Wer ist schon alt?

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Wer ist schon alt?

Eine Kulturgeschichte des Alterns


Juliane Haubold-Stolle

Alexander Schug

Wer ist schon alt?

Eine Kulturgeschichte des Alterns


Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN (eBook, epub): 978-3-940621-59-7

Lektorat: Steffi Kühnel

Grafisches Gesamtkonzept, Titelgestaltung, Satz und Layout: Stefan Berndt – www.fototypo.de

© Copyright: Vergangenheitsverlag, Berlin /2010

www.vergangenheitsverlag.de

Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen und digitalen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten.

Inhalt

Einleitung

Wer ist schon alt?

Das Alter – Höhepunkt des Lebens oder Grund zur Klage?

Die Alten als Esel – Die Altersverachtung der beginnenden Neuzeit und die Hölle des Dreißigjährigen Krieges

Das Großmütterchen und die Entdeckung des Alters im 19. Jahrhundert

Wendepunkt Rente 1889

Das frühe 20. Jahrhundert – Die Altenlast

„Nicht jeder alte Mensch ist ein wertvoller Mensch“ – die Zeit des Nationalsozialismus 1933 bis 1945

Keine Stunde Null – Altern nach 1945

Alter in der DDR

Das Zeitalter der neuen Alten – oder der Sieg der ewigen Jugend?

Anmerkungen

Einleitung

Das Alter als Lebensphase gewinnt zunehmend an sozialpolitischer Bedeutung. Die Menschen in Deutschland werden immer älter, immer weniger Menschen werden geboren. Vor 100 Jahren lag die durchschnittliche Lebenserwartung für Männer bei 46,4 und für Frauen bei 52,5 Jahren. Heute kann ein neugeborener Junge mit über 80, ein neugeborenes Mädchen mit rund 90 Jahren rechnen. Somit hat sich die Lebenserwartung in diesem Zeitraum nahezu verdoppelt. Immer mehr Menschen werden 90 oder 100 Jahre alt. Deshalb wird sich die Gruppe der über 80-Jährigen in den nächsten 50 Jahren verdreifachen, von heute 3,2 Millionen (3,9 Prozent der Bevölkerung) auf 9,1 Millionen (12,1 Prozent). Die Gruppe der über 100-Jährigen wird ähnlich schnell wachsen von heute rund 10.000 auf über 114.000 im Jahr 2050.

Dass Deutschland altert, zeigt eine andere Tatsache sehr anschaulich: Mittlerweile ist die Pflegebranche zu einem der wichtigsten Zweige der deutschen Wirtschaft aufgestiegen. In der Branche arbeiten inzwischen mehr Menschen als in der Auto- oder der Elektroindustrie sowie im Maschinenbau. Nach einer Studie der TU Darmstadt von 2010 beschäftigte die Pflegebranche hierzulande 1,12 Millionen Menschen. Zum Vergleich: In der Autoindustrie waren es 749.000 Beschäftigte. 1

Das Alter und die Alten sind in den letzten Jahren in der Bundesrepublik zu einem Reizthema geworden. Die Schlussfolgerungen, die aus dem demografischen Wandel gezogen werden, bestimmen die politischen Debatten, insbesondere über die Zukunft des Sozialsystems. Heftig umstritten waren beispielsweise die radikalen Vorschläge des ehemaligen Bundesvorsitzenden der Jungen Union (JU), Philipp Mißfelder, in der Debatte um die Reform der Sozialsysteme. Mißfelder verlangte 2003, die Leistungen der gesetzlichen Renten- und Krankenversicherung müssten auf eine reine Grundversorgung zurückgeschnitten werden. Im Berliner Tagesspiegel erläuterte er, weshalb künstliche Hüftgelenke für sehr alte Menschen nicht mehr auf Kosten der Solidargemeinschaft finanziert werden sollten. Mißfelder glaubte, dass das Prinzip des solidarischen Generationenvertrags längst zu einem „Generationenverrat“ verkommen sei. Die Sozialsysteme bürdeten den jungen Generationen einseitig die Lasten auf. Die luxuriöse Versorgung der Alten könne man sich heute nicht mehr leisten, weshalb sich Mißfelder für eine deutliche Einschränkung der Leistungen bei der gesetzlichen Krankenversicherung aussprach: Die Sozialsysteme seien schließlich „nicht dafür zuständig, dass jeder Senior fit für einen Rentner-Adventure-Urlaub“ sei. „Ich halte nichts davon, wenn 85-Jährige noch künstliche Hüftgelenke auf Kosten der Solidargemeinschaft bekommen“, sagte der damalige Nachwuchspolitiker. Früher seien die Leute schließlich auch auf Krücken gelaufen, erklärte er. 2

Frank Schirrmachers Buch „Das Methusalem-Komplott“, ein Bestseller aus dem Jahr 2004, zeichnete ein ähnlich negatives Bild von der alternden Gesellschaft. Seine Hauptthese: Es werde bald zu einem Altersrassismus kommen, der das gesellschaftliche Miteinander belaste: „Die heute jungen Männer und Frauen, die später die vielen Alten werden, haben deshalb jetzt eine historische Chance: Sie müssen – schon aus Überlebensinstinkt – gegen die Diskriminierung des Alters vorgehen. Tun sie es nicht, werden sie in dreißig Jahren in die seelische Sklaverei gehen.“ Der FAZ-Herausgeber mobilisiere mit seinem Plädoyer jedoch „mittelalterliche Totentänze und martialische Kriegsrhetorik“, um dröhnend und raunend den bevorstehenden „Krieg der Generationen“ anzukündigen, schrieb ein Rezensent in der Süddeutschen Zeitung. 3

Zahlreiche weitere Belege aus den Medien ließen sich anführen, um dem Phänomen „Alter“ den Stellenwert eines Top-Themas zuzuweisen und tatsächlich zu glauben, dass es sich hierbei um eine der großen Herausforderungen der Zukunft handelt. Dabei relativiert die historische Perspektive einiges an Brisanz: Die Beschäftigung mit dem Alter über die Jahrhunderte hinweg ergibt, dass die Einstellung zu den Alten immer problematisch war, dass diese immer auch von den wirtschaftlichen Umständen einer Gesellschaft abhingen und von dem Gedanken der Produktivität der Alten getrieben war – früher noch viel stärker als heute, wo Sozialsysteme, trotz aller Reformnotwendigkeit, den Aufwand der Versorgung der Alten für die Familien abfedern. Insgesamt wird mit der Debatte deutlich, wie sehr die Einstellungen gegenüber Alten ein Spiegelbild des Wohlstands sowie ethischer Standards einer Gesellschaft sind. Das Altern ist somit nicht bloß als biologischer Prozess zu betrachten. Altern ist vielmehr sozial konstruiert und im gesellschaftlichen Kontext zu sehen – und abhängig von der historischen Gemengelage.

Vor allem in den Sozial- und Geisteswissenschaften wird das Altern heute untersucht und die individuellen und subjektiven Erfahrungen der Alten in den Mittelpunkt gestellt. Fragen wie das Altern erlebt und verarbeitet wird, wie das Leben der Alten lebenswert und selbstbestimmt gestaltet werden kann, werden gestellt. Viele Autorinnen und Autoren machen auch deutlich, welchen Innovationsimpuls die Alten einer Gesellschaft geben können oder wie notwendig sie sind – beispielsweise bei der Kinderbetreuung – um überhaupt den jüngeren Generationen, vor allem den Frauen, das Arbeiten zu erlauben. Aber brauchen wir diese Beweisführung der Nützlichkeit von Alten? Wieso reiben sich viele Menschen heute an den Szenarien einer alternden Gesellschaft?

Der historische Blick macht deutlich: Es gibt Konjunkturen der Altersverehrung, aber auch ausgesprochener Altersfeindschaft, die vor allem durch wirtschaftliche Nöte, Kriege, Seuchen, Hunger ausgelöst wurden, so wie im 16. und 17. Jahrhundert, das als die bislang altersfeindlichste Epoche bezeichnet werden kann, einer Epoche, in der die „unproduktiven Alten“ das Überleben der Jüngeren gefährdeten. 4 Das Bild der Alten dieser Zeit hatte kaum noch etwas mit der Alterswertschätzung der Antike zu tun, etwa mit den kraftvollen, weisen Greisen, die Cicero idealisierte. Erst die Aufklärung, insbesondere die in dieser Zeit geschriebenen Anstandsbücher, betonten wieder die Ehrerbietung vor den Alten. So ist auch Lessings (1729-1781) Theaterstück ‚Nathan der Weise‘ als Ausdruck eines gewandelten Bildes des alten Menschen in dieser Zeit zu sehen. Die Zivilisierung der Gesellschaft führte im 18. Jahrhundert schließlich zu Pensionssystemen und der Idee des Wohlfahrtsstaates, der insbesondere auch den Alten zugute kam. Zumindest die materielle Absicherung der Alten als gesamtgesellschaftliche Aufgabe wurde zum erklärten Ziel, auch wenn das zunächst kaum erreicht wurde. Erst im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts kam diese Idee weitgehend zum Tragen, funktionierten die Rentensysteme und konnten die Alten erstmals einen Ruhestand genießen.

 

Angesichts der heutigen Debatten muss gefragt werden, ob die Errungenschaft des Ruhestands noch aktuell ist – und ob wir uns das jetzige Rentensystem noch leisten und die sich abzeichnende Privatisierung des Systems hinnehmen wollen. Letztlich verbindet sich damit die Frage, ob wir uns wieder in eine Phase der Altersfeindschaft begeben – oder ob die ethischen Standards dieser Gesellschaft ausreichen, um Alte als selbstverständlich akzeptierte Gruppe, die keine Belastung darstellt, zu empfinden. Zu letzterem würde auch gehören, sozial-biologistischen Weltbildern und Apologeten der „Überalterung“ Paroli zu bieten. Denn von diesen kulturkritischen Perspektiven ist es nicht weit zu Vorstellungen von der Degeneration des Volkskörpers durch Geburtenrückgang, Individualismus, Geburtenkontrolle, Frauenerwerbstätigkeit. 5 Die Vorstellung einer Überalterung der Gesellschaft war schon um 1900 aufgekommen und hatte im Nationalsozialismus zu den überwiegend erfolglosen Versuchen geführt, durch Zulagen und Auszeichnungen, die Geburtenraten zu steigern, weil man den Untergang der Nation fürchtete – ein durch und durch nationalistisches und sozial-biologistisches Motiv, dessen Kern die „arische Volksgemeinschaft“ war. Um so verwunderlicher ist es, dass dieser Zusammenhang bis heute sozialpolitische Relevanz hat.

Paradoxerweise stehen alle negativen Szenarien des Alterns und der alternden Gesellschaft letztlich im Gegensatz zu dem großen historischen Projekt, die Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern, die medizinische Versorgung zu gewährleisten, in Frieden und Gesundheit aufzuwachsen. Jahrhunderte über haben die Menschen dafür gekämpft, alt zu werden. Wo dieser Traum biblischen Alters Realität wird, stellen sich vermehrt Sorgen und Warnungen ein, denn die alternde Gesellschaft ist eine Gesellschaft, in der weniger Kinder geboren werden, der quasi die Jugend verloren geht. Doch hier wird ein unheilvoller Zusammenhang aufgemacht. Nach wie vor macht das Schlagwort der Überalterung der „Deutschen“ die Runde, denn bis zum Jahr 2020 soll der Anteil der Alten auf fast 30 Prozent ansteigen. Solche Zahlen taugen jedoch nicht wirklich als Schreckensszenario. Erstens sollte man sich die historischen Wurzeln solchen Denkens vor Augen führen, zweitens leben wir heute in einer Zeit globaler Vernetzung. Die Weltbevölkerung steigt insgesamt dramatisch, die Reproduktion der Menschen ist also nicht in Gefahr. Höhere Zuwanderungsraten in Deutschland ließen das Überalterungsproblem, wenn es denn eines ist, schnell vergessen – man müsste sich nur davon lösen, die deutsche Gesellschaft als Abstammungsgesellschaft auf Blutbasis anzusehen. Außerdem lassen die Szenarien der Überalterung nicht nur den Faktor der Migration außer Acht, sondern auch, dass Geburtenraten wieder steigen können. Die jetzigen demografischen Tendenzen sind also nicht für die Ewigkeit zementiert. 6

Wenn das Alter als normaler Zustand menschlicher Existenz ohne die Suggestion der Verderbnis und Zukunftsunfähigkeit wahrgenommen wird, wird es gelingen, die Geschichte des Alterns in ihrem jetzigen Stadium positiv zu deuten. Dieses Buch kann dazu vielleicht einen Beitrag bieten, in dem es die Hitzigkeit aktueller Debatten relativiert und vor Augen hält, was in anderen Zeiten am Alter geschätzt wurde. Es zeigt aber auch, wohin eine Gesellschaft steuert, die nichts mit ihren Alten anzufangen weiß.

Das Buch präsentiert eine Geschichte des Alterns. Grundlage der Darstellung sind die antiken und mittelalterlichen Quellen, die kurz zusammengefasst werden. Den Schwerpunkt bildet die Zeit seit dem 17./18. Jahrhundert, in dem sich die moderne Welt anfing herauszubilden und grundlegende, bis heute aktuelle Aspekte einer Alternsgeschichte deutlich werden. In chronologischer Folge und mit Konzentration auf den deutschen Kulturraum werden die Konjunkturen der Altersverehrung und -feindschaft vorgestellt. Dabei wird vor allem deutlich, dass die demografischen Entwicklungen und die Organisation des Zusammenlebens der Generationen vor allem als eine ökonomische Frage zu verstehen ist, die das Altern und den Umgang mit den Alten in unterschiedlicher Stärke immer auch als Lackmustest ethischmoralischer Standards erscheinen lässt. Es wäre dabei im Übrigen viel zu verkürzt, alt sein etwa als eine durch kapitalistische Praxis verursachte prekäre Phase des Lebens darzustellen. Problematisch war das Altern schon lange vor der Phase des Kapitalismus, ebenso wie die Geschichte der Alten in der DDR zeigt, dass auch ein sozialistisches System – trotz aller Propaganda – nicht zur Lösung der Integrationsprobleme der Alten beigetragen hat.

Wer ist schon alt?

Wenn man über Alte schreibt, muss eines vorausgeschickt werden: Ab wann ist man alt? In der Altersforschung unterscheidet man heute zwischen dem dritten und vierten Lebensalter, um zwei Kategorien von Alten zu beschreiben. Dem dritten Lebensalter gehören demnach die 60-80jährigen an, dem vierten die 80-100jährigen. Bei der einen Gruppe spricht man von jungen Alten, bei den anderen von alten Alten. 7 Aber solche Einteilungen sind problematisch. Das erlebte Alter entspricht oft nicht dem biologischen Alter und erst recht nicht dem chronologischen Alter. Schließlich muss das Alter auch erst einmal erfahren werden, um das „alt sein“ überhaupt relevant werden zu lassen. Die Auseinandersetzung mit dem Altern ist Teil des Alterns selbst – und diese Auseinandersetzung kann erfolgreich sein oder auch nicht, „und auch sie kann durch das Altern selbst so beeinflusst werden, dass sie unserem Altern in unterschiedlicher Weise einen Stempel aufdrückt“. 8 Dass dem biologischen Altern ein gewisser Stempel aufgedrückt wird, es positiv oder negativ erfahren wird, hängt immer auch damit zusammen, wie geistig fit jemand ist, und wie sehr man sich noch darüber freuen kann. Altern ist damit auch – neben allen gesellschaftlichen Zuschreibungen – ein individueller Prozess.

Aktuelle Definitionen des Alters auf die Geschichte zu übertragen, ist problematisch. In Zeiten, in denen die Menschen kaum älter als 40 Jahre alt wurden, kann beispielsweise die Definition der jungen und alten Alten kaum angewandt werden. Berufstätigkeit als Bewertungsmaßstab fürs Altsein anzusehen, ist ebenso fragwürdig. Denn nicht jeder war und ist heute berufstätig und wird trotzdem alt, zudem ist der „Ruhestand“ in Abgrenzung zur Berufstätigkeit eine Kategorie, die weitgehend eine Erfindung der Moderne ist. Über viele Jahrhunderte schufteten die Menschen sprichwörtlich bis zum Umfallen. Altsein wird deshalb im Folgenden relativ weit gefasst – es ist vor allem eine Zuschreibung von außen, die von der jeweiligen Epoche, demografischen Grunddaten, gesellschaftlichem Status, Geschlecht und auch geltendem Recht abhängt und, wo die Quellen es zulassen, auch persönliche Sichtweisen einbezieht.

Das Alter –
Höhepunkt des Lebens oder Grund zur Klage?
Antike und mittelalterliche Perspektiven

„Man ist so alt, wie man sich fühlt“: Alter war – soweit man es in den Quellen über die Geschichte zurückverfolgen kann – immer schon eine Einstellungssache. Ob es ein Zugewinn sei, alt zu werden oder nicht, darüber schieden und scheiden sich die Geister. Doch heute wie früher kommen nicht alle dazu, sich über dieses Problem Sorgen zu machen. Nicht einmal in unserer Zeit werden alle Menschen alt. Die Lebenserwartung wird sehr stark dadurch beeinflusst, wo und in welche Schicht man hineingeboren wird.

Für die Antike wissen wir nichts über das Alter der Sklaven und Sklavinnen, und wir wissen sehr wenig über das Alter von Frauen. Wir können jedoch davon ausgehen, dass auch in antiker Zeit ca. sechs bis acht Prozent der Bevölkerung nach heutigen Maßstäben alt, das heißt über 60 Jahre alt wurden. 9 Aber die Philosophen – schon der vorklassischen griechischen Zeit – haben sich zumindest über das Altern von Männern grundlegende Gedanken gemacht. Während beispielsweise Solon, der ungefähr 600 v. Chr. in Athen lebte, ein langes Leben schätzte und die Lernfähigkeit betonte: „Werde ich älter auch stets, Neues lerne ich doch” 10 , so wünschten sich andere Schriftsteller wie etwa Mimnermos (ebenfalls ca. 600 v.Chr.) zu sterben, wenn: „Liebe in heimlicher Kammer und holde Gewährung und Lager“ 11 nicht mehr locken würden. Der eine betonte die Chancen des Alterns, der andere klagte über den Verlust an Lebensfreude, den das Alter mit sich bringen würde. Doch Solon wusste auch um die Realität des Alters und führte in Athen ein Gesetz ein, dass es verbot, die alten Eltern zu schlagen. 12 Mit der Übergabe ihres Besitzes an den Erben verloren die Alten aus der besitzenden Schicht ihre Stellung und wurden von den Entscheidungen des Sohnes abhängig. 13

In der klassischen griechischen Tragödie wurde das Alter vor allem als Klagegrund behandelt. Doch Platon (ca. 428-347 v.Chr.) wiederum betonte den Zugewinn an Weisheit, der mit dem Alter zu erwarten sei. Für ihn war der betagte Mann, gereinigt von allen Leidenschaften, besonders geeignet für die Politik. Das Greisenalter ist bei ihm der Höhepunkt des Lebens, der Punkt der höchsten Weisheit und Überlegtheit, allerdings nur, wenn der Einzelne sein Leben auf eine solche moralische, emotionale und intellektuelle Steigerung des Ichs angelegt hatte. 14

Platon sah im Alter große Vorteile und betonte in seinen Schriften den Zugewinn an Weisheit.

Aristoteles (ca. 384-322 v.Chr.) hingegen behauptete, alte Menschen seien viel zu ängstlich, kritisch und vom Leben enttäuscht, um vernünftige Entscheidungen für die Allgemeinheit zu fällen. Nur das mittlere Lebensalter – der gereifte, aber noch nicht alte Mann – sei für verantwortungsvolle Aufgaben geeignet: 15 „Niemand wählt sich junge Leute zu Führern, weil er ihre Klugheit nicht hoch stellt. Mit der Tapferkeit verhält es sich umgekehrt, denn die Geltendmachung der Tapferkeit ist in der Jugend nötiger; ebenso ist es mit der Selbstbeherrschung, da die jüngeren Leute mehr als die älteren von den Leidenschaften beunruhigt werden.“ 16 In der bildenden Kunst wurden sowohl die Sportler, als auch die Philosophen und teilweise sogar die reifen Frauen abgebildet. Den Eltern gegenüber waren die Athener gesetzlich zur Fürsorge verpflichtet. Trotzdem versuchten die meisten Menschen, lieber selbst für das Alter vorzusorgen, als später von den Kindern abhängig zu sein. 17

Das war in römischer Zeit etwas anderes. In Rom leitete sich sämtliche Autorität im Staat von der Macht des Vaters ab. Und der Vater blieb in dieser Machtposition, auch wenn er alt wurde. Erst der Tod oder körperlicher und geistiger Verfall – über die Geschäftsfähigkeit musste dann vor Gericht entschieden werden – beendete das. 18 Doch auch in römischer Zeit wurde Alter – immer handelt es sich um das Alter von Männern – nicht nur positiv gesehen. Und der Großteil der politischen und wirtschaftlichen Macht lag hier, wie zu anderen Zeiten, in den Händen der mittelalten Männer. 19

Es gab sehr unterschiedliche Sichtweisen auf das Phänomen des Alterns. Die stoische Philosophie empfahl ihren Anhängern – wie bei allen anderen Misslichkeiten – das Alter zu ertragen und dadurch zu überwinden. Durch immerwährende moralische und intellektuelle Verbesserung des eigenen Ichs – und durchs Maßhalten – könne ein glückliches Alter erreicht werden. Das ist auch die Hauptaussage von Ciceros (106-43 v.Chr.) Schrift „Cato maior de senectude“: „Wie nämlich nicht jeder Wein, so wird nicht jeder durch hohes Alter sauer.“ 20 Das Alter sei weder feige noch ängstlich, sondern überlegt und dadurch überlegen: Es kann den Leidenschaften entsagen und sich auf das Wesentliche, auf Studium und Gelehrsamkeit, konzentrieren. 21 Doch das Alte Rom kannte auch weiterhin die klassische Altersklage: Die Dichter Catull und Horaz trauerten der Jugend nach und beweinten, dass das Alter Lust und Liebe nicht mehr empfinde und nur noch Abschied bedeute. 22 Das trifft laut Horaz vor allem die Frauen, die nach Verlust der sexuellen Anziehungskraft nur schwer ihre Rolle– und ein ihrem Alter entsprechendes Benehmen finden. 23 Denn im Grunde blieb ihnen (nach der Mutterschaft) lediglich die Wollarbeit als Lebensinhalt. 24

Vereinfacht zusammengefasst übernahm Europa aus der Antike zwei Traditionsstränge, was den Umgang mit dem Alter betraf. Einmal die Klage – über das Alter und seine Bedingungen – und zum anderen die positive Sicht auf ein glückliches Alter, weil der eigene Geist nach einem geordneten Leben bis zum Tod lernen und man so an Weisheit gewinnen könne.

 

Zur antiken Tradition addierte sich die christliche, wobei weniger eine Verbindung, als vielmehr ein nebeneinander der antiken und der christlichen Alterssicht entstand. Zwar teilte in der biblischen Tradition das Alte Testament mit den griechisch-römischen Autoren die positive Wertung des Alters: Das Alte Testament fordert auf, die Alten zu ehren (Leviticus 19,32), da sie über Weisheit und Klugheit verfügen (Hiob 12,12). Auch die Rechtsprechung sollte in ihren Händen liegen, da sie gerecht urteilen können (Daniel 7,22). Diese Gedanken finden sich auch im Neuen Testament (vgl. z. B. Lukas 2,52). Außerdem schreiben die Zehn Gebote vor, Vater und Mutter zu ehren. Alter war also eigentlich ein verehrungswürdiger Zustand. Mindestens ebenso wichtig wurde jedoch im Christentum ein weiterer Gedanke: Für Christen – eigentlich von den Frühchristen bis weit in die Neuzeit hinein – war Alter kein Thema. Denn nicht die Frage der Länge des Lebens oder die Bedingungen des Alters waren wesentlich, sondern die Vorbereitung auf das ewige Leben nach dem Tod und der Wiederkehr Christi. Ob jemand jung oder alt stirbt, fiel vor dem Hintergrund der Ewigkeit nicht ins Gewicht, vielmehr, ob er ein gottgefälliges Leben geführt hatte und so mit seinem Leben Gott näher gekommen war. Aus dieser grundsätzlichen Haltung gegenüber dem Leben und dem Tod resultierte, dass nur wenige christliche Schriftsteller und Theologen sich speziell mit dem Alter beschäftigt haben.

Einer war der Kirchenvater Augustinus (354-430). Er sah das Alter zweigeteilt: auf der einen Seite den körperlichen Verfall, auf der anderen Seite den religiösen Gewinn durch die stete Annäherung an Gott. 25 Aber auch Augustinus ging es nicht so sehr um das Alter, jedes Lebensalter, auch die Jugend, sollte letztlich nach eben dieser Annäherung an Gott streben. Die mittelalterliche Mystik entwickelte dann die Vorstellung, dass eine innere Verjüngung der Menschen im und durch den Glauben an Christus und durch tätige Liebe in der Gemeinde schon auf Erden stattfinden könnte – ungeachtet seiner körperlichen Entwicklung. 26 Aus dieser Sicht heraus war Alter kein Grund, bemitleidet zu werden: Aus christlicher Sicht musste man sich um die Alten nur dann kümmern, wenn sie krank, hilfsbedürftig und arm wurden – aber genauso, wie man sich auch im Namen der christlichen Nächstenliebe um junge Kranke oder Arme zu kümmern hatte. Die Vorstellung von der Erneuerung durch Gott konnte über die Vergänglichkeit der materiellen Welt und des eigenen Körpers hinwegtrösten. Nur, wer seine Seele von Gott abwendete, alterte wirklich, wer bei Gott blieb und seine Nähe suchte, blieb jung oder wurde wieder jünger. 27

In das europäische Mittelalter hinein wurden antike Traditionen weitergetragen – wie die der Lebenstreppe, die schon in Griechenland als Vorstellung entwickelt wurden. Eingeteilt in vier große Abschnitte oder in sieben mal sieben Jahresstufen erschien das Leben als Aufstieg bis zum mittleren Lebensalter, um dann wieder abzusteigen bis hin zum Tod.

Aber auch die auf die Ewigkeit gerichtete Altersignoranz der Christen blieb maßgeblich für die weitere Sicht auf das Alter in Europa. 28

Im Mittelalter bis in das 16. Jahrhundert hinein war zwar die durchschnittliche Lebenserwartung nicht sehr hoch (sie lag bei 40 Jahren), da viele Kinder in den ersten Lebensjahren starben. Aber diejenigen, die die Kindheit überlebt hatten, wurden durchaus auch 60 oder 70 Jahre, manche sogar 80 und 90, auch Hundertjährige kamen vor. 29 Die Zahl der Alten in der Gesellschaft schwankte zwischen fünf und acht Prozent. 30

Im öffentlichen Leben des Mittelalters hatten Alte in manchen Bereichen eine besondere Stellung inne. In den Zünften gab es die „Ältesten“ als Autorität. In Städten wie Magdeburg oder Augsburg wurden ausgewählte Alte im 14. und 15. Jahrhundert als Rechtszeugen gefragt, sie galten als diejenigen, die aufgrund ihrer großen Erfahrung und ihrer langen Erinnerung in bestimmten Rechtsfragen entscheiden sollten. 31 Auch in der Kirche verloren die alten Männer (und auch die alten Äbtissinnen) nicht ihre Würden. Meist kam man auch erst spät in höhere Ämter. Einmal erlangt, konnte – und musste – man den Dienst bis zum Tod versehen. 32 Anders war es für Fürsten und Bauern. Hier war der Einfluss des germanischen Rechts größer. Und im germanischen Recht wurde der Verfall des Körpers mit dem Verfall des Geistes gleichgesetzt, der von den Jungen auf die Probe gestellt wurde. Der Sachsenspiegel und andere germanische Rechtstexte kannten die Altersprobe: Leistungsprüfungen vor den Augen der Gemeinschaft. Ein alter Mann musste beweisen, dass er noch allein ein Ross besteigen und ohne Stock und Hilfe laufen konnte, um seinen Besitz und seine Rechtsfähigkeit zu behalten. 33 Wenn nicht, drohte ihm die Enteignung und Bevormundung. Die Angst vor einer politischen Entmachtung können wir auch den Lebensbeschreibungen des französischen Königs Ludwig XI. entnehmen. Er starb 1483 mit 61 Jahren und hatte sich zuvor intensiv bemüht, jung und fit zu bleiben, um nicht bevormundet zu werden. 34

Ab 60, manchmal auch ab 70 wurden Männer von bestimmten Aufgaben (Steuern, Wachdiensten, Kriegseinsätzen) befreit, aber die Frage nach der Lebenskraft machte eben auch vor den hohen Repräsentanten nicht halt. 35 Wesentlich zugespitzter sah man das Altern bei Frauen. Frauen galten im Mittelalter spätestens mit dem Ende der Gebährfähigkeit als alt. Ihr Alter war noch verdammungswürdiger als das der Männer; alte Frauen waren Symbol für Unfruchtbarkeit und den Winter, aber auch für schlechte Eigenschaften wie Heuchelei, Neid, Verrat, Habgier. 36

Versuchten Frauen aber, ihre körperliche Attraktivität zu verlängern, wurde das von der Kirche scharf kritisiert. Das Alter der Frauen sollte nur der Vorbereitung auf den Tod dienen. 37

Für Männer wie Frauen galt, dass die Versorgung der Alten der Familie oder der Mildtätigkeit oblag. In Westeuropa sind schon aus dem 13. Jahrhundert Ruhestandsverträge belegt. Gleichzeitig setzte jedoch auch schon der Trend zu einem späten Heiratsalter ein – die Eheschließung wurde nur dann möglich, wenn mit ihr die Hausstandsgründung einherging, und das war meist erst beim Tod der Eltern der Fall. Diese Besonderheit Europas – das „european marriage patern“ – findet sich in Mittel- und Westeuropa, während in Osteuropa eher jüngere Heiratsalter belegt sind und andere Formen des Zusammenlebens daraus resultierten. Das Verhältnis zwischen den Generationen, das Abschließen von „Generationenverträgen“ wie grundsätzlich die Frage, ob und wie Alte versorgt werden sollten, war immer ein „heißes Eisen“.

Im Hochmittelalter verlor in Nord- und Mitteleuropa ein Bauer durch die Hofübergabe oftmals mit dem Besitzrecht seine eigene Freiheit und lebte unter der Vormundschaft des ihm nachfolgenden Hausherren, eine Tatsache, die viele alte Leute zu lebenslanger Arbeit nötigte. 38 Selbst wenn ein Bauer aber nicht die Freiheit, sondern nur sein Prestige als Haushaltsvorstand verlor, war dies ein harter Einschnitt. Aus der zeitgenössischen Literatur und aus Sprichwörtern wissen wir, dass „die Bank der Kinder […] hart für die Alten“ war. 39 Dennoch war der Generationenvertrag meist die einzige Vorsorge, die Menschen für das Alter treffen konnten. Von einer Art frühem Generationenvertrag erzählt eine Geschichte, die in den Gesta Romanorum übermittelt ist. Ein Schmied rechtfertigte seine Feiertagsarbeit damit, dass er täglich für sich zwei Pfennige und zwei für seine Frau verdienen müsse, zwei für seinen Vater (der ihm früher zwei gegeben habe) und zwei für seinen Sohn (der ihm später zwei Pfennige geben werde). Diese familieninterne Versorgung der Alten entsprach dem Ideal der mittelalterlichen Gesellschaft. 40 Doch aus dieser Geschichte erkennen wir auch eine ganz grundlegende Aussage: Altersversorgung konnte nur geleistet werden, wenn die junge Generation innerhalb einer Familie genug erwirtschaften konnte, um auch die ältere Generation zu versorgen. Oder aber, wenn die ältere Generation selbst reich genug war, sich zur Ruhe zu setzen: Das galt für manche Adlige, aber auch für reiche Bürger in den Städten. 41 Da dies jedoch nicht immer der Fall war, waren alle, die von ihrer eigenen Familie nicht versorgt werden konnten – oder die keine Familie (mehr) hatten – auf Almosen und Nächstenliebe angewiesen. Daher entwickelte sich auch im Mittelalter schon eine institutionalisierte und spezialisierte Altersversorgung. Private, größere wie kleinere wohltätige Stiftungen versorgten alte Menschen, meist richtete sich die Stiftung auf eine bestimmte Zielgruppe, z. B. auf Handwerker oder Witwen. Und aus der burgundischen Verwaltung des 15. Jahrhunderts sind erste Beamtenpensionen bekannt. 42

Ausgeformte Altersvorstellungen begegnen uns vor allem in den Lebenstreppen, die auch im Mittelalter weiter existieren – so die Idee von den sieben Zehnjahresstufen, mit dem Höhepunkt des Lebens zwischen dem 30. und 40. Lebensjahr und dem Ende des Lebens nach dem 70. Jahr. Andere Lebenstreppen verglichen in drei (Wachstum, Stillstand, Niedergang) oder vier Stufen (Frühling, Sommer, Herbst und Winter) das Leben mit der Ordnung in der Natur. 43 Die Lebenstreppen waren weit verbreitet, doch dienten sie zur Orientierung bzw. zur Vergewisserung der Lebenseinheit und -ordnung, nicht als Abbild dessen, was die Menschen wirklich erlebten oder von einem bestimmten Alter erwarteten. 44 Denn wenige Menschen erreichten im Mittelalter das 70. Lebensjahr und noch weniger das Alter, das in der Lebenstreppe mit „90. Jahr Kinderspott“ 45 beschrieben wurde. Diese Lebenstreppen bleiben bis Ende des 19. Jahrhunderts aktuell, sie prägten die Sicht aufs Alter, besonders die auf das hohe, gebrechliche Alter. Oft wurden die Altersjahre mit Tierbildern illustriert, die letzten Jahre des Menschen waren dann die Affenjahre, die Jahre, in denen der Alte/die Alte kindisch oder eben affenähnlich sei. 46

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