleich es, wie ich glaube, schon sehr amüsant ist, wenn man lachen kann, indem man die Wände betrachtet, das ist das Frühstück, das man bekommt und das ein- für allemal aus folgenden Gerichten besteht: ein Schweinsfuß mit Trüffeln, Liebesäpfel mit Eiern oder Eier mit Liebesäpfeln, Erdbeeren im Sommer, Feigen, Mandeln, Rosinen und Haselnüsse im Winter, dazu eine Flasche ausgezeichneten starken Wein, mit einem Parfüm wie Alicante; und wenn man dann fragt, was man für diesen Schmaus schuldig ist, so erhält man zur Antwort: drei Franken! Man hat also hier für drei Franken besser gefrühstückt, als für fünfzehn Franken in Paris!

Leider sind es nicht diese erfreulichen Bilder, die Erinnerungen von einer Reise, die ich vor Kurzem durch jene Gegend gemacht habe, die ich dem Leser in der nachstehenden Erzählung vorführen werde; es ist eine sehr traurige, sehr Unglückliche Geschichte, die ich erzählen will und deren Schauplatz das Dörfchen Lafou war.

An einem heiteren Abende des Monats April 1825 wanderte ein noch junger Mann von kaum einundzwanzig Jahren, mit offenem, heiterm und sanftem Gesicht, allein auf der erwähnten Straße von Nimes nach der Gardbrücke zu. Es hatte eben sieben Uhr geschlagen, und der, in einen schwarzen Oberrock, ein ächtes Reisebeinkleid von grauer Leinwand, nebst einer Mütze von Zwillich gekleidete junge Reisende schritt rüstig, mit der einen Hand sich den Schweiß vom Gesicht trocknend und mit der andern den Reisestock schwingend, vorwärts.

Bald hatte er die ersten Häuser des Dörfchens Lafou erreicht, und zugleich griff er in die Tasche, zog eine Brieftasche hervor, nahm aus dieser einen Brief, den er in der Hand behielt und ging dann auf einen, vor seinem Hause stehenden Landmann zu.

»Könnt Ihr mir nicht sagen, Freund,« redete er ihn im richten pariser Dialect an, »wo Herr Raynal der Pfarrer von Lafou, wohnt.«

»Eben ging Herr Raynal hier vorbei,« antwortete ihm der Bauer mit sehr deutlichem südlichem Accent und indem er die rechte Hand ausstreckte; »kaum kann er sein Haus erreicht haben. Er wohnt dort in dem kleinen, an die Kirche angebauten Häuschen.«

Der junge Mann dankte für die erhaltene Auskunft und ging auf das bezeichnete Haus zu.

Er hatte nicht weit zu gehen, denn das Dorf ist nicht groß.

Das Haus des Pfarrers, das, wie der Bauer gesagt hatte, an die Kirche stieß, bestand aus einem Erdgeschoß, dem ersten Stockwerk und einer Art Dachboben. Es theilte mit dem Gottesacker den hinter der bescheidenen Kirche liegenden Raum.

Es ist nicht nöthig zu erwähnen, daß dieser Gottesacker nicht groß war, und daß zu dieser Tagesstunde die Kinder aus dem Dorfe in demselben spielten.

Ich habe es sehr gern, wenn ich in einem Dorfe die Kinder auf dem Gottesacker spielen sehe. Der Tod behält dadurch noch Einen gewissen Anschein von Leben, und wenn der Lärm, den sie machen, den Schlummer der Ruhenden stört, so muß ihnen dieses, durch unschuldige, frische Stimmen verursachte augenblickliche Erwachen angenehm sein, denn es erinnert sie an die glücklichsten der auf der Welt verlebten Jahre.

Unser Reisender zog ehrerbietig die Mühe vor der Ruhestätte der Todten, stieg dann die beiden Stufen vor der grau angestrichenen Hausthür hinauf und klopfte mit dem an derselben befestigten Hammer an.

Eine alte Frau öffnete ihm.

»Wohnt hier Herr Raynal?« fragte der junge Mann.

»Ja, mein Herr,« antwortete ihm die Alte.

»Kann ich ihn sprechen?«

»O ja.«

Die Dienerin verschloß die Thier wieder und ließ den Reisenden in ein Zimmer des Erdgeschosses treten, welches dem Pfarrer als Speisezimmer diente.

Hier saß an einem Tische, auf dem ein sehr bescheidenes Abendessen stand, der Pfarrer Raynal, ein Mann von ohngefähr fünfzig Jahren, dessen ruhig blickendes Auge Rechtschaffenheit und ein reines Gewissen verrieth. Seine Mahlzeit bestand aus einem Eierkuchen und aus einem Hühnerviertel. Seine alte Haushälterin, Toinette, stand am Fenster, bereit, ihren Herrn zu bedienen, sobald er etwas bedurfte. Ihre Kleidung bestand aus einer Haube mit breiten Flügeln und aus einem Kleide von gelbem Zeuge mit röthlichen Blumen, und sie war beschäftigt Wäsche auszubessern, als der Reisende geklingelt hatte. Seit zwanzig Jahren, die sie schon bei Herrn Raynal zubrachte, war sie gewohnt, in seinem Zimmer zu arbeiten, während er speiste. Es ging auf diese Weise keine Zeit verloren und sie unterhielt sich mit dem Pfarrer von allerhand Dingen, welche Gegenstand des Gesprächs zwischen einem braven Priester und einer braven Frauensperson sein können.

Der junge Mann begrüßte Herrn Raynal, welcher Aufstand, um ihn zu empfangen; aber der Angekommene bat ihn« sich nicht stören zu lassen und übergab ihm den Brief, den er in der Hand hatte.

»Ich bin beauftragt, Ihnen dies hier zu übergeben, Herr Pfarrer,« sagte er, während sein Blick mit einem Ausdruck von Ehrerbietung, der einige Aengstlichkeit beigemischt war, auf dem Gesicht der Priesters ruhte, der den Brief aus dem Couvert zog.

»Nehmen Sie doch Platz,« sagte Raynal, ehe er anfing, das Schreiben zu lesen; als er jedoch die Augen auf die ersten Worte desselben geworfen hatte, blickte er den Ueberbringer an und sagte mit bewegter Stimme zu ihm:

»Dieser Brief ist von meinem Bruder?«

»Ja« lieber Oheim.«

»Und Sie sind also..-.«

»Jean Raynal, der Sohn Ihres Bruders und Ihr Neffe.«

»So komm an mein Herz, junger Mann!« rief der Pfarrer, indem er aufstand und seinen Neffen umarmte.

Die alte Haushälterin, welche Zeugin dieser Scene war und die seit zwanzig Jahren Jeden gesehen hatte, der zu ihrem Herrn gekommen war, betrachtete staunend den großen Menschen, der ihr noch nie zu Gesicht gekommen und den der Pfarrer seinen Neffen nannte.

»Sie haben also einen Bruder?« sagte sie im vertraulichen Tone zu dem Geistlichen.

»Ja wohl, liebe Toinette.«

»Aber Sie haben mir nie etwas davon gesagt?«

»Weil mein Oheim glaubte, er habe meinem Vater etwas vorzuwerfen,« erwiderte Jean, »und da mein Oheim ein Mann von so edlem Herzen ist, so zog er es vor« gar nicht von diesem Bruder zu sprechen, als etwas Nachtheiliges über ihn zu sagen. Ist’s nicht so, lieber Oheim?«

»Was für ein hübscher Mensch Du bist! wie freut es mich, Dich kennen zu lernen! Komm, umarme mich noch einmal! Was macht Dein Vaters was ist aus ihm geworden? wo lebt er? wie befindet er sich? Beantworte mir schnell diese Fragen, lieber Junge! Ja, es ist heute ein glücklicher Tag für mich, es ist mir schon Alles nach Wunsch gegangen.« i

»Lesen Sie den Brief, lieber Oheim; er wird Ihnen Alles was Sie zu wissen wünschen, besser sagen als ich.«

»Du hast Recht,« erwiderte der Pfarrer, indem er den Brief, den er auf den Tisch gelegt hatte, wieder nahm. Mit lauter Stimme las er Folgendes:

»Mein lieber Valentin!

»Mein Sohn Jean hat sein einundzwanzigstes Jahr erreicht, und dies ist der Zeitpunkt, den ich erwartet habe, um ihn Dir vorzustellen. Ich rechnete auf ihn, um unsre Aussöhnung herbeizuführen, und ich wünschte, daß er in dem Alter war, wo man Alles sagen und Alles verstehen kann; er sollte die lebende Entschuldigung des Unrechts sein, dessen ich mich früher gegen unsren Vater schuldig gemacht habe. Er ist ein guter, braver Mensch, der etwas gelernt und mir stets Freude gemacht hat, und der, wie ich hoffe, auch indem lyoner Handlungshause, in das ich ihn sende, seinen Posten ausfüllen wird. Was mich betrifft, mein lieber Valentin, so hat mir Alles über mein Erwarten geglückt, und unsre Trennung allein hat einen Schatten von Betrübniß auf mein Leben geworfen. Indessen hoffte ich, daß ein Tag kommen werde, wo Du mir verzeihen würdest, und jetzt habe ich deshalb keinen Zweifel mehr. Jean wird mir unverzüglich das Resultat seines Besuchs melden und ich hoffe, ehe zwei bis drei Monate vergehen, Dich in meine Arme schließen und Dir selbst sagen zu können wie sehr ich Dich liebe.

»Dein Bruder

»Onesimus Raynal.«

»Dies ist Alles, was mein Vater geschrieben hat?« fragte Jean.

»Es ist Alles,« antwortete der Pfarrer, indem er ihm den Brief reichte.

»Dann bat er mir Vieles Ihnen zu sagen und Ihnen Vieles mir mitzutheilen überlassen.«

»So sprich« mein Sohn« sprich!«

»Zuerst« lieber Oheim, bitte ich Sie, mir den Grund Ihres Zerwürfnisses mit meinem Vater zu erzählen.«

»Gut, höre mich an, lieber Jean. Onesimus sagt mir, daß Du im Stande bist, Alles zu verstehen, ich werde Dir also nichts verschweigen. Vor zweiundzwanzig Jahren war unser Vater in Folge schlechter Geschäfte, die er gemacht hatte, ruiniert; aber es zeigte sich für Onesimus eine Gelegenheit, ihm wenn auch nicht zu dem verlorenen Vermögen wieder zu verhelfen, aber doch zu den Mitteln, um seine Umstände wieder zu verbessern. Diese Gelegenheit war die Verbindung mit einem Mädchen, die ihm ihr Vater mit einem Vermögen von zweimal hunderttausend Livres zur Frau geben wollte. Aber leider hatte sich Onesimus in ein andres Mädchen verliebt, und alle unsere Vorstellungen vermochten nicht, ihn von dieser Liebe abzubringen. Er wollte die Geliebte heirathen, obgleich sie nichts besaß und auch er arm war. Mein Vater verbot dem Bruder sein Haus und ich mußte schwören, daß ich ihn nie wiedersehen wollte. Ich leistete diesen Eid, obgleich der Stand, für den ich mich bestimmt hatte, es mir hätte verbieten sollen. Ich hatte Theologie studirt und ein Jahr nach der Verheirathung meines Bruders, die wir durch sein Nachsuchen und des Vaters Einwilligung erfuhren, wurde ich Priester. Mein Vater zog zu mir, lebte noch sechs Jahre und ging zu Gott, ohne seinem Sohne verziehen zu haben, so sehr ich mich auch bemühte, ihn dazu zu bewegen. Wohin sich Onesimus gewendet hatte, was aus ihm geworden war, habe ich nie erfahren, und während ich in meinem Herzen die Liebe bewahrte, die ich ihm als meinem Bruder schuldig bin, und ihm die Verzeihung angedeihen ließ, die ich für meine Christenpflicht hielt, bemühte ich mich vergebens, Erkundigung über ihn einzuziehen. Indessen verging kein Tag, ohne daß ich den Himmel bat, mir Aufklärung darüber zu geben und jedenfalls meinem Bruder das Glück zu gewähren, das ich ihm wünschte. Jetzt weiß ich, warum er schwieg und ich mache ihm nur deshalb einen Vorwurf, daß er so lange hat glauben können, ich zürnte ihm noch, und daß er es so lange verschoben hat, Dich zu mir zu senden. Dies ist Alles, was ich Dir mitzutheilen habe, lieber Jean, und ich erwarte nun, daß Du mir erzählst, wie es meinem Bruder in dieser langen Zeit ergangen ist und wie er sich jetzt befindet.«

 

»Mein Vater hat mir immer den Grund Ihrer Trennung verschwiegen,« entgegnete der junge Mann; »ohne Zweifel in der Furcht, daß sich dadurch wider meinen Willen die Achtung vermindern möchte, die ich meiner Mutter schuldig bin. Von Zeit zu Zeit jedoch erwähnte er eines Bruders, über den er, ich weiß nicht auf welchem Wege, Nachrichten einzog. Er sprach immer von diesem Bruder, nicht allein mit Liebe, sondern auch milder Hochachtung, die man einem edlen, frommen Manne schuldig ist. Ich erinnere mich, denn so etwas gräbt sich tief in das Gedächtniß der Kinder ein, daß ich und meine Mutter während meiner ersten Kinderjahre oft schlimme Zeit hatten. Mein Vater war oft auf Reisen; er war in einem Handlungshause angestellt und hatte einen sehr mäßigen Gehalt, so daß wir fast in steter Bedrängniß lebten, aber meine Mutter, eine gute, vortreffliche Frau, arbeitete Tag und Nacht und erzog mich mit einer solchen Sorgfalt, als man einem Prinzen widmet. Sie aß trocknes Brot, aber ich erhielt bessere Nahrung und wurde gut gekleidet. Sie und mein Vater liebten mich mit der größten Zärtlichkeit. Ich war ihr Trost, ihre Hoffnung und ihre moralische Stütze; ohne mich würden sie vielleicht der Last ihrer Leiden erlegen sein.«-

»Armer Bruder!« sagte der Pfarrer gerührt. »Fahre fort, lieber Jean, fahre fort, denn ich sehne mich danach, von Dir zu erfahren, wann Gott ihn für alle diese Prüfungen entschädigt hat.«

»Mein Vater betrug sich so gut, er gewann so sehr das Vertrauen des Hauses, für das er,reiste, daß er nicht allein nicht wie ein gewöhnlicher Commis behandelt wurde, sondern daß man ihm einen Antheil am Geschäft gab, so daß er nach einigen Jahren eine hübsche Summe zurückgelegt hatte. Sein Prinzipal gab ihm hierauf den Rath, sich in der Provinz zu etabliren, fügte als Darlehn eine Summe von zehntausend Franken hinzu und wir zogen nach einer kleinen Stadt, wo mein Vater ein Geschäft anfing und dabei fortwährend mit dem Hause in Verbindung blieb, dem er Alles zu verdanken hatte. Der Himmel war uns günstig, das Geschäft hatte einen guten Fortgang und mein Vater erwarb ein kleines Vermögen. Ich kam auf die Schule, wo ich einen guten Unterricht genoß, der mich fähig machen sollte, in jedem Stande fortzukommen, den ich wählen würdet aber ich hatte von jeher den Gedanken, daß ich den Stand wählen müsse, dem mein Vater das zu verdanken hatte, was er war, und ich wünschte in die Dienste des Hauses zu treten, das meinen Vater unterstützt hatte. Ich bin also gegenwärtig Reisender bei Herrn Roussel und Compagnie, und als ich vor vierzehn Tagen eine Reise antreten wollte, schrieb mir mein Vater, das Erste was ich zu thun hätte, nachdem ich die Geschichte, mit dem Lyoner Handlungshause, mit dem wir in Verbindung stehen, abgemacht hätte, müsse sein, mich im Dorfe Lafou, in der Nähe von Nimes, nach dem Pfarrer Raynal zu erkundigen, ihm den Brief, den er mir überschickte und dessen Inhalt mir unbekannt war, zu übergeben, ihn dreist meinen Oheim zu nennen und ihm Alles mitzutheilen, was ich Ihnen erzählt habe.«

»Du siehst mein Sohn, der Himmel verläßt keines seiner Geschöpfe ganz, und Fleiß und gutes Betragen erhalten früher oder später ihren Lohn. Toinette, bringe das Parterrezimmer unter dem meinigen in Ordnung, denn Jean wird ohne Zweifel einige Tage bei uns bleiben und er soll in diesem Zimmer wohnen. Dann besorge uns auch eine gute Flasche Wein und Zwieback.«

Toinette verließ das Zimmer.

»Ich danke Ihnen, lieber Oheim,« sagte Jean, »aber ich muß Sie schon morgen früh oder eigentlich schon in dieser Nacht wieder verlassen, denn ich muß bei guter Zeit wieder in Nimes sein, wo ich noch eint Zahlung in Empfang zu nehmen habe, ehe ich nach Montpellier abreise. Ich bin von Nimes zu Fuße hierher gekommen und werde wohl auch den Rückweg zu Fuße machen müssen. Es ist aber ein starker Marsch.«

»Nein, Du sollst reiten.«

»Wie meinen Sie das?«

»Ich habe ein Pferdchen, auf dem ich meine kleinen Touren in der Gegend mache. Ich empfehle Dir nur, nicht zu viel von ihm zu verlangen, denn das gute Thier ist gewöhnt, sich Zeit zu nehmen und nur im Schritt zu gehen, da ich, wie Du denken kannst, nicht der beste Reiter bin. Ich gebe es Dir auch nicht, damit Du Zeit ersparen, sondern nur, damit Du nicht müde werden sollst.«

»Aber was soll ich mit dem Pferde anfangen, wenn ich nach Nimes komme?«

»Weißt Du die Straße des Arénes?«

»Ja wohl.«

»In dieser Straße wohnt ein Bäcker, Namens Simon. Diesem übergieb das Pferde er schickt es mir morgen oder übermorgen zurück, was er schon oft gethan hat.«

»Gut, das werde ich thun.«

»Sieh,« sagte der Pfarrer, indem er aufstand und aus dem offnen Fenster zeigte, »Du gehst über den kleinen Hof und öffnest die Thür, die Du dort links siehst, das ist Coquets Stall. Mein Pferd heißt nämlich Coquet. Du sattelst und zäumst ihn, setzest Dich darauf und reitest aus der andren Thür fort, die auf das Feld führt. Auf diese Weise störst Du Niemanden, denn wir, Toinette und ich, schlafen bis sieben Uhr. Und jetzt, da wir dies Alles in’s Reine gebracht haben, umarme mich noch einmal, mein lieber Junge, denn ich kann es nicht beschreiben, wie glücklich ich bin, Dich zu sehen. Wir wollen noch von Deinen Eltern und von Dir sprechen.«

Jean umarmte seinen Oheim und sie begannen dann ein Gespräch über seine Familie. Bald darauf erschien Toinette und brachte die verlangte Flasche nebst etwas Backwerk.

»Du bleibst zwar jetzt nur einige Stunden bei mir,« sagte der Pfarrer, indem er sich niedersetzte und Jean neben sich Platz nehmen ließ; aber ich hoffe. Dich bald wiederzusehen und Dich länger bei mir behalten zu können. Und Deine Eltern müssen mich auch besuchen, denn ihnen wird es gewiß leichter, sich von ihrem Geschäft zu trennen, als mir, meine Heerde zu verlassen. Was sollte aus dieser werden, wenn sie keinen Hirten hätte!«

»Sie werden gewiß hier sehr geliebt, lieber Oheim?«

»Ja, das ist wahr, daß der Herr Pfarrer die allgemeine Liebe und Achtung genießt,« sagte Toinette, indem sie zwei Gläser auf den Tisch setzte. »Er ist auch ein seelenguter Mann. Werden Sie es wohl glauben, daß er seit acht Tagen die ganze Umgegend durchstreift hat, um Beiträge für die Armen einzusammeln, und daß er zwölfhundert Franken in schönen neuen Silbermünzen nach Hause gebracht hat, welche dort in einem Beutel stehen?«

»Zwölfhundert Franken?« rief Jean; »das ist sonderbar!«

»Was ist denn Sonderbares dabei?« fragte Reynal.

»Wenn Sie mir versprechen, mich nicht auszuschmälen, so will ich Ihnen ein Bekenntniß machen.«

»Dich ausschmälen, nach dem Briefe, den Dein Vater mir geschrieben hat, und heute, wo wir uns zum ersten Male sehen? Sprich, mein Sohn, und sei ganz ohne Sorgen, ich werde Dir nichts sagen, besonders da Du gewiß keinen großen Fehler begangen haben wirst.«

»O ja, lieber Oheim, ein Fehler ist es, aber ich habe ihn begangen fast ohne es zu wollen, und die Zahl von zwölfhundert Franken erinnert mich, daß ich Ihnen denselben bekennen muß.«

»Was ist es denn?«

»Denken Sie sich, lieber Oheim, an dem Tage, an welchem ich nach Lyon kam, luden mich die Commis des Handlungshauses, an das ich adressirt war, zu einem Diner ein. Sie tranken auf meine Gesundheit, ich auf die ihrige, und da ich die Gesundheit eines Jeden von ihnen erwidern, also so viel Glaser Wein allein trinken mußte, als sie zusammen getrunken hatten, so war ich nach der Mahlzeit ziemlich aufgeräumt.«

»Nun, das ist keine große Sünde.«

»Es ist auch noch nicht Alles, lieber Oheim. Nach dem Essen gingen wir fort und die Herren führten mich in ein Spielhaus.

»In ein Spielhaus?« sagte der Pfarrer, indem er mit einem schmerzlichen Ausdruck die Hände faltete.

Ja, lieber Oheim, aber nur um es mir zu zeigen und durchaus ohne die Absicht, selbst zu spielen oder mich dazu zu verleiten. Der Zufall wollte, daß ein Mann, der sehr ängstlich spielte und fünf Franken auf Roth gesetzt hatte, sein Geld wieder zurücknehmen wollte, ehe abgezogen war; aber der Croupier — ich weiß jetzt alle diese Namen,« sagte Jean lächelnd — »wollte es nicht erlauben, indem er sagte: gesetztes Geld sei gespieltes Geld. Der arme Mann schien darüber so betreten zu sein, daß er mich dauerte und daß ich zu ihm sagte, indem ich ihm fünf Franken gab:

»— Wenn Sie es erlauben, mein Herr, so will ich Ihren Platz einnehmen.«

»Er wllligte ein. Ich schwöre es Ihnen, lieber Oheim, daß sich bei dem, was ich that, eigentlich keine andre Absicht hatte, als dem armen Manne sein Fünffrankenstück zurückgeben zu können, das vielleicht sein ganzes Vermögen war, nicht aber mein Glück zu versuchen.«

»Und Du verlorst?« fragte der Pfarrer, welcher glaubte, dies sei das Verbrechen, welches sein Neffe begangen hatte.

»O nein, ich gewann. Ich ließ die zehn Franken stehen und gewann wieder. Jetzt wollte ich den Versuch aufs Aeußerste treiben und fuhr so fort. Wissen Sie was ich gewonnen habe, lieber Oheim?«

»Nun?«

»Rathen Sie!«

»Vielleicht fünfzig Franken.«

»Zwölfhundert Franken, lieber Oheim, zwölfhundert!« —

»Zwölfhundert Franken! wäre es möglich?« rief der Pfarrer erstaunt.

»Bei dem Anblick dieser Summe verließ mich der Muth, ich fürchtete sie wieder zu verlieren und raffte daher meine zwei Bankbillets von fünfhundert Franken und zehn Napoleons zusammen. Ich hatte sehr wohl daran, denn das nächste Mal gewann Schwarz. Dies ist der Fehler, den ich begangen habe, lieber Oheim und wenn Sie es erlauben, will ich ihn wieder gut machen, indem ich Ihnen die gewonnenen zwölfhundert Franken für Ihre Armen gebe.«

»Nein, mein Sohn, behalte sie, aber wende sie gut an und erinnere Dich dabei, daß das Spiel die schlimmste aller Leidenschaften und daß ein Spieler der gefährlichste aller Menschen ist.«

»Zwölfhundert Franken in zehn Minuten!« rief Toinette, welche diese Erzählung mit offnem Munde angehört hatte. »Wenn man bedenkt, daß es Menschen giebt, welche zwölfhundert Franken in zehn Minuten verdienen können, während der Herr Pfarrer, der heiligste Mann auf der ganzen Welt, diese Summe in einem ganzen Jahre erhält und ich sie erst in acht Jahren verdiene1«

»Du hörst, was Toinette sagt, mein Sohn,« sprach der Pfarrer; ich brauche nichts weiter hinzu zu fügen!«