Ein Leben in zwei Welten

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Ein Leben in zwei Welten
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Das Buch

Die Geschichte einer Familie, die durch Träume und Vorahnungen über Generationen hinweg zu Babaji, einem Mahavatar im Himalaya, fand.

Vollgepackt mit mystischen Erfahrungen, einzigartigen Begegnungen und wertvollen Lehren. Gottlinde Tiedtke nimmt die Leser mit auf eine fantastische spirituelle Reise. Sie erzählt von unglaublichen Begebenheiten in den Wirren des Ersten und Zweiten Weltkrieges, von den außergewöhnlichen Erfahrungen einer achtjährigen Ordenszeit bei der Self-Realization Fellowship, gegründet von Paramahansa Yogananda, und von unvergesslichen Augenblicken bei Babaji, den sie mit ihrer Familie über sechs Jahre lang am Fuße des heiligen Berges Kailash in Indien besuchte.

Die Autorinnen

Gottlinde Tiedtke

Geboren 1940 in Dresden. Geprägt durch ihr Elternhaus wurde Gottlinde Tiedtke bereits in frühester Jugend mit christlicher Mystik, Traumdeutung und den Schriften bekannter Philosophen und indischer Meister konfrontiert. Als sie 1950 die von Paramahansa Yogananda verfasste „Autobiographie eines Yogi“ las, ging sie sieben Jahre später im Alter von 17 Jahren nach Los Angeles und trat der Self-Realization Fellowship bei. Acht Jahre später änderte sich ihr Leben schlagartig. Sie heiratete und gründete eine Familie. 1979 las sie das Buch „Babaji – Botschaft aus dem Himalaya“ von Dr. Maria-Gabriele Wosien und erkannte in ihm den Babaji aus Yoganandas Lehren wieder. Sie reiste nach Indien und wurde seine Schülerin.

Alexandra Thurmayr

Wurde 1967 in München geboren. Die Geschichten ihrer Großmutter Johanna und ihr Talent als Kartenlegerin haben ihr die Augen dafür geöffnet, dass sich vieles auf dieser Welt nicht mit dem Verstand erklären lässt. Als Teenager reiste sie mit ihren Eltern nach Indien und wurde stark von der Zeit in Babajis Ashram in Haidakhan geprägt. Nach dem Studium arbeitete sie als Werbetexterin für renommierte Agenturen. Seit 20 Jahren ist sie freiberuflich als Texterin, Autorin und Redakteurin für Hochglanzmagazine und international agierende Verlage tätig.

Gottlinde Tiedtke

Alexandra Thurmayr

Ein Leben in zwei Welten

Eine Zeitreise zu Babaji



„Ihr, die ihr Leid tragt, fürchtet nicht die

Begrenzung der Zeit, denn ich werde zu euch

kommen und euch lehren im Traum.“

Babaji


Ich träumte, ich war in einem Haus. Es war mein Haus und doch sah es ganz anders aus, es fühlte sich vertraut an. Ich ging durch einen Gang, öffnete eine Tür. Dahinter war mein Zimmer, ich war mir ganz sicher, aber stattdessen eröffnete sich ein großer neuer Raum vor mir. Er führte zu einem anderen Haus, einem, das ich mir schon immer erträumt hatte. Eines, das nach meiner Kindheit roch, einem Versprechen von Glück und einer Liebe so groß wie der Ozean. In diesem Moment erwachte.

„Es gibt eine unsichtbare Welt, die unsere sichtbare durchdringt.“

Gustav Meyrink


Familienbild v. l. n. r.: Johanna mit Bruder Helmuth, Vater Bruno, Mutter Tosca und Sohn Gerhard

Inhaltsverzeichnis

Umschlag

Das Buch/ Die Autorinnen

Titel

Vorwort

Inhaltsverzeichnis

Die Gabe

Die Truhen und der Teufel

Das Ende der Kindheit und eine fantastische Begebenheit

Johannas große Liebe und ein Traum

Die Obstbäume, ein Zauberpulver und ein Geist

Johanna und die Vorhersehung

Gottlinde und der Klabautermann

Der Untergang

Die Russen und die Rettung

Der Garten - Ein unheimliches Gefühl

Das lebensrettende Traumbüro

Das seltsame Porzellanspiel

Die Weisheit der Karten

Die Flucht

Heidenau, ein Yogi und ein Poltergeist

Hollywood - Das India Center

SRF - Jahre der Selbstverwirklichung

Tausendundein Rezept für Spiritualität

Die stärkste Macht der Welt

Die Prophezeiung

Kecap und viel Herzblut

Hans und der Sinn des Seins

Babaji stellt die Weichen

babaji - die erste Begegnung

Von Vrindavan nach Haidakhan

Delhi und ein Lebenstraum

Die Entlarvung

Shivas Tanz

Wie alles zusammenhängt - Leben für Leben

Babaji ist keine Religion, sondern Wahrheit, Einfachheit und Liebe

Sadhus, Dämonen und ein Weltenwandler

Karma Yoga

Der Himmel ist in uns und alle Wege führen zu Babaji

Herr der Elemente

Gott kennt keine Grenzen - er ist wahre Liebe

Ein Koch, ein Schirm und eine Schlange

Die große Reise

Ein Abschied, der keiner ist

Haidakhan ist überall – Jahre der Erkenntnis

Von der Überwindung des Geistes und dem anderen Haidakhan

Ein Buddha, ein Kind und ein König, der den Kopf verliert

Epilog

Briefe aus Haidakhan

Hansu Babas Tagebuch

Chandras Tagebuch

Babajis Lehren

Glossar

Literaturhinweise

Fußnoten

Impressum

Die Gabe

Man hatte meiner Mutter wohl die Gabe der Traumvorhersehung in die Wiege gelegt. Bereits im Alter von fünf Jahren träumte sie alltägliche und auch erschreckende Dinge voraus. Die Träume sollten es sein, die unser aller Leben über Generationen hinweg bestimmen und leiten sollten.

„Na, wie haben wir denn heute Nacht geschlafen?“, fragte mein Großvater meine Mutter, während er gemütlich auf der Ofenbank saß und in der bunten Kaffeemühle den Frühstückskaffee mahlte. Die Luft war durchtränkt vom Duft frisch gemahlenen Kaffees.

 

„Papa, ich habe geträumt, dass sie heute einen Toten bringen, und du musst da sein zum Unterschreiben“, erzählte meine Mutter eifrig.

Mein Großvater war Schulleiter, zweiter Bürgermeister und Kantor. Kurz nach dem Frühstück klopfte es und der Gemeindehelfer stand vor der Tür.

„Herr Kantor, wir haben einen Toten dabei, anscheinend wieder ein russischer Gefangener, der sich verirrt hat. Wir brauchen Ihre Genehmigung für die Durchfahrt nach Sebnitz.“

Mein Großvater nickte und unterschrieb.

Wir schrieben das Jahr 1914 und der Erste Weltkrieg hatte gerade begonnen. Russische Gefangene wurden zur Zwangsarbeit verpflichtet und nutzten jede Gelegenheit zur Flucht. Dann verirrten sie sich in der steinigen, kargen Landschaft der sächsischen Schweiz und starben kläglich.

Meine Mutter war unerschrocken und neugierig. Es reizte sie ungemein, den Toten genau zu studieren. In einem Augenblick, in dem sie sich unbeobachtet wähnte, zog sie leicht an dem Tuch, das sein Gesicht bedeckte.

Ihr Vater ertappte sie und fragte leise: „Ist das der Mann aus deinem Traum?“

„Ja, ich erkenne ihn wieder, genau so sah er aus.“

Für meinen Großvater war dieser Vorfall nicht außergewöhnlich. Meine Mutter hatte schon oft etwas vorausgeträumt und empfand diese Fähigkeit als vollkommen normal, ja sie glaubte sogar, dass jeder über sie verfügte.

Meine Mutter war die Älteste von sechs Geschwistern, benannt nach der Heiligen Johanna von Orleans, die meine Großmutter zutiefst bewunderte. Diese war eine sehr resolute Frau, klein von Gestalt, aber mit außergewöhnlichen Fähigkeiten gesegnet.

So wie auch meine Urgroßmutter Katharina, die bereits zur damaligen Zeit viel Aufsehen auf sich zog, als sie ganz in Schwarz gekleidet mit ihrer Kutsche bei Wind und Wetter über die Kämme des Erzgebirges fegte, um das von ihren Sägemühlen erwirtschaftete Geld einzutreiben.

Meine Urgroßmutter Katharina hatte ihrem Mann das Leben gerettet, als die Franzosen ihn 1870 im Krieg erschießen wollten.

An einem schönen Sommertag sah sie die Feinde von weitem kommen und band ihn kurzerhand unter das Mühlrad, wo er unentdeckt blieb – und überlebte.

Nach zwölf Ehejahren starb mein Großvater und ließ sie mit zwölf Kindern zurück. Jedes von ihnen trug einen Namen aus einer Oper: Tristan, Isolde, Melusina, Aida, Carmen, Salome, Giovanni, Othello, Genoveva, Daphne, Carlos und Tosca.

Meine Großmutter Tosca wurde im November 1882 geboren. Sah man von einem missgestalteten Klumpfuß ab, war sie von schöner Statur. Sie hatte dunkelbraune, fast schwarze Augen, denen nichts zu entgehen schien. Ihre langen dunklen Haare trug sie immer in einem strengen Dutt. Meine Großmutter war pragmatisch, schon damals sorgte sie dafür, dass jedes ihrer Kinder eine gute Ausbildung erhielt. Das galt auch für meine Mutter, die wie sie zur Diakonissenschwester ausgebildet wurde.

Was meine Großmutter Tosca aber wirklich auszeichnete, waren ihre intuitiven Fähigkeiten. Nachdem sie viele Jahre als Krankenschwester gearbeitet hatte, entschied sie sich eines Tages, auf Bitten eines Arztes eine Stelle in der nah gelegenen Heilanstalt für psychisch kranke Menschen anzunehmen.

Meine Mutter interessierte sich brennend für die Geschichten der sogenannten „Verrückten“.

Einmal erzählte meine Großmutter von einer Frau, die in jeder ihrer Schwangerschaften derart durchdrehte, dass ihr Mann sie in einem Möbelwagen anliefern musste, da sie wild um sich schlug und alles demolierte. Obwohl sie eine zarte Person war, hatte sie eine unglaubliche Kraft. Niemand traute sich an sie heran, aber meine Großmutter ging ruhig und gefasst auf sie zu, sah ihr in die Augen und sprach mit ihr. Dann wurde die Frau ganz handsam und benahm sich wie ein erschöpftes Kind.

Kurz nach der Geburt waren alle Symptome verschwunden und sie war wieder vollkommen normal.

Eine andere Frau, eine sehr vornehme Dame, die von ihrem Mann betrogen worden war und dies nicht verwinden konnte, hatte meiner Großmutter aus Apfelkernen und Haar in mühseliger und unvorstellbarer Feinarbeit einen ganzen Mantel geknüpft. Als diese Frau dann Jahre später starb, schlug die Uhr, obwohl diese sonst niemals zu dieser Stunde die Zeit verkündete.

Während der Erste Weltkrieg tobte, wurden viele Ärzte an die Front geschickt. Die Frauen traten an ihre Stelle, mussten die Kranken pflegen und manchmal sogar den Mediziner ersetzen. Meine Großmutter war pausenlos im Einsatz, denn nach ihrer Heirat hatte man sie zur Assistentin des hiesigen Landarztes erkoren. Als auch dieser einberufen wurde, war sie auf sich selbst gestellt. Dank ihrer Intuition und ihrem Wissen war sie sehr schnell im ganzen Umkreis bekannt. Sie arbeitete mit Kräutern, Homöopathie und Handauflegen.

Schließlich war Krieg und es gab kaum Medikamente.

Einmal kam ein Junge zu ihr, der sich den Griff einer Holzgabel ins Auge gerammt hatte. Der Augapfel hing weit heraus. Meine Großmutter desinfizierte kurzerhand die Augenhöhle und drückte den Augapfel wieder an seinen Platz zurück. Der Junge bekam keine Infektion und behielt sein Augenlicht.

Was Großmutter Tosca und meine Mutter Johanna verband, war eine Gabe, die sich mehr als einmal auch als Fluch erweisen sollte. Johanna war eine Seherin, sie wusste weit vor der Zeit, wenn ihre Patienten dem Tod geweiht waren. Auch sprachen diese innerlich zu ihr, bevor sie ihre Augen schlossen, und verabschiedeten sich. Jedes Mal schlug dann die Uhr zu einer unerwarteten Zeit, ein Glas zersprang und kurz darauf erzählte sie uns, wer gegangen war.

Die Truhen und der Teufel

Oftmals rief man meine Großmutter spät in der Nacht:

„Frau Kantor, können Sie bitte kommen, da ist wieder einer, der nicht sterben kann.“


Großmutter Tosca als Diakonissin mit ihrer Schwester Isolde

Es war eine Zeit voller Aberglauben und Hexerei.

Viele überlieferte Sagen rankten sich um das raue Erzgebirge. Wenn jemand nicht sterben konnte, dann glaubte man, dass er es mit dem Teufel hielt.

Meine Großmutter berichtete von vielen solchen Fällen. Oft sagte sie dann: „Ja, mit dem lieben Gott hat dieser es nicht zu tun haben wollen. Ich habe ihm Pferdedung auf den Kopf gelegt, damit er endlich die Augen schließen konnte.“

Ich war nicht sonderlich erstaunt über solche Äußerungen.

Zu jener Zeit wusste jeder im Erzgebirge, dass es mehr zwischen Himmel und Erde gab. Man wusste um Schwüre, seltene Kräuter, Nixen, Feldgeister, Kobolde, Riesen, Waldteufel, die Macht der Magie.

Noch dazu wohnten meine Großeltern in einer alten Schule, in der oftmals unheimliche und unbegreifliche Dinge vor sich gingen. Man hörte seltsame Geräusche, flüsternde Stimmen, Sachen verschwanden oder bewegten sich auf unerklärliche Weise.

Oft erzählte meine Mutter von einem ganz besonderen Spuk, der sich immer auf dem alten Dachboden ereignete, wenn die „große Wäsche“ gemacht wurde:

Gewaschen wurde nur alle vier Wochen im separat gelegenen Waschhaus. Jedes Mal galt es, einen riesigen Berg Wäsche zu bewältigen. Der große Kessel wurde den ganzen Tag mit Holz beheizt, um dann Bottich für Bottich befüllt zu werden. Nach dem Kochen lief die Wäsche durch eine große Presse. Bei schlechtem Wetter wurde die Wäsche auf dem alten Dachboden getrocknet.

Der Schuldachboden war ein unheimlicher Ort. Voller Spinnweben und dunkler Nischen. Man lief über knarrende, staubige Dielen.

Nur spärlich drang das Tageslicht durch die Dachsparren und es roch nach Kräutern, die meine Großmutter dort trocknete.

Jedes Mal, wenn meine Mutter dort oben die Wäsche aufhängte, vernahm sie dicht an ihrem Ohr, manchmal auch in weiter entfernter Distanz eine Stimme, die sie bei ihrem Namen rief. Jedes Mal lief sie dann die alte Holztreppe mit den ausgetretenen Stufen hinunter und fragte meine Großmutter: „Was ist, hast du mich gerufen?“

Eines Tages, als dies wieder passierte, nahm ihre Mutter sie zur Seite, strich ihr durchs Haar und sah sie mit ihrem durchdringenden Blick an: „Hör nicht hin, wenn sie dich rufen, und hab keine Angst.“

Meine Mutter versuchte ihren Rat zu beherzigen, doch nicht immer gelang ihr das. Manchmal waren die Stimmen einfach zu unheimlich und sie fühlte eine dumpfe, negative Energie. Dann sputete sie sich und rannte so schnell sie konnte davon.

Noch etwas Geheimnisvolles befand sich auf diesem Dachboden: zwei große, reich verzierte alte Holztruhen.

Es hieß, sie wären aus der Zeit, in der die Pest gewütet hätte. Jeder, der sie geöffnet hätte, wäre gestorben.

Meine Mutter war die Erstgeborene. Neben ihren Brüdern Karl, Gerhard und Helmut hatte sie zwei Schwestern namens Ruth und Gudrun.

Die Truhen übten einen ganz besonderen Reiz auf die Kinder aus. Gleich einer Mutprobe setzten sie sich darauf, baumelten mit den Beinen und warteten. Dann dauerte es nicht lange, bis sie Stimmen vernehmen konnten, die ihre Namen riefen. Manchmal flüsternd neben sich, manchmal in langsam ziehenden Tönen von überall.

In Rekordgeschwindigkeit rutschten sie dann von den Truhen und rasten in wilder Panik mit Donnergetöse die ausgetretenen knarrenden Stufen hinunter.

Oft spürten sie auch einen eisigen Luftzug oder einen kalten Hauch, der sie umhüllte – trotz des warmen Sommers.

Jahre später, als die alte Schule einer neuen weichen musste, hatte man die Truhen geöffnet.

Es seien wunderschöne, reich bestickte und verzierte Kleider darin gewesen. Dennoch hatte man sie vorsichtshalber zusammen mit den Truhen verbrannt.


Spukschule mit Glockenturm

Neben all den merkwürdigen Vorgängen, die sich auf dem Dachboden der alten Schule ereigneten, sorgte auch eine alte Glocke für Gesprächsstoff.

Der alte Wirt im Ort hatte all sein Hab und Gut verloren und war auf unerklärliche Weise zu viel Geld gekommen. Man munkelte, er würde es mit dem Teufel halten. Eines Tages erklärte dieser Gastwirt, dass er mit einem Pferdefuß begraben werden wolle, man sollte ihm diesen auf die Brust legen. Der ansässige Pfarrer gewährte ihm diesen Wunsch natürlich nicht, worauf der Alte wutschnaubend kundtat, dass zur Strafe in jedem Jahr an dem Tag, an dem sich sein Todestag jährte, die alte Glocke auf dem Schulboden ertönen würde.

Als der Gastwirt eines Nachts zur Mitternachtsstunde verstarb, verspottete jeder im Dorf den alten Kauz. Doch prompt ein Jahr später, als bereits niemand mehr an die Drohung dachte, begann die Glocke genau an seinem Todestag zu schlagen.

Erst sprach man von einem Zufall, doch dann wiederholte sich das Ereignis im nächsten und auch im kommenden Jahr.

Nun nahmen die Dorfbewohner den Glockenschlag nicht mehr so heiter hin, sie bekamen es mit der Angst zu tun.

In einem Jahr, in dem die Glocke gar nicht mehr aufhörte zu schlagen, entschied man sich, auf den Dachboden zu klettern, um diese zu stoppen, doch dies war ganz und gar unmöglich, die Glocke schlug und schlug.

Schließlich musste man sie demontieren, nur so konnte man dem Spuk ein Ende setzen.

Auch mein Großvater Bruno, der ein sehr belesener Mann mit scharfem Intellekt war, wusste gespenstische Geschichten zu erzählen. So war er in seiner Jugend mit einem Bauern auf einem Floß einen Fluss entlanggefahren. Es hatte ihn sehr verwundert, dass der Mann mehrere große leere Milchkannen mit sich führte. An den Henkel jeder Kanne war ein Seil gebunden, das in die Kanne ragte. Bald kamen sie an einem anderen Bauern vorbei, der am grasigen Ufer seine Kuh melkte. Prompt begann der Mann auf dem Floss fest an dem Seil zu ziehen, fast so, als würde er das Seil melken. Mein Vater staunte nicht schlecht, als sich die Kanne zusehends mit Milch füllte.

Der melkende Bauer am Ufer brachte in der Zwischenzeit keinen Milliliter Milch aus dem Euter seiner Kuh heraus.

Er schrie hinüber zum Floß, kam ans Ufer gelaufen, fluchte und hantierte wild mit seinen Händen in Drohgebärden. Doch der Bauer auf dem Floß lachte nur. Dieses wundersame Ereignis soll sich die ganze Fahrt über bei jedem Bauern, den sie passierten, so oft wiederholt haben, bis all die mitgeführten Milchkannen gefüllt waren. Für meinen Großvater war es pure Hexerei, nichts von all dem war mit logischem Menschenverstand erklärbar, und doch, wenn er die Geschichte erzählte, zweifelte sie niemand an.

 

Kommen wir zurück auf meine Großmutter. Sie wurde nicht nur für medizinischen Beistand, sondern bei nahezu jedem Problem gerufen. Ich kann mich noch genau entsinnen, wie einmal ein Bauer auf sie zukam, dessen Kühe dick aufgeblähte Euter hatten und keine Milch geben konnten. Meine Großmutter nahm Salz, streute es in jede Ecke des Stalls und betete dazu jedes Mal ein Vaterunser.

Nach einiger Zeit gaben die Kühe wieder Milch.

Doch als sie das Anwesen des Bauern verlassen wollte, um nach Hause zu gehen, kam ein anderer Bauer drohend auf sie zu: „Wenn du dich noch einmal in meine Angelegenheiten mischst, dann kannst du aber etwas erleben“, schrie er.

Da wusste sie, dass der eine Bauer den anderen verflucht hatte. In diesem Fall erwies sich die Angelegenheit auch für meine Mutter als äußerst unangenehm, denn bei dem wutentbrannten Bauern handelte es sich um den Vater ihrer Freundin Hildchen, durch die sie so manche Annehmlichkeit genoss.

Dazu muss ich vorausschicken, dass meine Großeltern sehr entlegen und einsam wohnten. Das einzige Vergnügen, das meine Mutter als Kind hatte, war der Besuch des Kinos im nächsten, einen zweistündigen Fußmarsch entfernten Ort. Das Kino war eigentlich nicht mehr als ein Zimmer mit Leinwand und dem Projektor in einem Gasthof.

Dort saß man auf roten abgewetzten Gartenstühlen und konnte einmal in der Woche einen Stummfilm in Schwarz-Weiß ansehen.

Eifrig hatten sich die Kinder die elegante Attitüde und die Gestik der damals populären Stummfilmstars abgeschaut. Hildchen verfügte seltsamerweise immer über Geld, das sie auch großzügig für meine Mutter ausgab.

Das war eine wunderbare Sache.

Sommer wie Winter saßen die beiden in diesem Kino. Mit nackten Füßen in Holzschuhen oder in kratzenden schwarzen Strümpfen und wenn möglich immer mit einer kleinen Flasche Apfelsaft bewaffnet.

Da meine Mutter kein Taschengeld bekam, lud Hildchen sie oft ins Kino ein. Ein bisschen verwunderte es sie schon, dass Hildchen immer so viel mehr Geld zur Verfügung hatte als sie, und es sollte nicht lange dauern, bis sie begriff, warum das so war.

Als die beiden wieder einmal ins Kino wollten, beobachtete meine Mutter, wie ihre Freundin die Küchenschranktür öffnete und eine Tasse herausnahm, aus der sie das Geld für die Kinokarten entnahm. Doch verwunderlicherweise wurde das Kleingeld in der Tasse nicht weniger, die Tasse blieb randvoll.

Meine Mutter muss ihre Freundin wohl derart erstaunt angesehen haben, dass diese ihr ins Ohr flüsterte: „Wir haben doch das Hänschen, das darfst du aber niemals, schwöre es bei deinem Leben, irgendjemandem sagen.“

Zu Hause konnte meine Mutter natürlich nicht den Mund halten und berichtete ihrem Vater sogleich von der seltsamen Begebenheit.

Mein Großvater, der immer genau wusste, was sich im Dorf so tat, nickte nur und meinte, meine Mutter solle da mal lieber vorsichtig sein und kein Geld mehr von Hildchen nehmen. Nicht dass das „Hänschen“ auch noch im Haus der Großeltern Einzug halten würde.

Das „Hänschen“ war ein liebevoller Ausdruck für einen ausgewachsenen Dämon, der durch schwarzmagische Rituale heraufbeschworen wurde.

Die beiden besuchten dennoch weiter das Kino. Meine Mutter allerdings nicht mit den durch „Hänschen“ erworbenen finanziellen Zuwendungen – ihre Eltern zahlten fortan für sie.

Der Marsch zum Kino blieb meiner Mutter vor allem aber auch noch aufgrund anderer aufregender Begegnungen im Gedächtnis.

Einmal fuhr eine prächtige Karosse mit Fahne und Wappen an den zwei Freundinnen vorbei und bot ihnen eine Mitfahrgelegenheit an. Ein sehr gut angezogener Herr, der ihnen viele Fragen stellte, saß darin: Wie es ihnen denn so ginge und ob sie genug zum Essen hätten, wollte er wissen. Bereitwillig berichtete meine Mutter, dass sie vier Ziegen und ein paar Hühner hätten und auch ein Schwein namens Moritz. Als die Kutsche ihr Elternhaus erreichte, stand ihr erstaunt dreinblickender Vater am Fenster: „Was macht ihr denn beim König von Sachsen?“

Meine Mutter und ihre Freundin hatten natürlich keine Ahnung gehabt, dass sie sich in so nobler Gesellschaft befunden hatten.

Zu einem anderen Zeitpunkt war es ein Automobil, das für die Kinder stoppte. Damals war das eine absolute Seltenheit.

Der Chauffeur fragte die zwei, ob man sie mitnehmen dürfe. Hocherfreut, in so einem exotischen Gefährt mitfahren zu dürfen, willigten sie ein. Ein imposanter Mann saß auf dem Rücksitz. Meine Mutter war ein äußerst redseliges Kind und beantwortete all seine Fragen bereitwillig: „Kannst du denn schon lesen?“

Sie hatte ihm erzählt, dass sie eine echte Leseratte sei, sie lese alles, was ihr unter die Finger komme, am liebsten aber Indianergeschichten von Karl May.

„Soso, das freut mich aber“, habe der Mann schmunzelnd bemerkt.

Dann habe er eine große schwarze Ledertasche geöffnet, die zu seinen Füßen stand, und daraus zwei neue Bände von „Old Shatterhand“ gezogen. Er signierte sie und schenkte die Bücher meiner Mutter und Hildchen. Karl May hatte seinen Chauffeur sogar angewiesen, die zwei in die Schule zu fahren.

Leider ist diese handsignierte Ausgabe in den Wirren des Zweiten Weltkrieges abhandengekommen.

Inzwischen erreichte der Erste Weltkrieg seinen Höhepunkt.

Mein Großvater wurde an die Front geschickt.

Meine Großmutter kümmerte sich um die vielen Verwundeten. Als Älteste war sie jetzt für fünf Geschwister, vier Ziegen, zwanzig Hühner und das Schwein Moritz verantwortlich.

Um Nahrung zu finden, musste sie weite Fußmärsche unternehmen, besonders schlimm war der Rückweg mit dem schweren Rucksack. Bald gab es weit und breit keine Vorräte mehr. Die Familie aß das, was sonst dem Schwein verfüttert wurde. Das Schwein zu schlachten war inzwischen verboten.

Trotzdem fiel der geliebte Moritz dem Hunger zum Opfer und wurde heimlich geschlachtet – das ausgerechnet an dem Tag, als eine örtliche Kontrolle des Landtages bei meinen Großeltern vorbeischaute. Tosca hatte die kleine Delegation geistesgegenwärtig im Garten abgefangen. Sie lenkte sie ab und zeigte ihr die übrig gebliebenen letzten zwei Hühner und die abgemagerten Ziegen.

„Ach, Frau Kantor, sie haben ja gar kein Schwein. Na, dann können wir ja wieder gehen“, hatte einer der Männer gesagt.

In der Küche kochte derweil in großen Töpfen die Wurstration, die alle eine ganze Weile über Wasser hielt.

Tosca war äußerst penibel und hatte einen ausgeprägten Putzwahn. Für meine Mutter Johanna bedeutete das, dass sie zwei Mal am Tag die rauen Sandsteinstufen des Schulhauses putzen musste. War das geschehen, kontrollierte Tosca ihre Arbeit mit dem Zeigefinger. In die gute Stube, das Wohnzimmer, durften Johanna und ihre Geschwister nur zu Weihnachten. Dort auf dem Biedermeiersofa saß auch Johannas wunderschöne Kugelgelenk-Porzellanpuppe Gerda. Spielen durfte sie nicht mit ihr. Sie durfte sie nur anschauen.

Als endlich das Kriegsende nahte, hatten die Kinder durch die einseitige Ernährung überall Geschwüre. Johannas Bruder Gerhard hatte die Ruhr. Er hatte Gänsedreck gegessen.


Stillleben mit Schinken v. r. n. l.: Vater Bruno, Metzger, Tosca mit Tochter Ruth, Sohn Karl und hinter der Leiter Tochter Gudrun

Mein Großvater kam heil von der Front zurück. Abgemagert und verstört durch die unglaublich schrecklichen Erlebnisse versuchte er, sich wieder in einer fast normal wirkenden Welt zurechtzufinden.

Bald darauf wurden meine Großeltern in eine andere Landschule im Erzgebirge versetzt.

Es war eine sehr arme Gegend, in der es viele Leinenweber gab. In den Küchen hing ein geräucherter Hering über dem Holztisch, an dem man seine Kartoffel rieb, damit sie ein bisschen mehr Geschmack hatte – mehr gab es nicht.

Alternativ wurde die obligatorische Pellkartoffel mit „Brächelsalz“ gegessen – eine in etwas Fett angeröstete dicke Paste aus Mehl und Salz.

Das Lieblingsessen meiner Mutter war Rauchemat: Eine geriebene gekochte Kartoffel, die mit etwas Mehl vermischt, in eine gebutterte Pfanne gedrückt und dann auf einer Seite knusprig gebraten wurde.