All das hier

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Über dieses Buch

Einen Sommer lang waren sie zusammen, haben in Hamburg ein The­a­ter­­stück auf die Bühne gebracht und sind da­nach für unbeschwerte Tage ans Meer gefahren.

Ein Jahr später kommt Finn bei einem Autounfall ums Leben, und mit ihm schwindet das heimliche Gra­vi­tations­zen­trum der Beziehungen. Da ist Anna, einst Finns Freundin, die jetzt mit Malte zusammen ist. Malte, des­­sen Nähe zu Finn ungeklärt geblieben ist. Und da ist Ben, dem Finn ge­gen die Drogen zu helfen versucht hat und der Finns Freundin Nessa mehr als zu­ge­neigt ist.

Der Roman erzählt von den wenigen Tagen nach Finns Tod und vom Wiedersehen der Freunde zum Begräbnis in Zürich. Sie streifen durch die Bars und über die Dächer der Stadt und versuchen, das Vergangene wieder zu­­sam­menzu­setzen. Der noch von Finn geplante ge­meinsame Trip nach Südfrankreich ­verspricht, wieder an jene Tage am Meer anknüpfen zu können.

«All das hier» ist ein Roman von einer melancholisch gelassenen Poesie, der von den Liebesgeschichten eines Freundeskreises und vom Ende der ­Ju­gend erzählt.


Foto Ayșe Yavaș

Alexander Kamber, geboren 1995 in ­Zürich. Ebenda Kindheit, Jugend, erste Short Stories. Zurzeit Studi­um der Kulturwissenschaften mit Schwerpunkt Philosophie an der Universität Lüneburg und arbeitet daneben als freier Journalist.

Alexander Kamber

All das hier

Roman

Limmat Verlag

Zürich

Für Ash

Man reist immer mit Toten im Gepäck.

Mathias Énard

1

Mitten in der Nacht vibrierte mein Handy.

Zuerst erkannte ich Bens Stimme nicht. Sie war höher als sonst, passte nicht zu ihm, sie überschlug sich mehrere Male. Ich versuchte ihr zu folgen, den unwirklichen Dingen, die sie sagte. Finn sei gestorben. Ein Auto. Und es habe geregnet. Mehr wisse man nicht. Noch nicht.

Ich konnte das Pochen meines Herzschlags in den Ohren spüren. Wir sagten beide nichts, und ich wägte ab, ob das wahr sein konnte oder ob ich träumte und gleich aufwachen würde.

Ben begann wieder zu sprechen, erst hörte ich ihn gar nicht. Ich lag auf dem Rücken, ohne mich zu rühren. Der Klang seiner Stimme kam von weit her, und da war dieses Gefühl, als sei Finn auf einmal in diesem Raum.

Dann spulte er einen Text ab, der so klang, als habe er ihn schon hunderte Male runtergeleiert.

«Es war seine Mutter, die mich angerufen hat. Sie war völlig fertig, konnte nicht mehr aufhören zu reden. Sie hat schon von der Beerdigung gesprochen. Von der Kirche und so. Sie hat sogar schon irgendwas von einem verfickten Sarg gesagt.»

Ich kannte Finns Eltern nicht, versuchte mir sie vorzustellen. Ich wusste nur, dass sie ursprünglich aus Ungarn waren.

«Finn würde sich im Grab umdrehen», sagte er dann leise, und es war seltsam, dass er das sagte. Mir wurde bewusst, dass Finn noch nicht einmal im Grab war, dass er gerade irgendwo sonst war, wo er wartete. Vielleicht war er wirklich hier in die­­sem Zimmer. Ich setzte mich auf.

«Die Beerdigung ist schon übermorgen», sagte Ben. Sein Tonfall war ernst, aber jetzt klang er wieder wie der Alte. «Seine Eltern wollen es so. Ich glau­­­be, sie wollen es einfach hinter sich bringen. Scheiße, ich versteh sie verdammt gut.»

Ich musste grinsen. Wenn Ben nicht fluchen könnte, könnte er wohl überhaupt nicht mehr sprechen.

«Wenn du und Anna mit dem Zug kommt, dann am besten morgen», sagte er. «Sonst wird das zu knapp.»

«Wir werden kommen.»

«Das ist gut. Nessa wird sich freuen.»

Ich fragte mich, was Nessa gerade machte. Ich stellte mir vor, wie sie in ihrem Bett lag und an die Decke starrte wie ich, sie mit ihren Augen nach ir­gend­etwas absuchte, nach verborgenen Mustern, die auch Finn gesehen haben musste in den Nächten, in denen er neben ihr lag, und ich dachte an ihre Augen, sie waren grün, vielleicht auch braun, braungrün, ich war mir nicht mehr ganz sicher, und doch war es erst ein Jahr her.

«Wenn ihr morgen gegen Mittag losfahrt, seid ihr am Abend da. Lass mich wissen, wann ihr an­­kommt.»

«Ja», sagte ich.

Ich würde also nach Zürich fahren. Ich war noch nie dort gewesen. Ich stellte sie mir vage als strenge, graublaue Stadt vor. Ich dachte an Banken, hohe Gebäude, an Geld. Von Finn, Ben und Nessa wusste ich, dass Zürich die höchste Clubdichte der Welt hatte. Und dass man die Berge sehen konnte, deren Gipfel angeblich auch im Sommer von Schnee bedeckt sind.

«Ihr könnt bei mir übernachten, ich müsste das aber bald wissen, damit ich eine Matratze besorgen kann. Oder ich kann euch ein Hotel buchen, wenn du willst.»

«Ich sag dir noch Bescheid», sagte ich.

Bens Stimme klang mittlerweile wieder vertraut. Es sind diese banalen Dinge, die einem Halt geben. Das Gefühl, dass sie sich nicht ändern.

«Da ist noch was», sagte Ben nach einer Weile.

«Hm?»

«Ich hab Anna noch nicht Bescheid gesagt. Finns Eltern werden sie vielleicht noch anrufen, sie kannten sich ja gut. Wenn du willst, ruf ich sie gleich an. Ich dachte mir nur, vielleicht willst lieber du ihr das sagen, das ist alles.»

«Danke», sagte ich. Wir legten auf. Ich starrte noch eine Weile auf mein Handy, dann legte ich mich auf den Rücken.

Ich sah Finns Gesicht, es schwebte über mir wie ein Gespenst an der Decke. Seine funkelnden Augen, die unter den dunkelbraunen Locken hervorblitzten. Augen, die jetzt tot waren und eigentlich leer sein müssten, es aber nicht waren. Ich begann, mit ihm zu reden, sprach die Worte laut aus, die im Raum verklangen, in dem ich allein war und in den nach und nach das erste Licht des neuen Tages drang.

Er lächelte mich an. Man sah diese feine Narbe auf seiner Unterlippe nur dann, wenn er lächelte. Sie war nur einige Millimeter lang, und meistens bemerkte man sie nicht. Sie hob sich leicht ab, ihre Farbe war heller als die Farbe seiner Lippen, ein blasses Rosa wie die Farbe der Haut. Und wenn man sie sah, wunderte man sich, woher sie kam. Ich hatte nie erlebt, dass ihn jemand danach gefragt hätte. Vielleicht strahlte er gerade deswegen diese Sicherheit aus, wegen diesem Makel, der unweigerlich jedes Mal sichtbar wurde, wenn er lächelte.

Ich versuchte mich abzulenken, aber meine Gedanken kreisten immer wieder um diese eine Nacht, als er in Hamburg war. Als wir allein waren, ohne Ben und Nessa. Ohne Anna. Als er verschwand, ohne etwas zu sagen. Die ganze Nacht zog an mir vorbei, und am Ende war Finn weg, er ging mit diesem Mädchen mit den orangen Fingernägeln, das sich in meiner Wohnung aufgewärmt hatte, weil es geschneit hatte draußen und sie Angst vor ihrem Zuhause gehabt hatte. Er sagte, er bringe sie nach Hause, aber er kam nicht wieder. Und ich wartete, sah die ganzen Flaschen vor mir. Sie waren leer, wir brauchten Nachschub, vielleicht war das ja der Grund, weshalb er solange wegblieb, aber das war es nicht. Die leeren Flaschen sahen aus wie bernsteinfarbene Kristalle, ich konnte nicht fassen, dass ich noch stehen konnte, und ich sah hinaus in die Nacht vor mir, ohne etwas zu sehen. Später erfuhr ich, dass er noch in derselben Nacht zurückgefahren war, nachdem er das Mädchen sicher nach Hause zu ihren Eltern gebracht hatte. Er nahm den nächsten Zug nach Zürich, den er erwischen konnte.

Das erste Mal sah ich Finn auf einem alten Foto, das Anna mir zeigte, als sie mir erzählte, er komme mit Ben und Nessa nach Hamburg, um «Das Bildnis des Dorian Gray» in dem Hamburger Theater zu spielen, an dem sie arbeitete. Er sollte die Hauptrolle spielen. Das Bild war alt, Anna und er waren da etwa sechzehn. Er hatte ihr gekünstelt den Arm um­­gelegt und grinste schief in die Kamera. Das war gleichzeitig auch das früheste Bild, das ich von ihr gesehen hatte, sie hatte noch in Zürich gelebt. Sie war da schon erwachsen, während Finn neben ihr wie ein Kind aussah, das man nach einem kurzen Blick nicht weiter beachtete. Der sechzehnjährige Finn sah sympathisch aus auf dem Bild, er war etwas pummelig, machte den Eindruck von jemandem, dem Leute gerne Dinge anvertrauen. Anna hatte mir erzählt, dass er Gedichte schrieb, schon seit Jahren, für die er sich als Junge geschämt hatte. Aber es waren Wahnsinnsgedichte, hatte sie ge­­sagt. Das war das Einzige, was ich da wirklich von ihm wusste. Auf dem Bild trug er ein Sweatshirt mit irgendwelchen Comicfiguren darauf. Als wir uns vor einem Jahr das erste Mal gegenüberstanden, glaubte ich zuerst, dass Anna mir damals das Foto einer anderen Person gezeigt hatte.

Anna fiel ihm um den Hals, ich stand daneben und kurz dachte ich, irgendwo sei eine versteckte Ka­­­mera. Aber wozu, wer hätte schon darüber ge­­lacht? Sie sagte «Moin Moin» und strahlte, Finn hat komisch geguckt, hat den Ausdruck nicht gekannt. Ich dachte an das alte Foto von ihm. Natürlich war er inzwischen älter, aber das war es nicht. Er trug Stoppeln und einen Schnurrbart, der ihm etwas aus früheren Zeiten verlieh. Er sah aus, wie ich mir den jungen Hemingway vorgestellt hatte. Er war etwas schlanker, drahtiger, aber er strahlte diesen ansteckenden Tatendrang aus. Und auf einmal hatte ich das Gefühl, betrogen worden zu sein. Mir wurde klar, dass ich ihn beneidete. Er hatte mit an­­sehen können, wie sie zu der Frau wurde, mit der ich seit einigen Monaten zusammen war, es war alles so frisch und bedeutete nichts im Gegensatz zu all den Jahren mit ihm. Ich kam da nicht gegen ihn an, und das alles strahlte er aus, ohne nur ein Wort zu sagen. Ich und Finn schüttelten uns die Hände. Ich versuchte zu lächeln, Anna strahlte immer noch. Er sagte, er freue sich, mich kennenzulernen, und ich hab ihm das auch wirklich abgenommen.

 

Dann stellte er uns Ben und Nessa vor. Ben war doppelt so breit gebaut wie Finn, sein Haar war kurz und dunkelblond. Seine Haut war sehr weiß. Er sah aus wie jemand, der als Rausschmeißer in einem irischen Pub arbeitet. Seine Arme waren grau und grün und rot, und die Farben waren verwaschen. Ich fragte mich, ob sie seine Tattoos übermalen mussten, bevor er auf die Bühne konnte.

An Nessa fiel mir als Erstes ihr Gang auf. Sie be­­wegte sich anmutig und selbstsicher, zog die Blicke auf sich, und ich sah ihr an, dass sie das wuss­te. Ihr Haar war kräftig und lockig und dunkel, sie hatte es lose hochgesteckt, einige Strähnen fielen ihr in die Stirn. Seitlich über ihrer Lippe blitzte ein Piercing auf, ein silbernes Muttermal. Mir fielen ihre Augen auf, sie waren immer in Bewegung, sie wa­ren wacher, lebendiger als die Augen anderer Menschen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie stundenlang still auf einem Stuhl saß und nichts tat, ich sah, wie sich ihre Hände bewegten, wenn sie sprach.

Ich packte meine Tasche. Danach buchte ich ein Doppelzimmer für zwei Nächte, damit wir nach der Beerdigung nicht gleich wieder zurückmussten, damit Anna Gelegenheit hatte, wieder einmal einen Abend in ihrer Heimatstadt zu verbringen. Die Zugtickets würden wir direkt am Bahnhof besorgen können.

Mittlerweile war Nachmittag. Ich ging rüber zum Fenster. Auf dem Fensterbrett war ein runder Abdruck von dem Aschenbecher, der die letzten Jahre dort gestanden hatte und der mich an den Geruch erinnerte, nach dem ich mich jetzt wieder sehnte, trocken, bitter und warm. Ich schaute eine Weile hinaus. Die Sonne brannte auf die gelben Sonnenschirme mit der Pilswerbung darauf, die Luft flimmerte. Es war Juni. Das Hamburger Schanzenviertel. Eckkneipen, Flohmärkte und Studentenbuden, auf deren Balkonen regenbogenfarbene Flaggen wehten. Den Sommer über waren die meis­ten Häuser leer, nichts weiter als große Särge. Das Leben spielte in den Innenhöfen, in denen sich der Geruch von gegrilltem Fleisch mit Tabakrauch vermischte.

Ich hatte Anna immer noch nicht angerufen. Sie war auf der Arbeit im Theater, und ich wusste, dass sie viel zu tun hatte. Dass die letzte Zeit nicht ein­­fach für sie war. Neben der vielen Arbeit, die immer vor der Sommerpause an den Theatern an­­fiel, hatte sie auch noch das endlose Bewerbungsprozedere für diesen Sommerjob, von dem sie seit Monaten sprach. Eine Hamburger Theatercrew tourte zwei Wochen lang durch Schweden und suchte kurzfristig noch einen Szenografen. Es war eine bekannte und prestigeträchtige Tour, die ihr so einiges ermöglichen würde. Sie hoffte wahnsinnig auf diese Stelle.

Falls sie den Job nicht kriegen sollte, wollten wir sofort losfahren. Mit dem Van ihres Bruders durch Osteuropa. Es war ihre Idee gewesen, sie hatte gemeint, es sei höchste Zeit, mal von hier wegzukommen. Schon lange malten wir uns die Reise aus, nur konnten wir uns noch nicht auf die Städte einigen. Das war auch nicht wichtig, hatte Anna gesagt. Sie hatte recht. Hauptsache gen Osten, Hauptsache bald. Und jetzt tauchte dieser neue Ort auf, an den wir beide nie gedacht hätten und der sich zwischen das alles schob.

Ich drehte mich um und starrte in das Innere meiner Wohnung, ich fühlte mich am falschen Ort, alles fühlte sich falsch an. Mit dem Rücken zum Fensterbrett betrachtete ich die niedrige, schwarze Ledercouch, auf der getragene T-Shirts und Socken lagen, meine Matratze auf hölzernen Pa­letten, den Esstisch mit einem kleinen Turm aus Büchern darauf und eine Kleiderstange, da ich keinen Schrank hatte. Ein Paar Krücken lehnten in der einen Ecke des Raums.

Ich kramte mein Handy hervor, als es an meiner Tür klingelte. Ich merkte, wie ich erleichtert aufatmete. Ich ging rüber und öffnete.

Es war der Typ von nebenan. Er war von diesem Schlag Mensch, die einem mit der Polizei drohten, wenn man nach zehn Uhr abends den Fernseher zu laut laufen hatte. Er trug ein kariertes Hemd mit kurzen Ärmeln, hatte ein rotes Gesicht und dieses zuckende Auge, das mich fertigmachte. In seiner Hand zerquetschte er einen Stapel Briefe.

«Ihre Post verstopft mal wieder meinen Brief­kasten», sagte er und hielt mir die Briefe vors Ge­­sicht. Dann wedelte er mit ihnen in der Luft herum, als hätte er Angst, dass ich ihm das nicht glaubte.

«Tut mir leid», sagte ich. Das Ding war, dass ich kein richtiges Namensschild an meinem Brief­kasten hatte. Ich hatte mich nie darum gekümmert. Nur so ein Stück Papier mit meinem Namen drauf, das immer wieder runterfiel, sodass ich alle paar Wochen ein neues ankleben musste. Ab und an landete dann eben meine Post in dem Briefkasten von diesem Kerl, der mit seiner Frau in der Wohnung neben mir im vierten Stock wohnte. Ich streckte meine Hand nach den Briefen aus, aber er zog sie ruckartig zurück.

«Das ist ja nicht das erste Mal, dass ihre Post bei mir landet.»

«Ja, aber …»

Er unterbrach mich. «Das kann doch nicht zu viel verlangt sein, seinen eigenen Briefkasten or­­dent­­­lich anzuschreiben. Oder ist sich der Herr Schauspieler dafür zu fein?»

Er atmete schwer, hauchte mir beim Sprechen seinen dunstigen Atem ins Gesicht, und das eine Auge zuckte noch wilder, schien fast zu explodieren.

«Ich hab mir das Bein gebrochen», sagte ich. «Konnte drei Monate lang nicht richtig laufen.»

Er glotze auf mein Bein. «Dann sind Sie wohl gerade eben zur Tür geschwebt, nehme ich an?» Er funkelte mich an. Ich wunderte mich über seine Wut.

«Wir sind ja schon ’ne Weile Nachbarn», sagte ich. «Ich finde, es ist langsam Zeit, zum Du überzu­gehen, was halten Sie davon?»

Einen Augenblick verschwand die Wut aus seinen Augen, und er sah irgendwie zahm, fast hilflos aus, als hätte er vergessen, was er hier überhaupt wollte. Aber nur für einen Augenblick, dann pfeffer­te er mir die Briefe vor die Füße und machte einen Abgang. Ich stand da, die Tür noch immer offen. Ich hätte ihm sagen sollen, dass er sich ficken soll, aber er war schon lange wieder in seiner Wohnung verschwunden. Ich hob die Briefe auf. Das Papier war ganz nass von seinen Händen. Nach der dritten Rechnung legte ich die restlichen Briefe ungeöffnet zur Seite.

Es ist schon seltsam. Manchmal geschieht et­­was und das Leben verändert sich schlagartig. Es regnete, und ich rannte, weil ich einen Zug erwischen musste. Die Rolltreppe war nass, und ich fiel auf den letzten Stufen, der Schmerz war stechend. Die Menschen schauten kurz und liefen weiter, nur eine alte Frau starrte mich an, gelähmt vor Schreck, ein paar Sekunden lang. Sie hielt ihre grüne Handtasche mit beiden Händen fest und blieb stehen. Ich sah nur ihre Hände. Sie sahen aus wie Krallen.

Es blieb mir nichts übrig, als auf dem kalten Steinboden sitzen zu bleiben und die Nummer des Notrufs zu wählen. Das Geräusch des Freitons mischte sich mit dem des Zuges, den ich hätte nehmen müssen und der mit einem metallenen Kreischen den Bahnhof verließ.

Das Schienbein ge­­bro­chen, ein glatter Schnitt, wie mit dem Lineal gezogen, meinte der Arzt. Vor etwa einer Woche haben sie mir den Gips abgenom­men. Ich konnte wieder gehen und glaubte, dass man nicht einmal bemerken würde, dass da mal was war.

2

Ich rief endlich Anna an und sagte ihr, Finn sei tot, weil wahrscheinlich irgendein Typ besoffen Auto gefahren sei. Sie hörte zu, sagte dabei nicht viel. Immer, wenn ich eine Pause zwischen den Sätzen machte, murmelte sie etwas, um mir zu zeigen, dass sie zuhörte. Mit lebloser Stimme, die sich an­hörte, als wäre auch etwas in ihr gestorben. Ich fragte mich, ob sie das absichtlich tat oder nicht. Sie war gerade bei der Arbeit, es war bereits früher Nachmittag. Als ich alles gesagt hatte, ließ sie mich kurz am Telefon warten und sagte mir dann, sie könne eine halbe Stunde freimachen, länger nicht. Wir verabredeten uns in einem Café, das gleich neben dem Theater lag. Ich verließ meine Wohnung, es fühlte sich auch nach ein paar Tagen immer noch etwas seltsam an, so ganz ohne Krücken. Es war aber nicht wegen des Beines, dass ich nicht den schnellsten Weg zum Café nahm. Ich woll­­­­­te ihr ein wenig Zeit lassen. Auch wenn es nur ein paar Minuten waren.

Sie nippte an ihrem Eistee, und da war die ganze Zeit dieses Surren der Ventilatoren, die an der Decke hingen und nicht wirklich einen Unterschied mach­­­ten. Ich bildete mir ein, den Geruch des Sham­­poos zu riechen, das von ihrem blonden Haar ausging. Ihre Haut war blass wie die Haut einer Nordeuropäerin. Sie trug eine lockere, weiße Bluse, un­­­ter der ich die dunklen Umrisse ihres BHs erkennen konnte. Ihre Augen waren etwas gerötet. Sie hatte fast alle Spuren der Tränen verwischt, ließ sich nichts anmerken. Sie musste sich hier auf der Toilette neu geschminkt haben.

Die Wände des Cafés waren mit Zeitungen tapeziert. Die Tische waren rund und aus hellem Holz. Es gab keine richtigen Lampen, aber Hunderte Glüh­­birnen, die an langen Kabeln von der Decke hingen. Eine der Glühbirnen schwang durch die Luft wie ein Pendel, weil irgendein Riese gerade dagegengelaufen war. Es war ein typischer Studententreffpunkt und jetzt am Nachmittag rappelvoll. Ich hatte eine Limonade bestellt, die sie als hausge­macht verkauften. Ich hatte Lust auf ein Bier, fand es aber irgendwie unpassend. Die Limo schmeckte nach Wasser und Zucker und dem beißenden Zitronensaft aus diesen gelben Quetschflaschen.

«Ich weiß nicht, was wir jetzt machen sollen», sagte ich. «Ben hat uns angeboten, bei ihm zu pennen, aber ich weiß, dass das für dich nicht infrage kommt. Also hab ich mal ein Hotelzimmer mitten in der Stadt gebucht. Deine Eltern wohnen ja ein gutes Stück außerhalb, aber wenn du willst …»

«Ich werde nicht mitkommen», sagte sie.

Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich sah sie an.

«Es geht nicht», sagte sie und schüttelte den Kopf, ohne meinen Blick zu erwidern. Sie sah auf den kleinen runden Tisch, der zwischen uns war.

«Wieso denn?»

«Ich hab dir das noch nicht erzählt. Übermorgen ist die letzte Runde, wo sie die Kandidaten befragen für die Stelle in Schweden. Morgen muss ich ganz normal arbeiten, das ist nicht das Problem, aber wenn ich die letzte Bewerbungsrunde sausen lasse, war alles für die Katz.»

«Was, noch eine Runde?»

Sie nickte. «Ja, noch eine letzte. Ich weiß das selber erst seit ein paar Tagen. Das war auch so nicht eingeplant.»

Ich sah sie an. «Aber Anna …»

«Was?»

«Es ist nur ein Job.»

«Ja, es ist ein Job. Einer, für den ich monatelang ge­arbeitet hab.»

Sie schüttelte den Kopf, ganz leicht, den Blick wieder auf den Tisch gerichtet.

«Denkst du nicht, dass sich da was machen lässt? Bei einem Todesfall drücken die vielleicht ein Auge zu, können den Termin verschieben oder so.» Ich versuchte zu lächeln.

«Ich bezweifle es, Malte. Die Tour beginnt ja schon in ein paar Tagen, und die suchen nur wen Neues, weil der alte Szenograf kurzfristig abgesprungen ist. Wenn ich da nicht auftauche, kann ich es vergessen.»

«Ich weiß, wie sehr du dich dafür abgerackert hast.»

Sie lächelte traurig. «Ich hab mich die letzten Tage schon darüber gefreut, dass das alles in zwei Tagen vorbei sein würde. Immerhin wäre dieser ganze Stress dann vorüber und ich wüsste, woran ich wäre.» Sie zögerte, sagte dann: «Ich weiß gar nicht, ob ich überhaupt die Kraft hätte, nach Zü­­rich zu fahren, Malte. Dort seine Eltern wiederzusehen, die ich jahrelang fast täglich gesehen habe.»

Ich nickte. Ich bemerkte die hellrote Haut an ihrem Hals, ganz leichte Flecken, die man erst auf den zweiten Blick sah und die immer da waren, wenn sie aufgeregt war, wenn sie etwas durcheinan­derbrachte. Ich sah, wie sie ihr Glas hielt, den Ellbogen auf dem Tisch und den Unterarm ungelenk nach außen abgewinkelt. Den kleinen Finger die ganze Zeit abgespreizt wie die filmischen Abklatsche der englischen Damen beim Tee, sie hielt das Glas immer so, ganz egal welches und ganz automa­tisch, jedes Mal, wenn sie nicht wusste, was sie tun sollte. Jetzt gerade sah ich all diese Dinge, die sonst so unscheinbar waren.

Ich wollte aufstehen. Ich wollte sie nochmals umarmen, ihre Haut berühren. Ihr einen Kuss geben, einen richtigen dieses Mal. Nicht wie vorhin, als ich hereingekommen war und sie bereits an diesem Tisch saß und alles nur aus Gewohnheit war, weiter nichts. Ich sah mich um, es war ein normales Café voller Leute, die einander gegenübersaßen und sich nicht rührten. Sie standen nicht auf und küssten sich nicht und nahmen sich auch nicht in den Arm. Ich blieb sitzen.

«Aber du solltest gehen», sagte sie dann. «Nach Zürich.» Sie sah mich an, versuchte zu lächeln. «Also, wenn du möchtest.»

 

Ich nickte, wusste nicht, was ich sagen sollte. Dann wieder Stille, wir sahen beide zur Seite. Ich las die Überschrift eines Zeitungsartikels an der Wand: «Werther-Effekt – Selbstmordwelle erschüttert das Land.» Ich schaute genauer hin und sah, dass der Artikel schon einige Jahre alt war.

«Was ist denn?», sagte Anna und kniff die Au­­gen zusammen.

«Nichts», sagte ich. Das Geräusch eines laut aufheulenden Motors drang in das Innere des Cafés. Es hallte lange in meinen Ohren nach. Ein Autounfall, eine Sache weniger Sekunden. Man trinkt ein paar Bier und denkt nicht weiter nach. Es ist dunkel, und es regnet. Ein fehlender Blick, ein defektes Fahrlicht, ein falscher Schritt, der einen umbringt. Und man wird zerquetscht, das Auto überrollt einen und schert sich einen Dreck um den, der un­­ter ihm liegt. Es war zum Lachen, nichts als ein schlechter Witz. Finn hätte wahrscheinlich gelacht, aber ich konnte nicht.

Ich stellte ihn mir vor. Ein lebloser Körper, der auf dem Rücken lag am Straßenrand, die Ellbogen gebrochen, die Arme verdreht. Die Fahrer der Au­­tos, die an ihm vorbeifahren, würden in dem Dunkel nichts bemerken, und Finns Körper würde zunehmend kälter werden. Sie würden das Lenkrad mit einer Hand halten, auf die Straße schauen und an ihr Zuhause denken oder wo sie sonst gerade hinfuhren. Sie würden dem gleichmäßigen Ge­­plärre des Radios lauschen und vielleicht mit dem Kopf dazu nicken. Und der Regen würde auf Finns Körper prasseln.

Anna berührte mich mit ihren Fingern an der Hand, ohne etwas zu sagen. Ich fragte mich, weshalb sie ihre Hand auf meine legte und es nicht um­­­gekehrt war. Dann nahm sie einen Schluck von ihrem Eistee und stellte das Glas auf den Tisch. Ich sah den dunkelroten Abdruck ihres Lippenstifts.

«Wie geht es Ben und Vanessa?», fragte sie. Sie nannte Nessa aus irgendeinem Grund immer bei ihrem vollen Namen.

«Ich weiß es nicht, den Umständen entsprechend, denke ich. Du weißt, dass ich lange nichts mehr von ihnen gehört habe.»

Sie nahm wieder einen Schluck ihres Eistees, sie trank so langsam.

«Du solltest wirklich gehen, Malte. Sie werden sich freuen. Ich muss ja nicht unbedingt dabei sein. Und du weißt, dass Ben und ich nicht gerade gut miteinander auskommen.»

«Ich weiß, dass du Ben nicht magst», sagte ich. «Ich versteh das auch, ich muss auch nicht ständig mit ihm abhängen, um ehrlich zu sein, aber du tust ihm unrecht. Er ist eigentlich echt in Ordnung», sagte ich und dachte an unsere Zeit zu fünft am Meer, an Finn, der vom Nachhilfeunterricht in der Grundschule sprach und dann nicht mehr weitersprechen konnte. Und wie Nessa ihren Arm um ihn legte und an Bens starren Blick, der alles wusste und der mir dann später etwas erzählt hatte, was so unglaublich war, dass ich mich lange gefragt habe, wie so etwas über Jahre hinweg ungesagt bleiben konnte, sodass sogar Anna es während ihrer ganzen gemeinsamen Zeit mit Finn nie erfuhr, es auch jetzt noch nicht wusste, weil Ben es nur mir erzählt hatte und ich es als stillschweigende Verpflichtung auffasste, es für mich zu behalten.

Und jetzt sah ich Anna an, fragte mich, ob ich ihr von all dem erzählen sollte, jetzt, wo Finn tot war und es niemals selbst würde erzählen können. Doch ich ließ es bleiben, ich wollte ihr in diesem Moment nicht noch mehr zumuten. Und ich glaubte nicht, dass das jetzt noch etwas ändern würde.

Sie riss mich aus meinen Gedanken. «Ich weiß einfach nicht, was Finn und Vanessa an ihm finden. Er ist wie ein nerviges Kind, das einfach drauflosspricht, ganz ohne Filter. Er hat sich nicht unter Kontrolle, manchmal, da hat man das Gefühl, er dreht jeden Moment durch. Weißt du, was ich meine?»

Sie traf es ziemlich gut, dachte ich. «Du übertreibst», sagte ich aber.

«Na ja, ist ja okay. Zum Glück müssen wir uns nicht alle heiraten», sagte sie und lächelte.

Ich nickte.

«Was ist mit Osteuropa?», fragte ich dann.

«Ich kann es dir nicht sagen, Malte. Gib mir et­­was Zeit, dann können wir das planen.» Ihre Stimme wurde weicher. «Wir werden fahren, versprochen.»

Sie lächelte, und ich versuchte, mir die Reise vorzustellen. Ich sagte mir selbst, dass ich mich nicht so anstellen sollte. Ob früher oder später, was spielte das für eine Rolle? Ich stellte mir vor, wie ich am Steuer saß und mit ihr durch die Nacht fuhr. Leere Autobahnen und leise Stimmen aus dem Radio, die wir nicht verstanden, aber denen wir trotzdem gerne zuhörten, bis ihr Rhythmus in unsere Gedanken überging. Wir würden immer wieder anhalten, um uns dampfenden Kaffee zu besorgen, damit wir noch ein wenig wach blieben, die Nacht nutzten und den Tag für neue Orte hatten. Ich dachte an unbekannte Städte, an goldene Zwiebeltürme, an Geigenmusik in steinernen Kellern.

Anna lächelte mich an. «Ich seh dir gerne zu, wenn du in Gedanken versinkst. Ich wünschte, ich könnte das auch.» Dann sah sie auf ihre Uhr. «Es ist schon spät.»

«Du kannst ruhig gehen, ich bezahl das schon», sagte ich.

«Danke», sagte sie und gab mir einen Kuss. Ich leg­­­te meine Hände um ihre Wangen und zog sie nochmals zu mir hin, wir küssten uns nochmals.

«Ich bin spätestens um halb sieben fertig. Vielleicht lassen sie mich heute ja etwas früher gehen, wer weiß.»

«Ich will dich noch sehen, bevor ich fahre. Ich komme so gegen sieben bei dir vorbei, okay?»

«Du fährst also», sagte sie, als sie schon einige Schritte in Richtung Tür gegangen war. Es hatte nicht wie eine Frage geklungen.

In meiner Wohnung öffnete ich das Fenster. Der Geruch von Holzkohle und Fleisch. Ich merkte, dass ich Hunger hatte und den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte. Ich öffnete den Kühlschrank, aber er war fast leer. Da war noch irgendein Jo­­­ghurt­­­drink, den Anna mal mitgebracht hatte. Ich goss mir ein Glas ein und nahm einen Schluck. Er schmeckte sauer, ich spuckte ihn aus, schleuderte das Glas auf die Spüle und erschrak gleich darüber. Ich starrte eine Weile auf die Glassplitter. Dann sah ich rüber zur Tür. Ich war mir sicher, dass mein Nachbar es gehört haben musste. Ich ging wieder zum Fens­ter, versuchte, ein wenig herunterzukommen. Ich stützte mich auf dem Fensterbrett ab, atmete langsam durch. Ich sah draußen mehrere Fahrräder vorbeifahren. Eine der Fahrradklingeln schepperte leicht, ein Kind lachte. Ich dachte an Bens Anruf.

Ich setzte mich aufs Bett und schaute mir auf Netflix eine Serie über Hochsicherheitsgefängnisse in den USA an. Das Hungergefühl war verflogen. Ein Typ mit tätowiertem Gesicht starrte mich an, er saß wegen Mordes. Schon fünfzehn Jahre lang. Er schaute in die Kamera, seine Augen waren groß und dunkel wie Pferdeaugen. Er sprach sehr langsam und leise, und er sagte, dass er nichts mehr fürchte als den Tag, an dem er freikommen würde und an dem alles auf einen Schlag zerbräche, was er sich die ganzen Jahre im Knast über aufgebaut hatte. Ich dachte eine Weile darüber nach. Dann vibrierte mein Handy. Ich merkte gleich, dass sie be­­­trunken war. Es war ihre Stimme, sie klang seltsam aufgekratzt, fast fröhlich, was mich wunderte.

«Es ist lange her», sagte ich.

«Wann kommst du morgen an?»

«Um sieben.»

«Schön. Ich freu mich schon.»

«Wie geht es dir?»

«Ich weiß es nicht. Irgendwie fühl ich mich jetzt gerade das erste Mal besser, also seit letzter Nacht. Ich weiß auch nicht, weshalb ich angerufen habe. Es war eine dumme Idee, ich wollte einfach mit dir reden.»

«Das macht nichts. Ich versteh das.» Ich klappte den Laptop zu und legte mich aufs Bett. Ich merkte, dass ich lächelte.

«Ben war vorhin hier. Er kommt auch später nochmals vorbei.»

«Du solltest ihm sagen, dass er sich verpissen und dir nicht so auf die Pelle rücken soll.»

Sie kicherte. Ich hatte diesen hellen Klang völlig vergessen.