Als Luther vom Kirschbaum fiel und in der Gegenwart landete

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Als Luther vom Kirschbaum fiel und in der Gegenwart landete
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Albrecht Gralle

Als Luther vom Kirschbaum fiel und in der Gegenwart landete

Roman


Inhalt

Cover

Titel

Impressum

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Anhang

Fußnoten

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-86506-832-3

© 2015 by Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH, Moers

Einbandgestaltung: Brendow Verlag, Moers

Titelfoto: fotolia Christos Georghiou, Luther: wikipedia

Satz: Brendow Web & Print, Moers

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015

www.brendow-verlag.de

1

21. 6. 2017

Ich habe es geschafft! Ich, Pfarrer Andreas Sonnhüter, bin seit heute Rentner und endgültig Atheist. Endlich frei, und zwar gerade noch rechtzeitig, bevor der Bischof es herausgefunden hat. Die letzten Jahre im Amt waren furchtbar. Habe mich mit meinem Nichtglauben irgendwie durchgemogelt, habe versucht, persönliche Bekenntnisse zu vermeiden, musste doppeldeutige Sätze sagen: „An Gott glauben ist wie auf Wasser gehen …“ In Klammern: Man schafft es nicht. Oder: „Ich wünsche Ihnen einen starken Glauben …“ In Klammern: … den ich selbst schon lange nicht mehr habe.

Wie grotesk ist das, wenn man als ungläubiger Pfarrer den Leuten beim Glauben helfen soll? Wie ein Lahmer, der im Fitnessstudio andere trainiert. Jeden Sonntag auf der Kanzel zu stehen und anderen von Gott zu erzählen, einem Wesen, das sich bei mir verflüchtigt hat wie Wolken an einem heißen Tag, das geht einem an die Nieren.

Obwohl es tatsächlich möglich ist, als Atheist Pfarrer zu sein, zu predigen und trotzdem nicht zu lügen. Ist doch kein Problem, einen biblischen Text auszulegen und den Leuten selbst zu überlassen, was sie damit anfangen. Und die Liturgie hilft auch, das eigene Bekenntnis zu verschleiern.

„Du sollst nicht lügen!“

Gut. Direkt gelogen hab ich ja auch nicht. Nur wer genau zugehört hat, der hat die Unterströmung in meinen Worten mitbekommen. „Wer Ohren hat zu hören …“

Tja, die biblischen Worte sitzen immer noch tief. Sind ja auch nicht alle schlecht gewesen. Überhaupt haben sich meine gläubigen Jahre gut angefühlt. War ja auch ein gewisser Halt.

Aber irgendwann wurde mein Glaube zu einem Gefängnis. Wie oder wann, weiß ich selbst nicht mehr genau …

Ich bin jedenfalls froh, dass dieser Balanceakt endlich vorbei ist, halleluja!

Durch den Ruhestand ist mir eine gewaltige Last abgenommen. Ich muss nicht mehr so tun, als wäre ich gläubig.

Meine Frau hätte es sicher gemerkt, vor ihr hätte ich meinen Unglauben auf Dauer nicht verstecken können. Aber sie hat mich zurückgelassen, und an ihrem Grab konnte ich gerade noch eine pseudogläubige Haltung durchziehen und so tun, als würde nach dem Tod noch etwas kommen.

„Es ist ja schön, dass man wenigstens einen Glauben hat, wenn der Ehepartner stirbt, nicht wahr, Herr Pfarrer?“ Kommentar nach der Beerdigung. „Ja, das kann einen schon trösten.“ In Klammern: Wenn man daran glaubt. Wieder nicht direkt gelogen.

Ich werde trotzdem ab und zu mal im Gottesdienst auftauchen und interessiert zuhören, was meine Kollegen über den Phantomgott so alles sagen. Stelle ich mir irgendwie … abgefahren vor.

Und was ist mit meinem täglichen Leben? Mit meinen Alltagsritualen? Wird sich an meinem Tagesablauf wirklich so viel ändern als Ungläubiger?

Gut, das Beten fällt schon mal weg, aber ich denke, die Routine wird bleiben: frühes Aufstehen, nach dem Frühstück Lektüre und einen Vortrag ausarbeiten – immerhin bin ich Mitglied im philosophischen Freitagsklub. Kontakt zu meinen Enkeln weiter ausbauen, ein paar Leute betreuen. Wohne ja neben dem Altenheim und bin dort bekannt. Und die Alten sind froh, wenn jemand mal nur zuhört und die Klappe hält. Die brauchen keine Bekenntnisse.

Ich denke, das meiste kann man alles wunderbar hinkriegen, ohne an Gott zu glauben.

Meine Güte, wie kann das sein, dass man sein Leben lang an einem Phantom festgehalten hat? An einem Wesen, das man gar nicht richtig beweisen kann? Ich habe tatsächlich mein Leben, meinen Beruf, auf etwas Nebulösem aufgebaut.

Nicht zu fassen!

Ein neues, gottloses Leben liegt vor mir. Die nächsten Jahre sind knisternd, abenteuerlich und offen. Der Tod ist für mich jetzt ein echter Schlusspunkt. Da kommt einfach nichts mehr. So schlimm finde ich das gar nicht. Keine Lebensbeurteilung, kein jüngstes Gericht, keine Gedanken darüber, dass man bestimmte Leute wiedertreffen könnte. Wohltuende Dunkelheit, vielleicht Nirwana, Auflösung, Ende.

Mein Leben war ja nicht schlecht gewesen, ich hatte meine Ideale, meine Moralvorstellungen, die mich gehalten haben. Habe sogar das Gefühl, ich könnte getrost irgendwann abtreten.

Endlich Freiheit von dem Joch, gut und harmlos sein zu müssen. Ich könnte plötzlich jemand sein, vor dem die Leute Angst haben. Na ja, nicht direkt Angst, aber ich könnte jetzt dummes Zeug machen, mit einer Spur Bosheit. Kleine böse Streiche. Zum Beispiel im Straßencafé sitzen und ab und zu Leuten (aus Versehen) ein Bein stellen. „Oh, das tut mir aber leid“, würde ich sagen. „Haben Sie sich verletzt?“

Endlich mal lügen wie gedruckt, mit unschuldigem Augenaufschlag. „Aber wenn ich’s dir doch sage: Ich habe gestern Frau Dinkelmann gesehen, wie sie im Supermarkt eine Parfumflasche mitgenommen hat, ohne zu bezahlen. Hätte ich nie von der gedacht, ehrlich! Und wusstet ihr, dass die Frau des Pfarrers aus der Nachbarschaft ein Kind großgezogen hat, das nicht von ihrem Mann stammt? Ja, ich weiß es von ihr selbst! Aber – das bleibt unter uns!“

Herrlich! Gerüchte wie kleine Feuer in die Welt setzen und sich bei dem Flächenbrand die Hände wärmen … obwohl, das würde ich vielleicht doch nicht bringen … Die Gewohnheit, nett zu sein, sitzt tief.

 

Aber dafür könnte ich schon nach dem Frühstück einen Whisky trinken und auf offener Straße Frauen anquatschen! Oder im Spielkasino tausend Euro verpulvern.

Nein, da wär mir das Geld zu schade.

Aber wenigstens im Prinzip ist jetzt alles erlaubt. Es gibt keine höhere Instanz mehr, die einem auf die Finger schaut.

Natürlich ist es irgendwie gemein, dass der kirchliche Steuerzahler meine Rente finanziert. Die Gläubigen unterstützen einen atheistischen Pfarrer! Auf der anderen Seite: Sollen sie doch! Ich hab mich mein Leben lang für den anonymen Kirchenchrist abgerackert. Dafür kann er auch mal ein paar Jahre meinen Atheismus finanzieren.

Bin gespannt, wie die nächsten Jahre verlaufen.

Und wenn es Gott trotz allem gibt? Wenn ich nach dem Tod immer noch existiere? Na und? Gott hat schließlich diese Menschheitssache ganz schön vermasselt. Das ist ihm ziemlich aus dem Ruder gelaufen. Und genau das würde ich ihm dann mal erzählen. Einfach den ganzen Gottesfrust auspacken und vor seinen Thron werfen … Gott, würde ich sagen, wie konntest du diese fruchtbaren Gräuel zulassen? Ja, ich weiß: Die Freiheit des Menschen bedeutet, dass er auch böse sein darf. Aber es gibt auch Grenzen. Du hättest zumindest die Auswüchse verhindern können. Warum machst du es uns so schwer, an dich zu glauben? Im Grunde bist du selbst schuld, dass die Leute sich von dir abwenden. Das und vieles andere würde ich ihm dann vor den Latz knallen.

Aber – das wird nicht passieren, weil es ihn gar nicht gibt. Er ist nur eine Projektion unserer Wünsche, weiter nichts. Der gute, alte Feuerbach! Wie recht er doch hatte!

Und wenn doch? Eines ist klar: So schnell käme ich nicht in die Hölle, hab mich ja für den himmlischen Verein lange genug eingesetzt. Das wären eine Menge Pluspunkte.

Und wenn ich genauer drüber nachdenke, dann ist mein Atheismus auch eine Entlastung für Gott.

Warum lässt Gott das Leiden Unschuldiger zu? Die Frage gibt es jetzt nicht mehr, weil es Gott gar nicht gibt. Manche super schwierigen Probleme erledigen sich von selbst.

Prost, mein lieber Sonnhüter, du hast Gott überflüssig gemacht.

2

„Die Kirschen, Luther!“

„Was für Kirschen?“

„Du hast mir’s in die Hand versprochen, ein paar Körb herabzupflücken!“

Katharina, Luthers Frau, stand unten vor dem offenen Fenster der Studierkammer und rief ihre Bitten zu ihrem Mann nach oben, der von dem Vorschlag nicht gerade begeistert war.

Er beugte sich aus dem Fenster: „Kann mir nit denken, dass ich mich derart hab breitschlagen lassen. Ist außerdem die Arbeit der Knecht und Mägd.“

„Aber die Knecht und Mägd sind nit da. Und wenn das Gwitter kömmt, sind meine Kirsch zerhagelt und zerquetscht. Denk an den schön Kirschwein, den ich dir zubereiten werd!“

„Bin itzo dabei, den Katechismus noch mal durchzukneten. Das ist wichtiger als alle Kirsch der Welt. Und: Wie soll ich alter und schwerer Mann die Leiter nauf? Wo ist der Bub?“

„Der ist mit dem Michel weg.“

„Ja, da soll doch der Donner …“

„Vergiss dich nit. Du hast’s mir in die Hand …“

Brummend trat Luther zur Seite, murmelte: „Ja, Herr Käthe“, legte die Feder auf einen Lederlappen und schimpfte: „Sonst ist das Haus voller Gäst, Studenten und Verwandtschaft, und heut ist alles leer wie ein Bauch, aus dem der letzte Furz entwichen ist. Man kömmt zu keiner Arbeit mehr!“

Immer noch missmutig ging er die Stufen hinunter, verließ das Haus, steckte den Saum seiner schwarzen Kutte in den Gürtel, so dass seine Knie frei wurden, und holte die alte Holzleiter. Katharina ging währenddessen mit großen, unweiblichen Schritten vor ihm her in den von ihr angelegten Obstgarten.

Vor den zwei Kirschbäumen blieb sie stehen. „Den Korb bindest an die Leiter, somit hast zween Händ frei.“

Luther fügte sich in sein Schicksal. Er wusste aus Erfahrung, dass es keinen Zweck hatte, sich in diesem Stadium zu verweigern.

Dass die Frauen so einen unbändigen Willen haben, dachte er. Beißen sich fest wie hungrige Hund, wenn sie einen mal gepackt haben. Dabei sollte das Weib doch eine Gehilfin des Mannes sein und nicht umgekehrt!

Er lehnte die Leiter gegen einen kräftigen Ast und rüttelte daran, um zu sehen, ob sie auch hielt. Dabei fiel ihm wieder das hebräische Wort in Genesis zwei ein, das er mit „Gehilfin“ übersetzt hatte: „Äsär“.

Seitdem er die Übersetzung der ganzen Heiligen Schrift abgeschlossen hatte, stiegen immer wieder Bibelworte an die Oberfläche, wie Fische, die nach Mücken schnappten. Man kam mit dieser Übersetzung nicht zur Ruhe. Auch nach zehn Jahren nicht! Luther fragte sich gelegentlich, ob er wirklich die richtigen Worte getroffen hatte. Gut, der hebräische Text redete in der Schöpfungsgeschichte zwar von einem Helfer oder einer Hilfe und von einem Gegenüber, das Gott für den Adam schaffen wollte, aber Luther fand es unpassend, den Frauen das Wort „Hilfe“ zu geben, so ein großes Wort, das man sonst für Gott in den Psalmen verwandte: „Gott, mein Helfer, rette mich!“ Nein, das musste man anders übersetzen. Außerdem hatte es eine maskuline Endung. Wahrscheinlich ein Fehler beim Abschreiben. Der hebräische Text übertrieb hier maßlos. Man durfte nicht einfach stumpfsinnig Wort für Wort übersetzen, sondern musste auch die Umstände berücksichtigen. Darum hatte er in Genesis statt: eine Hilfe, ihm gegenüber, lieber eine Gehilfin, die um ihn sei, übersetzt. Das war zeitgemäßer. Aber seine Käthe entwickelte sich eher zu einem Gegenüber als zu einer Gehilfin.

„Was grübelst du denn?“, rief Katharina von Weitem. „Die Leiter angelehnt und nauf!“

Luther seufzte und spürte wieder die Müdigkeit, die in der Bibliothek aufgekommen war. Sie lag bleiern und schwer in seinen Gliedern. Aber trotzdem nahm er einen der Körbe und kletterte langsam nach oben. Es war grotesk. Er, Doktor Martinus Luther, der Mann, der die Kirche in den Grundfesten erschüttert hatte, zu dem Gelehrte von weit her kamen, musste sich der Bitte einer entlaufenen Nonne fügen und Kirschen pflücken! Aber andererseits gab es das Vergnügen, das Bett mit diesem Weib zu teilen. Und bei ihren Bitten, das musste man ihr lassen, kam am Ende immer etwas Nützliches heraus, auch für ihn.

Aber es war mühselig, das Kirschenpflücken. Seit den letzten Jahren, seit er die sechzig überschritten hatte, machte ihn sein Bauch behäbiger und schwerfälliger. Und die Gelenke plagten ihn auch. Doch es half nichts. Käthe hatte beschlossen, vor dem Gewitter heute Kirschen zu ernten, und so stieg Luther Sprosse um Sprosse höher. Oben angekommen, band er, wie es seine praktisch denkende Frau gesagt hatte, den Korb mit einem Seil an der obersten Sprosse fest.

Der Himmel bezog sich immer rascher mit Wolken, und ein kühler Wind kam auf. Aber jetzt wollte der Doktor nicht schon wieder nach unten steigen, die Zweige hingen voller Kirschen, man brauchte nur zuzupacken. Und so pflückte Luther eine Hand voll ab und probierte sie: süß und fest. Ja, das würde einen guten Kirschwein geben. Zweig um Zweig pflückte er leer und dachte darüber nach, wie er das Wort, das er in der Paradiesgeschichte bisher mit „Rippe“ übersetzt hatte, hätte anders ausdrücken können. Vielleicht wäre „Seite“ doch besser gewesen. Rippe aber klang greifbarer, biegsamer und war auch halb rund wie die Hüften einer Frau. Gott schuf die Frau aus der Rippe ihres Mannes. Oder doch besser aus der Seite? Seltsam! Dann bestand ja Adam aus Staub und Chawa, oder Eva, aus Menschenfleisch. Was hatte sich Gott eigentlich dabei gedacht? Oder ging es am Ende gar nicht um die Erschaffung, sondern nur darum, was die zwei in ihrem Wesen nach waren? Ging es hier um grundsätzliche Aussagen zwischen Mann und Weib? Nein, nein, das klang zu philosophisch. Das würde eine Tiefe in die Worte legen, die so gar nicht gemeint war. Oder doch?

„Es ist ein Jammer, dass man mit Übersetzungen nie zu einem End kömmt, selbst wenn die Bibel schon lang fertig g’stellet ist!“

Luther blickte nach oben. Das Licht wurde blasser, der Wind kräftiger, und der theologische Kirschpflücker verstand jetzt, warum seine Frau ihn so gedrängt hatte.

Vorsichtig band er den vollen Korb los, kletterte damit hinunter, leerte die Kirschen in den anderen Korb, lehnte die Leiter an einer anderen Stelle an und stieg wieder nach oben.

Mitten in der Bewegung hielt er inne. War da nicht eben ein Wassertropfen gewesen? Tatsächlich! Und jetzt jagte ein Blitz über den Himmel. So einen großen hatte er noch nie gesehen, und gleich danach rumpelte und donnerte es gewaltig.

„Ich muss nunter!“, murmelte er. Aber es war zu spät. Ein neuer Blitz hatte sich ausgerechnet den Kirschbaum ausgesucht, schlug ein und streifte Luthers Kopf. Und er meinte, bevor er wegdämmerte, dass er ganz langsam fiel. Dann wurde alles schwarz.

Er wusste später nicht mehr, ob er kurz oder lang in dieser Nacht gelegen hatte. Aber er spürte jetzt seinen Körper, zwang sich, die Augen aufzumachen, und merkte, dass es Nacht war.

3

„Ein seltsam Ding, dass mich mein Käthe hier hat liegen lassen wie ein Haufen Abfall. Das sieht ihr so gar nit ähnlich, dass sie ihren Brummbär hat vergessen.“

Mühsam kam er wieder auf die Beine, sah die Umrisse eines Hauses, ein paar Bäume und erleuchtete Fenster. Es kam ihm vor, als ob drinnen Hunderte von Öllampen stünden. So hell war es. Und weiter hinten rauschte es, als ob ein Fluss vorbeiströmte. Nur passte es nicht recht zusammen, denn von dem Strom ging Licht aus. „Ob gar die Stern vom Himmel gfalln sein?“, überlegte der Doktor, „und die Welt an ihr End kommen ist?“

Seine Kutte steckte immer noch im Gürtel. Er zog die Enden heraus, ging langsam auf die hellen Fenster zu und wunderte sich, dass das Gebäude gar nicht wie das ehemalige Augustinerkloster aussah. Viel kleiner. Und es standen noch mehr Häuser daneben. Das sah er jetzt erst, denn in den anderen brannte kein Licht.

Er hörte eine Glocke und lauschte: elf Schläge. Also war es elf Uhr in der Nacht. So lange hatte er unter dem Kirschbaum gelegen?

Inzwischen hatte er das Haus erreicht und näherte sich dem Fenster.

Es sah aus wie eine Tür aus Glas, und es war so klar, dass er jede Einzelheit dahinter sehen konnte. Er wusste bisher nicht, dass man Glas in so großen Flächen herstellen konnte. Seine eigenen Fenster bestanden aus tellergroßen, aneinandergereihten Scheiben.

Drinnen entdeckte er ein langes Polster, Bilder an den Wänden und viele Bücher in Regalen. Das musste ein reicher Mann sein, dem das Haus gehörte. Ein Bild bestand nur aus Farbklecksen, und auf den dicken Kissen lag ein Mann in weiten Beinlingen und einem dicken, roten Hemd. Er blickte auf eine bunte Scheibe, auf der sich etwas bewegte. Neben ihm, auf dem kleinen Tisch, stand ein Glas mit einer gelben Flüssigkeit, die wie Bier aussah, nur viel klarer.

Luther schaute genauer auf die bunte Scheibe und sah kleine Männer in abgeschnittenen Hosen über eine Wiese laufen. Ab und zu flog ein Ball durch die Luft.

„Ein magisch Ding, ein Zauberspiegel“, flüsterte Luther. „Wo bin ich nur hinkommen?“ Ein dumpfes Gefühl breitete sich in seinem Magen aus.

Der Mann auf dem Polster war zweifellos ein Mensch, aber seltsam gekleidet. Die Einrichtung: grell.

Leise zog sich Luther von der Terrasse zurück und ging um das Haus herum. Er sagte sich, dass er erst genauer sehen wollte, wo er eigentlich war, um mit diesen bunten Menschen zu reden.

Unter einem Dach ohne Wände stand ein glänzendes Etwas auf vier Rädern, wie eine zusammengepresste Kutsche. Denn im Inneren, so viel konnte Luther gerade noch erkennen, waren Sitze angebracht. Aber es gab keine Riemen oder Stricke, mit denen man die kleine Kutsche an Pferde anbinden konnte.

Und ein Stall war auch nicht in der Nähe. Es roch auch nicht nach Pferden. In dieser niedrigen Kutsche war das Glas so klar, dass man es fast übersah.

Das Rauschen jenseits des Hauses war jetzt stärker geworden, und als Luther sich von dem Gebäude entfernte und dem Geräusch nachging, kam er zu einer Brücke, die sich über eine breite Straße schwang.

 

Er traute seinen Augen nicht, denn dort, auf der Straße, die in der Mitte gestrichelt war, huschten diese kleinen Kutschen vorbei in einer atemberaubenden Geschwindigkeit. Vorne kam ein gelbes Licht heraus und hinten ein rotes.

Aber das Erstaunliche bestand darin, dass die Kutschen ohne Pferde fuhren. Ohnehin hätte kein Pferd je solche Schnelligkeit erreicht.

Luther atmete schwer, und ihm fiel ein, was er einmal bei Kopernikus gelesen hatte. Der hatte behauptet, die Welt sei eine Kugel und würde sich um die Sonne drehen. Sie sei aber so groß und hätte so eine große Anziehungskraft, dass die Menschen dachten, sie befänden sich auf einer Scheibe. Und es sollte viele solcher Kugeln geben, die frei durch den Raum schwebten.

Wenn er, Luther, nun auf so einer anderen Kugel gelandet war? Wenn die Kraft dieses Blitzes ihn durch den Himmel geschleudert hatte? Oder waren diese bunten Menschen womöglich Engel? Befand er sich im Himmel?

Nein, das konnte nicht sein. Sagte nicht die Heilige Schrift, dass es dort niemals Nacht würde?

Wie komme ich nur wieder zu meiner Käthe zurück? Ihm tat es nachträglich leid, dass er so unwillig gewesen war mit dem Kirschenpflücken.

Jetzt war er einmal um das Haus herumgekommen. Es hatte zumindest ein schräges Dach, so wie die Häuser in Wittenberg.

„Luther“, sagte er zu sich, „du musst jetzt hell denken, sonst wird dir noch dein Arsch g’stohlen, und dann sieht’s bös aus.“

Er fühlte mit einem Mal wieder diese große Müdigkeit und erinnerte sich an die Sitze in der Kutsche ohne Pferde. Wenn er sich dort ein wenig ausruhen könnte, bis es Morgen wurde …

Er ging wieder zu dem Schuppen ohne Wände und probierte an der Kutsche, ob er eine Tür aufbekam, aber die Türgriffe konnte man nicht nach unten drücken. Endlich bewegte sich der eine Griff zu ihm hin, und die Tür ging tatsächlich auf. Es roch nach etwas, das er noch nie gerochen hatte, aber das war ihm jetzt gleichgültig. Er streckte sich auf der Rückbank aus, machte leise die Tür zu und schlief ein.

Die Morgensonne, die schräg in die gepresste Kutsche schien, weckte ihn auf. Ein paar Augenblicke brauchte er, bis er sich wieder zurechtfand und sich daran erinnerte, dass er bei dem Gewitter in eine Art Zauberland versetzt worden war und sich hier zum Schlafen gelegt hatte.

Gedämpft durch die Scheiben hörte er das frühe Gezwitscher der Vögel.

Nun, immerhin etwas, das er kannte.

Er richtete sich gähnend auf und schaute sich um. Durch die Glasscheiben sah er die Hauswand und, weiter vorne, einen Teil des Gartens.

Es dauerte eine Weile, bis er herausgefunden hatte, wie die Tür aufging.

Dann stand er draußen und ging auf die Wiese.

Das Grundstück war von Gebüschen und einem weißen Zaun umgeben, und es gab daneben noch ein Haus. Alles war sehr sauber und ordentlich gebaut.

„Was soll ich tun?“, überlegte Luther. „Am besten, ich klopf an und frag die Leut.“

Er klopfte. Nichts rührte sich.

Gab es vielleicht einen Klingelzug, an dem man ziehen konnte? Nein, den gab es nicht, aber er fand einen Knopf. Darüber stand: Familie Brückner. Als er daraufdrückte, hallte eine Klingel durch das Haus. Beeindruckend. Er klingelte noch einmal, und diesmal etwas länger.

Da hörte er Schritte. Jemand in einer weißen Kutte kam die Treppe herunter. Das konnte er alles durch dieses wunderbare Glas sehen.

Es war eine Frau. Sie hatte die Haare nachlässig nach oben gesteckt, und man konnte ihre nackten Waden sehen. Außerdem war sie sehr groß. Vor der Tür blieb sie stehen und starrte Luther stirnrunzelnd an, was ihr gar nicht stand.

Sie machte die Tür einen kleinen Spalt auf. Luther hörte eine Kette klirren.

„Was wollen Sie denn so früh?“, krächzte sie. „Es ist halb sechs! Und wer sind Sie überhaupt?“

Es kam Luther seltsam vor, dass er wie eine Frau angeredet wurde. Eine seltsame Grammatik. Und müsste es nicht heißen: Was will sie überhaupt? Aber immerhin sprach die Frau eine Art Deutsch. Luther neigte den Kopf und sagte: „Gott zum Gruß. Ich bitt um Verzeihung. Hab wohl früh geklopfet, aber kannst du mir sagen, wo ich mich befind? Martinus Luther werd ich genannt, Doktor der Theologie aus Wittenberg, wohn im schwarzen Kloster.“

Die Frau schloss die Augen, und Luther hörte, wie sie etwas murmelte, das sich wie „als Eimer“ und „Residenz“ anhörte, dann sagte sie laut und langsam: „Aha! Sie sind also der Luther und haben die Bibel übersetzt, was? Die Kutte steht Ihnen immerhin.“

Luther blickte die Frau erstaunt an. Woher wusste sie das mit der Bibelübersetzung? Und er sagte erstaunt: „Ganz recht. Bin grad dabei, die Genesis nochmal durchzupflügen und …“

„Ja, das hab ich mir schon gedacht, dass Sie so was machen, bei dem Namen.“ Sie gähnte. „Dann gehen Sie mal ein paar Häuser weiter, da ist ein großes Haus. Da gibt es extra ein Zimmer für Sie. Vielleicht treffen Sie auf … wie heißen diese Burschen? Calvin und Zwingli.“

Luther musste sie wohl völlig entgeistert angestarrt haben, denn sie entschloss sich jetzt, die Tür ganz aufzumachen. Offensichtlich dachte sie, der Mann sei harmlos.

Sie schlüpfte in ein paar Schuhe, zog die weiße Kutte fester um die Schultern, kam vor die Tür und sagte: „Kommen Sie mal mit. Ich bringe Sie hin.“

Luther war erstaunt, dass Zwingli und Calvin hier gleich in der Nachbarschaft wohnen sollten. Eigenartig. Aber egal. Das war ihm gerade recht. Mit dem Zwingli hatte er noch ein Hühnchen zu rupfen, was das Abendmahl betraf. Diese würdelose Vorstellung, als ob es sich nur um ein bloßes Symbol handelte!

Die Frau wusste wohl über dieses Zauberland Bescheid. Wenn sie sogar Zwingli und Calvin kannte …? Vielleicht hatte der Kurfürst Friedrich ein Treffen anberaumt? Aber was hatte diese Frau damit zu tun? War sie vielleicht eine Gräfin, die sich der Reformation angenommen hatte?

Und nun legte sie auch noch ihren Arm um Luthers Schultern, als sei er ein Kind, das sich verlaufen hatte. Das ging nun doch zu weit. Gerade wollte sich Luther dagegen wehren, da sagte sie: „So, da wären wir.“ Sie deutete auf ein großes, schönes Gebäude, vor dem mindestens zehn dieser kleinen Kutschen parkten.

Der Eingangsbereich war ganz aus Glas, sicher die Residenz eines Fürsten. Luther war beeindruckt.

Die Frau drückte auf einen Knopf, eine Dienstmagd erschien in einem hellblauen Kleid, das sogar die Knie freiließ. Luther trat erschrocken einen Schritt zurück, als die Tür von selbst aufging. Hier wurde anscheinend alles durch Frauen und magische Kräfte geregelt.

„Guten Morgen“, sagte Luthers Begleiterin. „Ich habe Ihnen den Luther vorbeigebracht und ihm versprochen, dass er Zwingli und Calvin treffen kann.“ Sie zwinkerte mit einem Auge.

Die andere Frau nickte und lachte sogar.

„Das wird wohl ein Neuzugang sein. Den hab ich noch gar nicht auf dem Schirm. Na, komm mal mit, Lutherchen. Hast dich wohl verlaufen? Vielen Dank!“

Die andere Frau nickte und beeilte sich, wieder in ihren Palast zu kommen.

Wie durch Geisterhand zischte die Tür zurück, und Luther betrat nun den Palast eines unbekannten Fürsten. Vielleicht Graf von Allzeimer?

„Dann setz dich mal so lange hin“, sagte die Magd. „Hast du Durst? Willst du etwas trinken? Trinken kann nie schaden, weißt du.“

Sie zeigte ihm einen Sessel mit Lehne, in dem er Platz nahm, dann holte sie eine kostbare Flasche, ganz aus Glas, und füllte sie mit einer Flüssigkeit. Luther probierte vorsichtig. Es schmeckte wie Wasser, aber es perlte wie Apfelwein. Jetzt erst merkte er, wie durstig er war, und bat gleich um ein zweites Glas. Staunend sah er, wie die Magd nach einem Stein griff und hineinsprach. Wieder so ein magisches Ding, als ob man mit einem Rohr sprechen könnte!

Luther stellte das Glas ab und merkte, wie seine Augen schwer wurden und zufielen. Der Sessel war so herrlich weich.

Er musste wohl kurz eingenickt sein, denn neben ihm saß plötzlich ein älterer Mann und streichelte seine Hand.

„Guten Morgen“, nickte er. Die Magd kam herüber und sagte laut und langsam zu Luther: „Das ist Pfarrer Andreas Sonnhüter. Er wird sich ein wenig um dich kümmern. Im Augenblick weiß ich nicht, wo wir dich hinstecken können …“

„Frau Degenhard“, sagte der Pfarrer. „Haben Sie ein Zimmer, wo ich mich mit dem Herrn in Ruhe unterhalten kann? Bevor ich die Polizei verständige, möchte ich gerne versuchen, mehr aus ihm herauszubringen.“

Frau Degenhard schien erleichtert zu sein und führte Luther und Pfarrer Sonnhüter in ein leeres Zimmer.

Es war spartanisch eingerichtet: Ein hohes Bett, ein Schrank, ein Tisch und zwei Stühle. Ein zusammengeklappter Rollstuhl stand in der Ecke. An der Wand: ein heller Fleck, wo einmal ein Bild gehangen hatte.

Als die beiden saßen, fragte Andreas Sonnhüter: „Man sagte mir, dass Sie … sich Martin Luther nennen?“

„Ich bin nit sie, sondern er oder du“, stellte Luther klar.

„Gut, also du. Ich bin der Andreas.“ Er gab Luther die Hand, die dieser zögernd ergriff.

„Dein Name ist also Martin Luther.“

„Ja. Doktor Martinus Luther.“

„Hm“, machte der Pfarrer und strich sich über das Kinn. Er dachte nach. Plötzlich hob er den Kopf und sagte: „Quid custodiens placebo Deo?“1

Luther schaute ihn verwundert an, aber antwortete sofort: „Non confidas in tua iustitia, sed in iustitia Dei.“2

Sonnhüter war beeindruckt, überlegte kurz und fuhr auf Hebräisch fort: „Bereschit bará Älohim …“3

Und Luther ergänzte: „Ha schamajim we ha ärätz.“4

„Mein lieber Luther“, sagte Andreas Sonnhüter. „Entweder hast du dich auf deine Rolle sehr gut vorbereitet, oder du bist wirklich Luther. Und nun erzähle mal, wie du hierhergekommen bist.“

Luther holte tief Luft und erzählte alles, so gut er es vermochte. Der Pfarrer stellte Fragen, wenn er nicht alles verstand oder das alte Deutsch ihm unverständlich erschien, und hörte aufmerksam zu.

Als Luther schwieg, schaute er ihn lange an und sagte: „Das ist das Merkwürdigste, was ich jemals in meinem Leben erfahren habe, aber was du sagst, hört sich … irgendwie stimmig an. Soll ich dir nun sagen, wo du bist?“

Luther nickte und hatte Tränen in den Augen.

„Also, aus irgendeinem Grund“, sagte Sonnhüter und betonte jedes Wort, „aus einem Grund, den ich nicht kenne, bist du nicht im Himmel oder in einem fremden Land, sondern bist in die Zukunft versetzt worden.

Du befindest dich nicht mehr in deinem Jahrhundert, sondern über fünfhundert Jahre später im Jahr des Herrn 2017.“

Luther starrte den anderen an und war zunächst sprachlos. Er erhob sich, ging erregt auf und ab, murmelte etwas und setzte sich wieder. Sein Gesicht hatte eine blasse Färbung angenommen.

„Über fünf … hundert Jahr später?“, stammelte Luther. „Die … die Welt ist nicht an ihr End kommen?“

„Nein, sie ist immer noch da.“