Chefvisite. Die unerwartete Rückkehr des Auferstandenen

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Chefvisite. Die unerwartete Rückkehr des Auferstandenen
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Albrecht Gralle

Chefvisite

Die unerwartete Rückkehr des Auferstandenen

Roman


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-96140-004-1

© 2017 by Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH, Moers

Einbandgestaltung: Brendow Verlag, Moers

Titelgrafik: Dietmar Reichert

Satz: Brendow Web & Print, Moers

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2017

www.brendow-verlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Teil I – Fahren

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

Teil II – Gehen

15

16

17

18

19

20

21

22

Teil III – Sitzen

23

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Teil IV – Aufstehen

25

26

27

28

29

30

31

Nachbemerkung

Weitere Bücher

Teil I

1

Wir fuhren von Tel Aviv nach Jerusalem mit einem Leihwagen. Ein guter Freund von uns heiratete dort, und wir waren zur Hochzeit eingeladen. Vor ungefähr zwanzig Jahren waren meine Frau und ich schon einmal in Israel gewesen. Ich war gespannt, wie sich das Land verändert hatte.

Tel Aviv wie eh und je: eine moderne internationale Stadt mit allem, was dazugehört. Pulsierendes Leben. Inzwischen waren eine Menge Hochhäuser dazugekommen und die latente Angst vor Anschlägen. Dann: Jerusalem. Geschäftig, durchweht von Geheimnissen. Die Altstadt: eng und laut und voller Gerüche.

An einem Schabbat, Ende September, geschah es. Eine mörderische Hitze lastete tagsüber auf der Stadt, obwohl die heiße Zeit ja schon vorbei war. Ich konnte nicht schlafen, und da unser Freund in der Nähe des Ölbergs wohnte, stand ich auf, um mir die Beine zu vertreten und etwas kühle Luft zu genießen. Natürlich nahm ich den Schlüssel mit und schloss die Haustür ab. In Israel musste man mit allem rechnen.

Es war nicht mehr ganz dunkel, der Himmel hatte eine fahle Färbung angenommen, und ich konnte in dem Dämmerlicht den Weg schon gut erkennen. Hinter einer Wolkenbank ahnte ich den Sonnenaufgang. Die Luft fühlte sich angenehm kühl an, eine Wohltat nach der schweißtreibenden Nacht.

Ich ging den Trampelpfad, der neben dem Haus vorbeiführte, nach oben. Ein paar Hunde jaulten um die Wette, und eine Polizeisirene schrillte weit entfernt durch die Stadt.

Inzwischen war es heller geworden. Plötzlich blieb ich stehen, ich hatte ein Geräusch gehört und versteckte mich hinter einer der wild wachsenden Akazien.

Da sah ich einen Mann den Berg herabkommen. Ich traute meinen Augen nicht. Er war vollkommen nackt. Vor einem der Häuser blieb er stehen, öffnete ein Tor und nahm sich von einer Wäscheleine eine Hose und ein Hemd herunter, die er in aller Ruhe anzog.

Als er weiterging, sah ich, dass auf der Leine nichts fehlte.

Ich zwinkerte mit den Augen. Vielleicht hatte ich mich auch getäuscht.

Der Mann ging jedenfalls weiter und kam direkt auf mein Versteck zu. Ich wich zurück und bekam Angst.

Er blieb vor mir stehen und sagte: „Du brauchst keine Angst zu haben! Wahrscheinlich wunderst du dich, woher ich komme, was? Ein nackter Mann, der vom Ölberg heruntersteigt! Und ich kann übrigens nicht nur Brote vermehren, sondern auch Hosen und Hemden.“

„Ja“, nickte ich, „ich habe mich … ahm … gewundert“, und überlegte fieberhaft, wie ich möglichst schnell von hier verschwinden könnte. Gleichzeitig hielt mich irgendetwas fest. Ich war erstaunt, dass er Deutsch mit mir sprach. Und seine Stimme war so freundlich und gleichzeitig sehr bestimmend und präzise, eine seltsame Mischung. Seine Augen blickten mich an, als hätte er sich seit zwanzig Jahren nach mir gesehnt und wäre froh, mich endlich zu treffen. Meine Angst verschwand.

„Es war mal wieder soweit“, fuhr er fort. „Ich bin zurück.“

„Aha“, sagte ich und setzte gleich hinzu: „Und woher … woher kommen Sie?“

„Du kannst mich duzen“, sagte er lächelnd. „Ich heiße Jeschua.“

Ich stellte mich mit Oliver Sanders vor und wiederholte meine Frage: „Also, woher kommst du?“

Er deutete nach oben. „Aus dem Himmel, obwohl er ja nicht oben ist. Er ist um uns herum und liegt gleich um die Ecke. Die ganze Erde ist ja erfüllt mit seiner Herrlichkeit.“

„Aus dem Himmel“, wiederholte ich nicht gerade geistreich und blickte auf seine nackten Füße. „Ist es nicht ein bisschen steinig, hier barfuß zu gehen?“

„Oh, das macht mir nichts“, wehrte er ab. „Ich habe keinen zerbrechlichen Körper mehr. Das war nur beim ersten Mal so. Ich kann auch durch Wände gehen, wenn es sein muss. Dieser Körper ist eine deutliche Verbesserung. Du wirst selbst einmal so einen erhalten, wenn du auferstehst und eintauchen wirst in die vollkommene Freude! Keine Kopfschmerzen, keine Gicht, kein Rheuma, kein Durchfall und nie mehr Muskelkater.“

Ich blickte ihn an, und in seinem Blick lag so viel Freude und Zuwendung, dass in mir der Verdacht aufstieg, es könnte tatsächlich Jesus sein. Zumindest war Jeschua die hebräische Form davon.

„Du bist …?“, fragte ich vorsichtig weiter.

„Ja, ich bin es. Gehen wir in die Altstadt. Ich mag die Atmosphäre, wenn die Stadt erwacht und man den ersten Kaffee zusammen trinkt.“

Er ging tatsächlich völlig entspannt über den Schotter. Als ob er Hobbit-Füße hätte mit einer dicken Hornschicht unter der Fußsohle.

„Darf ich dich mal … anfassen?“, fragte ich.

„Bitteschön.“

Ich berührte vorsichtig seinen Unterarm. Er fühlte sich deutlich wärmer an als 37 Grad, und es war mir, als ob etwas wie eine sanfte Kraft durch meine Finger floss.

„Da kommt kein Messer durch, keine Kugel, nicht einmal eine Atomexplosion könnte diesem Körper etwas anhaben“, sagte Jeschua.

Ich strich über seinen Bart, und er knisterte, als ob er elektrisch aufgeladen wäre.

„Es fühlt sich nach sehr viel Kraft und Energie an“, sagte ich.

„Es wird gesät in Schwachheit und wird auferstehen in Kraft“, zitierte er und fügte hinzu: „Wenn ich will, kann dieser Körper so hart wie ein Diamant werden oder so durchlässig wie Radiowellen.“

 

Als wir in die engen Gassen Jerusalems eintauchten, fingen die Händler gerade an, ihre Waren auszubreiten. Eine Gruppe von jungen Männern hing vor einem großen Gebäude herum. Vielleicht suchten sie Arbeit. Hinter einer Biegung sahen wir ein Café. Ein Mann mit einem dünnen Kinnbart und einem Burnus um den Kopf nickte uns zu und winkte uns heran.

Jeschua sprach mit ihm arabisch und bestellte uns zwei Tassen Kaffee und eine Schale mit Nüssen. Ich blickte auf die Uhr. Es war kurz vor sieben.

Der Kaffee war stark, schwarz und heiß.

Jeschua schien ihn zu mögen.

„Aber wieso kannst du essen und trinken mit diesem himmlischen Körper?“, fragte ich leise, um jedes Aufsehen zu vermeiden. „Ich dachte, im Himmel sei alles irgendwie ätherisch, leicht, luftig und so weiter.“

„Der Himmel ist härteste Realität“, erwiderte er. „Eigentlich die Realität an sich. Und ein himmlischer Körper schließt alles ein, was ein irdischer kann, aber er geht darüber hinaus. Das habe ich damals doch auch schon gezeigt. Ich habe nach meiner Auferstehung mit meinen Schülern Fische und Brote gegessen und habe ihnen am Tag vor der Kreuzigung versprochen, Wein mit ihnen zu trinken im Reich Gottes. Das war alles ernst gemeint.“

„Aber wie geht das? Du hast doch gesagt, es sind zwei … Wirklichkeiten?“

Jeschua lächelte. „Du willst es aber genau wissen, was?“

„So etwas interessiert mich“, sagte ich. „Was wirklich spannend ist, das sind doch immer die Details, zum Beispiel bei einem Mord oder bei der Liebe.“

„Ja, da ist etwas dran. Nun, die himmlische Wirklichkeit kann das Irdische aufnehmen und verwandeln, aber nicht umgekehrt. Mein irdischer Körper wurde ja auch aufgenommen und verwandelt. Der Tod ist verschlungen in den Sieg … Und die Geschmacksnerven eines Auferstehungskörpers sind hundertmal intensiver. Dieser Kaffee ist frisch, und die Bohnen sind erstklassig. Natürlich nichts gegen das Getränk im Himmel, das dem Kaffee ähnlich ist.“

Ich fasste es nicht: Kaffee im Himmel? Ob es dort auch Kaffeeautomaten gab? Wahrscheinlich eher nicht.

Jeschua sagte etwas zu dem Wirt, der daraufhin lachte.

„Meine Güte“, sagte ich. „Die Auferstehung! Darüber streiten sich die Theologen seit Hunderten von Jahren. Ob du geistig auferstanden bist oder symbolisch, ob dein toter Körper gestohlen wurde oder ob du wiederbelebt wurdest oder nur scheintot warst. Es gibt zig Variationen.“

„Ja, das Wort Auferstehung kann missverständlich sein“, nickte er. „Bei meiner Auferstehung wurde ja keine Leiche neu belebt. Bei mir war es eher eine Verwandlung. Aber die Evangelien erzählen das doch alles: das leere Grab, die Begegnungen im Garten oder die beiden Wanderer auf dem Weg nach Emmaus, die Szene am See Genezareth – fremd und dann doch wieder bekannt …“

„Den meisten fällt es schwer, an so etwas zu glauben“, sagte ich und fragte: „Aber warum kommst du nackt aus dem Himmel? Gibt es da keine Kleider?“

„Doch schon, aber die bewegen sich nicht nach irdischen Regeln. Sie gehorchen der Schwerkraft des Himmels, und das würde hier komisch aussehen. Sie fangen an zu flattern, wenn es hier windstill ist, weil sie sich nach deinen Stimmungen richten. Sie wechseln die Farben, wenn dir danach ist. Das würde auffallen. Auch die Engel mussten sich irdische Kleider besorgen, wenn sie auf der Erde sichtbar wurden und nicht gleich auffallen wollten.“

„Das wusste ich nicht.“

„Jedenfalls“, sagte Jeschua, „es war kein Zufall, dass du mir begegnet bist. Irgendjemand sollte alles einmal aufschreiben. Ich finde, es ist an der Zeit, dass es einen Bericht über meine Wiederkunft gibt und über andere Ereignisse, die sich anbahnen. Ich werde übrigens daran arbeiten, dass sich dieses Buch überall verbreitet.“

„Ich kann nicht schreiben“, sagte ich.

„Dann such dir jemand, der das für dich erledigt. Ich werde dir dabei helfen. Mach dir auf alle Fälle Notizen.“

„Wieso gerade ich?“, fragte ich weiter.

„Darauf werde ich nicht antworten“, sagte Jeschua. „Aber bilde dir nicht ein, dass du deshalb etwas Besonderes bist.“

Ich merkte, dass es keinen Sinn hatte, an dieser Stelle weiterzubohren und steuerte auf ein neues Thema zu: „Ich dachte immer, deine Wiederkunft geschieht mit Macht und Herrlichkeit, mit Trompeten und Posaunen, und so weiter.“

„Meine Wiederkunft in Macht und Herrlichkeit steht auf einem ganz anderen Blatt. Das verborgene Reich Gottes ist noch nicht vollendet und muss noch weiterwachsen, bis die Zeit reif ist für den Durchbruch meiner letzten Wiederkunft. Das Potenzial der Menschen“, fuhr er fort, „ist noch längst nicht ausgeschöpft. Sie sind nicht so böse und so dumm, wie immer behauptet wird. Schließlich sind sie Ebenbilder Gottes. Und meine Erlösung hat viele positive Kräfte auf dieser Erde freigesetzt, Samenkörner, die ausreifen müssen. Aber ab und zu muss ich doch nach dem Rechten sehen, damit sich die Dinge im Sinne des Reiches Gottes entwickeln und sich der ganze Aufwand mit der Passionsgeschichte gelohnt hat.“

„Aber warum dann dieses ganze Gerede von der Wiederkunft?“

„Nun, es ist gut, das Ziel zu kennen, und übrigens erscheine ich jedes Mal in Macht und Herrlichkeit bei allen, die mit mir verbunden sind und sterben und damit in den Himmel entrückt werden. Ich zeige ihnen ihr neues Zuhause, wie ich es versprochen habe. Insofern ereignet sich die Wiederkunft in Macht und Herrlichkeit jeden Tag bei Tausenden von meinen Freunden, wenn sie hinüberwechseln. Aber eben noch nicht so bald auf der Erde. Das braucht noch Zeit.“

„Und wieso“, fragte ich, „wussten wir nichts von deinen heimlichen Wiederkünften?“

„Oh“, sagte er lächelnd und rührte in seinem Kaffee, „ihr hättet es wissen können. Es steht alles geschrieben.“

„Wo denn?“, fragte ich.

„Zum Beispiel bei Lukas. Da gibt es eine Szene auf dem Ölberg. Die Engel sagen sehr klar und deutlich am Tag der Himmelfahrt: Ihr Leute aus Galiläa, was steht ihr da und schaut zum Himmel? Dieser Jesus, der von euch weg in den Himmel aufgenommen wurde, wird genauso wieder herabkommen, wie ihr ihn jetzt habt in den Himmel entschwinden sehen.

Da steht nichts von Pauken und Trompeten und Macht und Herrlichkeit. So still wie ich gegangen bin, genau so still werde ich immer wieder zu euch zurückkommen. Unerkannt, und nur von Einzelnen wahrgenommen. Man sollte das, was Engel sagen, wirklich einmal ernst nehmen.“

„Wann war denn deine letzte Ankunft gewesen?“

„Das vorletzte Mal vor ungefähr dreihundert Jahren. Eine Schwellenzeit in Europa: neues Denken, Freiheit des Einzelnen, der Aufschwung der Wissenschaften, Aufbrüche in den Kirchen. Dann war ich 1945 hier, als die Welt in Trümmern lag. Ich habe Hoffnung ausgesät bei Leuten, denen alles genommen worden war. Es gab viel zu tun … Fast war ich versucht, Ende der achtziger Jahre wiederzukommen, um die Ost-West-Barrieren abzubauen, aber es gelang uns auch so durch die intensive Arbeit des Heiligen Geistes – und durch Gorbatschow.“

Er blickte auf eine altmodische Uhr an der Wand und sagte: „Du musst demnächst zurück, sonst wirst du vermisst. Wir treffen uns am Samstag in einer Woche in Hannover, bei der Marktkirche gegen Mittag. Dann sehen wir weiter.“

Er reichte mir die Hand.

Ich schüttelte sie. Sie war warm und vollgepackt mit Energie. Eigenartiges Gefühl.

„Hast du denn Geld bei dir?“, fragte ich.

„Kein Problem. Mir ist alle Macht gegeben im Himmel und auf Erden, da werde ich wohl ein bisschen Geld auftreiben können.“

Das waren seine abschließenden Worte, die mir auf dem Rückweg in mein Quartier noch lange in den Ohren klingelten, vor allem quälte mich die Frage:

Warum leben wir in dieser chaotischen Welt, wenn er doch alle Macht in Händen hat und alles ändern könnte? Aber das habe ich erst später begriffen.

2

Ansgar Kolnik fuhr den Wagen vor das Haus und stieg aus. Er beeilte sich, so schnell er konnte, nach oben in seine Wohnung zu kommen. Seit gestern war er wie elektrisiert. Sein einsames Leben als Witwer war bisher in ruhigen Bahnen verlaufen, denn mit seinen einundachtzig Jahren hatte er sich noch relativ gut gehalten. Er ging nur mit Stock, ohne Rollator, durch die Gegend, fuhr mit dem Auto kürzere Strecken. Und das Gehör funktionierte halbwegs. Erst vor Kurzem hatte er eine Hörhilfe beantragt.

Sein Leben floss in einer geruhsamen Routine dahin. Er war inzwischen nicht mehr traurig über den Verlust seiner Frau, die vor fünf Jahren gestorben war. Jetzt, wo er seinen Haushalt einigermaßen selbst versorgte, mit der Tochter in der Nähe, verspürte er sogar ein gewisses Maß an Freiheit. Niemand versuchte, ihn von seinen Ideen abzubringen oder Verbesserungsvorschläge zu machen. Neulich hatte er in einer gemischten fröhlichen Runde gesagt: „Seitdem ich allein lebe, mache ich komischerweise alles richtig.“ Die Männer hatten alle gelacht, die Frauen weniger.

Und so gingen die Tage gemächlich dahin. Bis gestern.

Seit gestern wurde Ansgars Leben wieder aufregend, denn er hatte etwas entdeckt, und das hing mit dem Neubau gegenüber zusammen.

Das Haus, das in seiner Straße gerade fertig geworden war, hatte ihn schon die ganze Zeit interessiert. Er hatte die Bauabschnitte genau verfolgt und fasziniert zugesehen, wie sich alles allmählich zusammenfügte und perfekter wurde. Fast zu perfekt, dachte er.

Im Vorgarten hatte man Anfang September Rollrasen ausgelegt, zwei Zwergahornbäume gepflanzt, die schon drei Meter hoch waren, Büsche und Sträucher waren dazugekommen. Eine perfekte Rinne aus hellen Kieselsteinen umgab die Grundmauern. Schaukel und Klettergerüst wurden gesetzt.

Das Haus machte den Eindruck, als habe man es in einem Katalog fix und fertig bestellt, und nun wurde es genauso aufgebaut. Makellos.

Was Ansgar erstaunt hatte, waren auch die beiden Männer im Blaumann gewesen, die vorgestern in einem Pickup vorfuhren, einen Rasenmäher ausluden und professionell den Rasen mähten. Dabei gehörte zu der kleinen Familie ein kräftiger Vater, der den lächerlich kleinen Rasen mit Links hätte mähen können.

Vorgestern hatte sich Ansgar nun ein Fernglas besorgt und fast zwei Stunden in seinem Sessel hinter der Wohnzimmergardine verbracht. Dieses perfekt sterile Haus ließ ihn nicht los.

Was ihn neben der Perfektion besonders beschäftigte, waren die beiden Mädchen, die mit der jungen Familie eingezogen waren.

Beide waren blond, ungefähr zwischen acht und zehn Jahre alt und trugen ausgesuchte Kleider, die den Eindruck vermittelten, dass man sie nicht schmutzig machen sollte.

Jeden Morgen um halb acht wurden sie von einem schwarzen Volvo abgeholt, obwohl die Grundschule in Fußentfernung lag.

Seit einer Woche wusste er, dass die Mädchen nicht in die übliche Grundschule gingen, sondern in eine, die weiter entfernt lag, vielleicht in eine Privatschule oder in eine Walddorfschule. Das hatte er von Frau Tondorf im Erdgeschoss erfahren.

Aber das war es nicht, was ihn zum Nachdenken brachte und ihn aufgerüttelt hatte.

Gestern hatte er herausgefunden, dass die Mädchen nicht jeden Tag dieselben waren.

Von Weitem hätte man keinen Unterschied gemerkt. Aber durch das Fernglas hatte Ansgar gesehen, dass die blonden Mädchen von vorgestern und die blonden Mädchen von gestern verschiedene Kinder waren. Die Gesichter unterschieden sich in Kleinigkeiten: andere Lippen, bestimmte Wirbel an den Haaren, eine etwas andere Art zu gehen …

Und Ansgar war deswegen heute pünktlich zurückgekommen, um den Zeitpunkt nicht zu verpassen, an dem der schwarze Volvo vorfuhr und die beiden Mädchen ausstiegen. Immer um halb eins.

Er blickte auf die Uhr. Noch eine Minute. Tatsächlich! Der schwarze Volvo bog um die Ecke und hielt vor dem Musterhaus mit dem Rollrasen.

Die Türen gingen auf, und die Mädchen stiegen mit ihren Taschen aus dem Wagen.

Ansgar saß bewegungslos hinter der Gardine, das Fernglas vor den Augen, und starrte hinüber.

Dann ließ er es sinken.

„Wieder zwei neue Mädchengesichter mit blonden Haaren“, murmelte er. „Insgesamt also schon sechs verschiedene Mädchen.“

Ansgar zuckte zusammen, weil das Telefon klingelte.

Er rappelte sich aus seinem Sessel hoch und ging in den Flur zum Telefon.

„Ja, ja, ist ja schon gut, ich komme!“, sagte er zu dem Apparat und nahm ab.

 

„Ansgar Kolnik?“

„Ich bin’s Papa!“, sagte seine Tochter.

„Uta! Was gibt’s?“

„Wie geht’s dir denn?“

„Ganz gut. Aber du rufst sicher nicht bei mir an, nur um zu fragen, wie es mir geht.“

„Na ja, das wäre schon ein Grund gewesen. Aber außerdem wollte ich dich fragen, ob deine Lieblingsenkelin Frida drei Tage bei dir wohnen darf?“

„Oh!“, entfuhr es Ansgar.

„Wieso? Ist es dir nicht recht? Hast du wichtige Verpflichtungen?“ Die letzte Frage mit leicht ironischem Klang.

„Seid ihr denn beide unterwegs?“, fragte er zurück.

„Ich möchte zu einer Fortbildung, und dein Schwiegersohn ist von seiner Geschäftsreise noch nicht zurück. Bitte, sag ja, Papa.“

Ansgar Kolnik überlegte. Es passte ihm im Grunde nicht. Gerade jetzt, wo er diese Entdeckung gemacht hatte, wollte er eigentlich ungestört seine Beobachtungen fortsetzen. Aber seine Enkelin musste ja auch zur Schule, und er hätte dann immer noch genügend Zeit für sein neues Hobby. Es stimmte schon: Er mochte Frida gerne und wusste, dass es umgekehrt auch der Fall war.

„Wann willst du sie denn bringen?“

„Am besten heute Nachmittag gegen vier. Außerdem ist der Weg zum Gymnasium von dir aus viel kürzer für sie.“

„Das weiß ich doch, Uta, Ich bin nicht verblödet.“

„Tut mir leid.“

„Gut, dann sehen wir uns, tschüs.“ Er legte auf. Noch nie hatte er es gemocht, minutenlange Verabschiedungsfloskeln am Telefon zu gebrauchen.

Er setzte sich in seinen Sessel, nahm das Fernglas wieder zur Hand und sah zu dem Haus hinüber.

Er meinte, eine Bewegung hinter den Gardinen zu erkennen. Sein Blick glitt an dem Haus entlang und blieb an einer Ecke hängen. Eine neue Regentonne stand neben dem Rohr, das von der Dachrinne kam. Aber es gab keine Öffnung zur Tonne hin.

Was bedeutete das alles?

Warum werden diese Mädchen ausgewechselt? Was für einen Sinn hatte das? Ist diese Familie nur eine Fassade? Was passiert in diesem Haus?

Wenn es eine geheime Firma ist, warum die Kinder? Dann hätte man doch auch ein kinderloses Paar nehmen können!

Ansgar legte das Fernglas auf ein Beistelltischchen neben seinem Sessel und ging in die Küche. Heute gab es Würstchen und Kartoffelsalat. Er hatte in den verschiedenen Angeboten im Supermarkt eine Packung entdeckt, die nicht ganz so künstlich schmeckte.