13. August 1961.

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Florian Giese / Alexander Schug

13. August 1961

Wie die Berliner Mauer entstand und was von ihr blieb

Mit zahlreichen historischen Fotografien

Impressum

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen

Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN: 978-3-86408-017-3 (epub) / 978-3-86408-018-0 (pdf)

Lektorat: Dr. Christian Jerger

© Copyright: Vergangenheitsverlag, Berlin /2011

www.vergangenheitsverlag.de

Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen und digitalen

Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten.

Über die Autoren:

Florian Giese, 1970 in Berlin geboren, hat Geschichte und Politikwissenschaft studiert und war Wissenschaftlicher Mitarbeiter eines Bundestagsabgeordneten und Referent beim Beauftragten der Bundesregierung für die Angelegenheiten der Neuen Bundesländer. Er befasst sich mit Themen der deutschen Zeitgeschichte, zahlreiche Publikationen zur Geschichte des geteilten Deutschlands und der Stadt Berlin.

Alexander Schug, Jg. 1973, studierte Neuere und Neueste Geschichte in Dresden, London und Berlin, 2007 Promotion an der Humboldt-Universität zu Berlin, zahlreiche Publikationen zur politischen Kulturgeschichte, Verleger.

eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

Inhalt

Einleitung: Die Berliner Mauer 1961-1989

„Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten“ – wie die Mauer das Leben in Berlin veränderte

Mauer und Erinnerungskultur

Anhang

Einleitung: Die Berliner Mauer 1961-1989

von Alexander Schug

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Deutschland von den Alliierten in vier Besatzungszonen und Berlin in vier Sektoren aufgeteilt. Im Zuge der Konfrontation des ‚Kalten Krieges’ zwischen den westlichen Alliierten USA, Großbritannien und Frankreich auf der einen und der Sowjetunion auf der anderen Seite standen sich zwei unterschiedliche politische Systeme auf deutschem Boden gegenüber. 1949 kam es zur Gründung der beiden deutschen Staaten: Die Bundesrepublik Deutschland entstand als eine westlich repräsentative Demokratie mit Mehrparteiensystem, freien Wahlen und Gewaltenteilung. Dem stand das Prinzip der Einheitsfront mit Blockparteien unter Führung der SED in der Deutschen Demokratischen Republik gegenüber.

Während die Bundesrepublik mit Unterstützung ihrer westlichen Verbündeten und auf der Grundlage der sozialen Marktwirtschaft einen beispiellosen wirtschaftlichen Aufschwung erlebte, der bis heute als ‚Wirtschaftswunder’ verklärt wird, erlebten viele in der DDR die Folgen massiver Reparationen und die Demontage wichtiger Industrieanlagen durch die sowjetische Besatzungsmacht. Infolge von Missständen in der sozialistischen Planwirtschaft klaffte die wirtschaftliche und soziale Entwicklung beider Staaten seit den 1960er Jahren immer weiter auseinander, auch wenn die DDR zeitweilig zu den zehn größten Industriestaaten der Welt gezählt wurde. Deshalb, aber auch insbesondere aus politischen und familiären Gründen, flüchteten viele Menschen in die Bundesrepublik. Allein zwischen 1945 und 1961 waren es rund dreieinhalb Millionen.

Um diese Fluchtbewegung gen Westen zu stoppen, wurde bereits am 26. Mai 1952 die Grenze zur Bundesrepublik mit Stacheldraht abgeriegelt. In Berlin blieben jedoch zahlreiche Sektorenübergänge offen, weshalb sich die ‚Abwanderung’ hier fortsetzte. Die SED-Führung sah sich daher zu einer Verschärfung der Strafgesetze veranlasst: Seit Dezember 1957 galt das Verlassen der DDR als ‚Republikflucht’, und bereits bei Vorbereitung und Versuch drohte Gefängnis. 1961 stimmte der sowjetische Partei- und Staatsführer Nikita Chruschtschow schließlich einer Abriegelung der Sektorengrenze in Berlin zu. Im Juli begannen die geheimen Vorbereitungen zur Grenzschließung, die dann in der Nacht vom 12. auf den 13. August erfolgte.1


Übersichtskarte zur Teilung Berlins (Quelle: Incnis Mrsi, based on Sansculotte’s work)

Die Berliner Mauer wurde zum Symbol des ‚Kalten Krieges’ und hatte 28 Jahre Bestand. Erst der Amtsantritt Michail Gorbatschows in der Sowjetunion führte mit ‚Glasnost’ (Offenheit) und ‚Perestroika’ (Umgestaltung) zu grundlegenden politischen Veränderungen, von denen auch die DDR nicht unberührt bleiben sollte, auch wenn sich die SED-Führung dem zunächst entschieden widersetzte. Die Ostblockstaaten erhielten unter der neuen sowjetischen Führung mehr Freiheiten und mussten bei politischen Reformen nicht mehr sofort die militärische Intervention der Sowjetunion fürchten. Die ungarische und die polnische Regierung nutzten diese Chance – anders als die DDR.2 Heute wird die besondere Rolle der polnischen Gewerkschaftsbewegung Solidarność in den 1980er Jahren sowie die Vorreiterrolle Ungarns bei der Öffnung des ‚Eisernen Vorhangs’ 1989 allgemein anerkannt und gewürdigt. Zwar fand auch in der DDR ein Wandel statt, jedoch nicht in der überalterten Staatsführung, sondern in Folge einer friedlichen Revolution, ausgelöst durch oppositionelle Gruppen innerhalb der Bevölkerung. Bereits seit den 1980er Jahren bildeten sich – vor allem im kirchlichen Milieu – informelle oppositionelle Gruppen, die für Menschenrechte und Pluralismus eintraten. Sie wurden zur Keimzelle der friedlichen Revolution in der DDR und fanden 1989 den lange erhofften Zulauf aus der Bevölkerung.3

Aufbau und Ausbau der Grenzanlagen


Volkspolizisten hinter der Mauer am Potsdamer Platz. 18.8.1961 (Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung)

Die Berliner Mauer war kein statisches Gebilde, das einmal errichtet fast 30 Jahre unverändert geblieben ist. Sie wurde vielmehr laufend verändert und perfektioniert. Die Mauer war auch nicht einfach eine Betonwand, wie sie vom Westen her wahrgenommen wurde, sondern setzte sich aus verschiedenen Sperranlagen zusammen.4

Der Ausbau der Grenzanlagen vollzog sich in mehreren Phasen. Zunächst wurde West-Berlin in den frühen Morgenstunden des 13. August 1961 mit Stacheldraht und provisorischen Sperren abgeriegelt. In der Folgezeit entstand an deren Stelle eine Mauer aus großen Blockelementen und mehreren Lagen kleinerer Hohlblocksteine, die mit einem Stacheldraht abschloss. Mitte der 1960er Jahre wurde diese Grenzanlage durch eine Mauer aus schmalen Betonplatten ersetzt, auf der ein Abwasserrohr aus Beton angebracht war, um das Übersteigen der Mauer zu verhindern. Mitte der 1970er Jahre löste diese wiederum die so genannte ‚Grenzmauer 75’ ab, die deutlich widerstandsfähiger und von Fahrzeugen nicht zu durchbrechen war. Sie bot außerdem ein glattes, ‚sauberes’ Erscheinungsbild in Richtung West-Berlin, wie Axel Klausmeier und Leo Schmidt in ihrer Dokumentation der Berliner Mauer schreiben, „weil den Machthabern der DDR seit den siebziger Jahren immer mehr daran gelegen war, die Außenwirkung ihres Staates nicht durch die offensichtliche Brutalität der Grenzanlagen zu beeinträchtigen.“5

Die eigentliche Mauer stellte das ‚Vordere Sperrelement’ der Grenzanlagen dar, das Ost-Berlin von der vermeintlich ‚feindwärtigen’ Seite, also den Westsektoren trennte. Tatsächlich waren die Sicherungsanlagen allerdings auf die ‚freundwärtige’ Seite, also auf das eigene Territorium ausgerichtet, sollten sie doch Menschen an der ‚Republikflucht’ hindern. In Richtung Osten wurde die Vorderlandmauer daher durch ein gestaffeltes System von Sperrelementen ergänzt, die Fluchtwillige daran hindern sollten, auch nur in die Nähe der Vorderlandmauer zu gelangen.


Berliner Mauer: Typischer Aufbau mit ‚Vorderen Sperrelementen’ (hier rechts), Todesstreifen und Hinterlandmauer (hier links) (Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung)

Zum Teil fanden sich im Sperrgebiet so genannte Vorfeldsicherungen, wie z.B. vorgelagerte Plattenwände, Zäune oder Durchfahrtssperren oder auch Vergitterungen an Fenstern. Die eigentlichen Grenzanlagen begannen auf Ost-Berliner Seite mit der Hinterlandsicherungsmauer, kurz Hinterlandmauer, die in Richtung Ost-Berlin mit langen weißen, grau gerahmten Rechtecken bemalt war. Zwischen Vorder- und Hinterlandmauer befand sich der Todesstreifen. In dieser Richtung war die Hinterlandmauer komplett weiß gestrichen, damit sich ein Flüchtender auch nachts vor ihr abzeichnete.

 

Hinter der Hinterlandmauer gab es einen Elektrosignalzaun, der Alarm auslöste, wenn Flüchtende versuchten, ihn zu überwinden. Hinter diesem Zaun befanden sich oft Hundelaufanlagen und andere Hindernisse wie die ‚Flächensperren’ mit aufrecht stehenden langen Stahlspitzen, die einen vom Zaun herunterspringenden Flüchtling schwer verletzen konnten.


Schematischer Aufbau der Berliner Mauer

Rund 300 Wachttürme (Beobachtungstürme und Führungsstellen, wie jene am Kieler Eck und am Schlesischen Busch, die auch heute noch erhalten sind) ermöglichten die Kontrolle des Grenzstreifens. Der asphaltierte oder betonierte Kolonnenweg diente den Grenztruppen als Patrouillenweg. Entlang dieses Weges befand sich die so genannte ‚Lichttrasse’, das heißt Lampenmasten, die den angrenzenden Kontrollstreifen aus Sand ausleuchteten, in dem sich wiederum die Spuren von Flüchtlingen abzeichneten. Grenzübergangsstellen (GÜSt) ermöglichten Befugten das Überqueren der innerstädtischen Grenze bzw. der Grenze zum Berliner Umland. Sie waren besonders scharf gesichert.6


Blick von Berlin-Kreuzberg (Westen) auf die Mauer mit Wachturm im Hintergrund, 1988 (Bundesarchiv B 146 Bild_F078995-0032)

Das Ende der Mauer

Erich Honecker war im Januar 1989 noch überzeugt, dass die Mauer auch in 100 Jahren bestehen würde. Die Veränderungen, die die Unruhen und Demonstrationen in der DDR mit sich bringen würden, waren noch nicht abzusehen. Tatsächlich steckte die DDR wie der gesamte so genannte Ostblock in einer tiefen Krise, ökonomisch, zunehmend dann auch politisch. Perestroika und Glasnost gaben maßgebliche Impulse, wenn auch ungewollt, einen Prozess in Gang zu setzen, der am Ende im Sturz des SED-Regimes münden sollte. Die Ereignisse des Jahres 1989 überschlugen sich: Am 2. Mai 1989 bauten Grenzsoldaten aus Ungarn den Stacheldrahtzaun zum Nachbarn Österreich ab, während in der DDR erste Demonstrationen stattfanden, hauptsächlich wegen des versagten Ausreiserechtes der DDR-Bürger. Die Wut entlud sich mit Beginn der Sommerferien. DDR-Bürger besetzten die Ständige Vertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin und die westdeutschen Botschaften in Warschau, Prag und Budapest. Einige Tausend Menschen reisten aus der DDR nach Ungarn einzig und allein mit dem Ziel, über Österreich nach Westdeutschland zu gelangen.

Allerdings: DDR-Bürgern wurde der Grenzübertritt von der Tschechoslowakei nach Ungarn von nun an verwehrt. Als im September über 10.000 Bürger der DDR die Botschaft der Bundesrepublik in Prag besetzten, um die Ausreise zu erzwingen, wurde die Führung in Ost-Berlin unter Druck gesetzt wie nie zuvor. Honecker konnte sich gegen die Dynamik nicht mehr wehren und ließ die Flüchtlinge ziehen. Am 30. September verkündete das der damalige Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher vom Balkon der Prager Botschaft. Die DDR-Führung wollte damit ein Ventil öffnen. Doch eine Lawine war losgetreten. Immer mehr Menschen übten sich in eigensinnigem und widerständischem Handeln, gingen auf die Straße und stellten den „real existierenden Sozialismus“ in Frage.


Montags-Demo in Leipzig im Dezember 1989 (Bundesarchiv Bild 183-1989-1211-027)

Als am 17. Oktober Erich Honecker im SED-Politbüro gestürzt wurde, versuchte sein Nachfolger Egon Krenz, die DDR zu reformieren – das, was von offizieller Seite angekündigt wurde, ging vielen jedoch nicht weit genug. Die Massendemonstrationen, die bereits unter Honecker eingesetzt hatten, breiteten sich nun in der gesamten DDR aus. Die Menschen forderten Reisefreiheit, freie Wahlen und die Zulassung von Oppositionsgruppen. Und am 9. November fiel schließlich die Mauer, deren Bau das Leben der Menschen in Berlin 28 Jahre zuvor völlig verändert hatte. Nun, nach ihrem Fall, sollte in Berlin erneut alles anders werden.

„Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten“ – wie die Mauer das Leben in Berlin veränderte

von Florian Giese

Die Geschichte der Berliner Mauer ist eng mit zwei berüchtigten Pressekonferenzen verbunden, die beide in die deutsche Nachkriegsgeschichte eingegangen sind. Beide wurden von führenden SED-Politikern abgehalten, eine von Günter Schabowski und eine von Walter Ulbricht. Während Schabowskis irrtümliche Ankündigung, die geplante neue Reiseregelung werde „unverzüglich“ und „ab sofort“ in Kraft treten, zum Ansturm auf die Berliner Grenzübergänge am 9. November 1989 und damit letztlich zum Ende der Mauer führte, hatte Ulbricht 28 Jahre zuvor, am 15. Juni 1961, auf die Frage, ob die Bildung einer „Freien Stadt West-Berlin“, für die Ulbricht damals warb, die Errichtung der „Staatsgrenze am Brandenburger Tor“ bedeuten würde, die später berüchtigte Antwort gegeben: „Ich verstehe Ihre Frage so, daß es in Westdeutschland Menschen gibt, die wünschen, daß wir die Bauarbeiter der Hauptstadt der DDR dazu mobilisieren, eine Mauer aufzurichten. Mir ist nicht bekannt, daß eine solche Absicht besteht. Die Bauarbeiter unserer Hauptstadt beschäftigen sich hauptsächlich mit Wohnungsbau, und ihre Arbeitskraft wird dafür voll eingesetzt. Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.“7 Was danach kam ist bekannt: Zwei Monate später wurde genau jene Mauer errichtet, deren Bau laut Ulbricht von niemandem beabsichtigt war.


Stenografischer Bericht der Internationalen Pressekonferenz mit Walter Ulbricht am 15. Juni 1961 (Quelle: BArch NY 4182/653, Blatt 136 (Nachlass Walter Ulbricht))


15.6.1961, Walter Ulbricht auf der Internationalen Pressekonferenz in Ost-Berlin, bei der er die berühmten Worte sprach: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten“ (Bundesarchiv, Bild 183-83911-0002 / CC-BY-SA)


19.11.89/Berlin: Günter Schabowski, Mitglied des Politbüros und Sekretär des ZK der SED, informierte im Internationalen Pressezentrum über Verlauf und Ergebnisse des zweiten Beratungstages des 10. Plenums des ZK der SED. Schabowskis irrtümliche Äußerung über neue Reiseregelungen führte anschließend zum Sturm auf die Grenzübergänge der DDR. Bundesarchiv, Bild 183-1989-1109-030 / Lehmann, Thomas / CC-BY-SA

Weltpolitik und Lokales

Der Bau der Berliner Mauer war ein Ereignis von weltpolitischer Tragweite, ein markanter Schritt in der weltweiten Konfrontation der beiden Machtblöcke und eine bedeutende Wegmarke auf dem Höhepunkt des ‚Kalten Krieges’. Die Bilder von der Abriegelung der Grenze in Berlin gingen um die Welt und veranschaulichten auf dramatische Weise die Teilung in zwei voneinander getrennte Sphären, zwei Blöcke, ja zwei Welten, die unterschiedlichen Prinzipien folgten und einander feindlich gegenüber standen. In diesem Sinne sind die dramatischen Vorgänge um den 13. August 1961 stets als Ereignisse der Weltpolitik aufgefasst worden, und genau dies waren sie sicherlich auch. Allerdings waren sie es nicht nur, sie gehörten zugleich auch einer anderen, lokalen Sphäre an, griffen in existenzieller Weise in den Alltag der Menschen vor Ort ein und veränderten im Großen und Kleinen das Leben an der vorher offenen und nun geschlossenen Sektorengrenze inmitten der Stadt.

Will man verstehen, welchen tiefen Einschnitt der Bau der Berliner Mauer bedeutete, muss man einen Blick auf das Berlin vor dem Mauerbau werfen. Es ist eine merkwürdige Stadt, die sich hier darbot: Die Sektorengrenze, die sich quer durch die Stadt zog, ist jene Grenze, die die ganze Welt in zwei Lager teilte, es ist die Systemgrenze, die Grenze zwischen Diktatur und Freiheit, wie man im Westen sagte, zwischen Imperialismus und Sozialismus, wie die Machthaber im Osten sagten. Für viele Berliner in Ost und West war sie aber zunächst einmal nur eine Bezirksgrenze, eine Grenze etwa zwischen Wedding und Prenzlauer Berg, Reinickendorf und Pankow, Tiergarten und Mitte, Kreuzberg und Friedrichshain oder Neukölln und Treptow, eine Grenze also, der anfänglich kaum Beachtung geschenkt werden musste. Jedenfalls hatten diese Bezirksgrenzen im Alltag der Menschen früher so gut wie keine Bedeutung gehabt. Erst mit dem Kriegsende, als die Stadtbezirke plötzlich unterschiedlichen Besatzungsmächten zugeteilt wurden, spielte es plötzlich eine Rolle, ob der eigene Wohnsitz nun zufällig zum Bestandteil des amerikanischen, britischen, französischen oder sowjetischen Sektors geworden war.

Vor allem während der Blockade der drei Westsektoren durch die Sowjets hatten die Menschen in Berlin die neue Bedeutung dieser alten Bezirksgrenzen zu spüren bekommen. Und in den Jahren danach haben sie erlebt, wie sich die drei Westsektoren auf der einen und der Sowjetsektor auf der anderen Seite immer mehr in deutlich unterschiedliche Richtungen entwickelt haben. Verschiedene Währungen wurden eingeführt, und die gesamte Stadtverwaltung hat sich gespalten. Im Osten gab es nun eine Ost-, im Westen eine West-Mark, im Osten einen Ost-, im Westen einen West-Bürgermeister, im Osten eine Ost-, im Westen eine West-Polizei und so weiter. An der Sektorengrenze standen jetzt Grenzposten, die sporadische Kontrollen durchführten. Und dennoch: Für die Menschen vor Ort handelte es sich hier nach wie vor erst einmal um die alten Bezirksgrenzen, und die alten Kieze, in denen man sich bewegte, reichten oft über diese Bezirksgrenzen hinweg. Also gehörte zum Umfeld des Weddingers natürlich auch weiterhin die Schönhauser Allee, auch wenn die nun im Ostsektor lag. Und natürlich kamen die Bewohner des Prenzlauer Bergs auch weiterhin zum Gesundbrunnen, auch wenn der nun zum Westteil gehörte.

Große Hürden waren dabei nicht zu überwinden. Problemlos konnte man am Bahnhof Zoo in die S-Bahn ein- und am Alexanderplatz aussteigen oder mit der Ringbahn vom Treptower Park nach Neukölln fahren. Kontrollen fanden nur stichprobenartig statt, und es wäre auch gar nicht möglich gewesen, das gesamte Hin und Her zwischen diesen beiden so eng miteinander verflochtenen Teilen einer Großstadt zu kontrollieren. In vielen Familien wohnte ein Teil der Verwandtschaft in Ost-, ein anderer in West-Bezirken, ohne dass das Familienleben dadurch unbedingt beeinträchtigt wurde. Berliner, die im Osten wohnten, gingen im Westen zur Arbeit und umgekehrt. In vielen Schulklassen saßen Kinder aus Ost und West nebeneinander und lernten gemeinsam. Ost-Berliner holten sich das, was sie in der eigenen Stadthälfte nicht bekamen, aus den Geschäften im Westen. West-Berliner kauften besonders günstig im Konsum oder in der HO. Und so konnte es passieren, dass man auf dem Weg vom Friseur zum Bäcker oder vom Schuster zur Apotheke die Grenze der Weltsysteme überschritt, vom Kapitalismus zum Sozialismus oder vom Sozialismus zum Kapitalismus hinüberwechselte, von der „Arbeiter-und-Bauern-Macht“ in den „freien Westen“ oder umgekehrt. All dies schien in dieser merkwürdigen Stadt offenbar ganz normal zu sein.

Allerdings: Dieser Blick auf das freie Hin und Her über die offene Grenze, auf die vielen Alteingesessenen, die sich um die politischen Kapriolen der Gegenwart nicht scherten und ihre Stadt mit größter Selbstverständlichkeit weiterhin als Einheit betrachteten, dieser Blick zeigt nur einen Teil der damaligen Situation. Zur gleichen Zeit gab es auch eine nicht geringe Zahl von Menschen in der Stadt, für die die Teilung Berlins bereits eine handfeste Realität geworden war. Es gab West-Berliner, die nicht mehr in den Osten und Ost-Berliner, die nicht mehr in den Westen fuhren – sei es aus Überzeugung, aus Angst, aus politischen oder aus beruflichen Gründen. Wer im Westen bei einer Einrichtung tätig war, die im Osten als „Agentenorganisation“ betrachtet wurde, musste beim Grenzübertritt nach Ost-Berlin mit Verhaftung rechnen. Und als „Agentenorganisation“ wurde vieles betrachtet. Wer etwa in West-Berlin als Journalist bei einer Zeitung oder beim Rundfunk arbeitete oder sich irgendwo politisch in einer von der SED nicht erwünschten Weise betätigte, konnte schnell als „Agent“ eingestuft werden und vermied besser Aufenthalte im Osten. Wer hingegen bei einem West-Berliner Unternehmen mit Personalgewinnung befasst war, konnte sich im Osten leicht als „Menschenhändler“ abgestempelt und entsprechender Verfolgung und Bestrafung ausgesetzt sehen, so dass er wohl ebenfalls besser im Westen blieb. Umgekehrt mussten sich aber auch Funktionsträger des Ostens mit Aufenthalten im Westen sehr vorsehen. Wer als SED-Funktionär nach West-Berlin fuhr, musste damit rechnen, dass er, falls sein Abstecher bekannt wurde, nach Rückkehr mit einer drastischen Parteistrafe belegt wurde. Für Geheimnisträger kamen Aufenthalte im anderen Teil der Stadt schon gar nicht in Frage.

 

Die ablehnende Haltung des Ostens gegenüber West-Berlin war aber nicht nur erzwungen, sie war zum Teil auch echt. So wie überhaupt die Zustimmung zur Politik der SED nicht überall nur inszeniert, sondern zum Teil auch echt war. Anders ist auch das Funktionieren eines politischen Systems wie dem der DDR nicht zu erklären. Es wäre unmöglich, ein solches System allein mit Zwang durchzusetzen, es zu oktroyieren, wenn es nicht zumindest einen Teil der Bevölkerung geben würde, der mit innerer Überzeugung die neuen politischen Verhältnisse unterstützt. Die SED konnte bei ihrer Gründung auf die ehrliche Unterstützung vieler überzeugter Kommunisten und auch mancher ehemaliger Sozialdemokraten und Anhänger anderer politischer Richtungen bauen, und es gelang ihr auch, in den Jahren nach ihrem Herrschaftsantritt weitere Anhänger zu gewinnen, die ebenfalls mit Überzeugung bei der Sache waren.

Das Versprechen einer sozialistischen Alternative zum Kapitalismus und einer neuen Gesellschaft, die mit den Fehlern der alten radikal brach, war nach den Erfahrungen der gescheiterten Weimarer Republik und der NS-Zeit für einen Teil der deutschen Bevölkerung in Ost und West durchaus attraktiv. Es ist zwar richtig, davon auszugehen, dass es sich bei den überzeugten Parteigängern des DDR-Systems immer nur um eine Minderheit gehandelt hat, es wäre aber wohl falsch, von einer verschwindend geringen Minderheit auszugehen. Eine große Schwierigkeit besteht allerdings auch im Rückblick darin, den Anteil der ehrlich Überzeugten einigermaßen richtig einzuschätzen, da sich ja Widerspruch und Gegnerschaft nicht offen zu erkennen geben durften. Offiziell gab es nur Zustimmung und einige wenige Feinde. Für die Menschen innerhalb des Systems, aber auch für die Beobachter von außen und schließlich sogar für die Funktionsträger des Systems selbst wurde es damit fast unmöglich, zwischen echter und nur vorgetäuschter Anhängerschaft zu unterscheiden.

Für die besondere Lage im geteilten Deutschland und im geteilten Berlin ergab sich daraus die Situation, dass man es im Grunde mit zwei politischen Frontlinien zu tun hatte, die miteinander in Beziehung standen. Die eine war die sichtbare Frontlinie zwischen DDR und Bundesrepublik einschließlich West-Berlin mit offener Konfrontation und klarer Abgrenzung. Die andere war die unsichtbare Frontlinie innerhalb der DDR zwischen Anhängern und Gegnern des Systems, die weit weniger eindeutig verlief, und bei der es jede Menge Graustufen gab. Anhänger und Gegner lebten nicht in getrennten Welten, sondern die Linie zwischen ihnen verlief mitten durch Familien, Freundeskreise, Schulen und Betriebe. Ein Anhänger konnte im Laufe der Zeit zum Gegner werden, ein Gegner zum Anhänger. Manch einer vermochte sich hier auch gar nicht eindeutig zu verorten, da er sich in mancher Hinsicht eher als Gegner und in anderer Hinsicht eher als Anhänger der offiziellen Politik sah. Die Mehrheit der Bevölkerung dürfte sich dabei wohl in einer Art inneren Distanz zum System befunden haben, die oft, aber bei weitem nicht immer bis zu völliger Ablehnung reichte. Nach außen allerdings gab man diese Distanz in der Regel nur sehr abgeschwächt oder überhaupt nicht zu erkennen. Die tatsächliche Situation war also sehr viel differenzierter, als die offizielle Selbstdarstellung des Systems glauben machen wollte, der zufolge es nur eine riesige Anhängerschar und einige wenige Feinde gab, die bekämpft werden mussten. Sie war aber auch differenzierter, als sich viele im Westen die Lage im Osten vorstellten, wenn sie davon ausgingen, dass es hier nur eine Handvoll mächtiger Kommunisten auf der einen und eine unterdrückte Masse auf der anderen Seite gab.

Bei den Anhängern des DDR-Systems war klar, dass sie quasi automatisch auch Gegner der Bundesrepublik sein mussten. Die Systemgegner in der DDR hingegen wurden von der SED pauschal als Anhänger des politischen und wirtschaftlichen Systems der Bundesrepublik stigmatisiert, was sie sicher zum Teil auch waren, zum Teil aber auch nicht. Die offizielle DDR sprach in ihren Stellungnahmen und Verlautbarungen stets nur für die entschiedenen Systemanhänger, die sie als eine übergroße Mehrheit ausgab, obwohl es sich um eine Minderheit handelte. Die Bundesrepublik hingegen nahm für sich in Anspruch, nicht nur für die eigene Bevölkerung, sondern auch für die schweigende Mehrheit in der DDR zu sprechen, die keine Möglichkeit hatte, sich selbst Gehör zu verschaffen. Alles in allem also eine komplizierte Gemengelage, bei der die sichtbare Frontlinie zwischen Bundesrepublik und DDR und die unsichtbare Frontlinie zwischen Anhängern und Gegnern des Systems innerhalb der DDR in einer komplexen inneren Beziehung zueinander standen.

Im Alltag der Menschen in Ost-Berlin führte diese komplizierte Gemengelage mitunter zu merkwürdigen politischen Verrenkungen. In seinem stark autobiografisch geprägten Roman „Krokodil im Nacken“ beschreibt der Jugendbuchautor Klaus Kordon eine Jugend im Ost-Berlin der 1950er Jahre, wobei die schizophrene Haltung gegenüber West-Berlin sehr anschaulich geschildert wird. Manfred Lenz, erkennbar das Alter Ego des Autors, wächst im Prenzlauer Berg in einem Milieu auf, das dem SED-Regime ausgesprochen distanziert und kritisch gegenübersteht. Regelmäßige Ausflüge nach West-Berlin sind für ihn völlig selbstverständlich. Dann aber stirbt seine Mutter, und Manfred Lenz muss in ein Heim, in dem eine strenge sozialistische Erziehung herrscht. Bei seinem Musiklehrer in der neuen Schule muss er sozialistische Kampflieder lernen. Um nicht zum Außenseiter zu werden, tritt Manfred Lenz gegen seine eigentliche Überzeugung in die FDJ ein und gibt sich äußerlich als überzeugter Sozialist, obwohl er innerlich das DDR-System weiterhin ablehnt. Besuche in West-Berlin sind bei Schule und Heimleitung absolut unerwünscht, dennoch verlassen Manfred Lenz und viele andere Jugendliche aus dem Heim immer wieder heimlich ihre Unterkunft, um unbemerkt nach Kreuzberg zu fahren, wo sich rund um das Schlesische Tor viele Kinos befinden, in denen West-Filme zu sehen sind. Eines Tages trifft Lenz dort bei einem Kinobesuch unverhofft auf seinen Musiklehrer, der sich offenbar ebenso heimlich nach West-Berlin aufgemacht hat – eine für beide peinliche Situation. Ohne dass Worte nötig wären, verständigen sich beide darauf, bei ihrer Rückkehr nach Ost-Berlin absolutes Stillschweigen über diese unerwartete Begegnung zu bewahren.8

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