Schattenblüten

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Schattenblüten
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Foto Ayşe Yavaş

Alberto Nessi, geboren 1940 in Mendrisio, studierte an der Universität Freiburg Literaturwissenschaft und Philosophie. Er ist verheiratet und hat zwei Töchter. Er unterrichtete italienische Literatur in Mendrisio, schrieb für Zeitungen und verfasste Hörspiele. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Schweizer Grand Prix Literatur für sein Lebenswerk. Alberto Nessi lebt in Bruzella. Im Limmat Verlag sind von ihm lieferbar: «Nächste Woche, vielleicht», «Terra matta», «Schattenblüten», «Die Wohnwagenfrau», «Mit zärtlichem Wahnsinn / Con tenera follia» und «Abendzug».

Die Übersetzerin

Maja Pflug, geboren in Bad Kissingen, Übersetzerausbildung in München, Florenz und London, übersetzt seit über dreißig Jahren italienische Literatur ins Deutsche, u. a. P. P. Pasolini, Cesare Pavese, Natalia Ginzburg. Sie lebt in München und Rom und wurde mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Deutsch-Italienischen Übersetzerpreis für ihr Lebenswerk. Im Limmat Verlag sind von ihr Übersetzungen von Anna Felder, Alberto Nessi, Giovanni Orelli und Anna Ruchat lieferbar.

Alberto Nessi

Schattenblüten

Erzählungen

Aus dem Italienischen von Maja Pflug

Limmat Verlag

Zürich

Sich wiedersehen

«Wenn ich mich im Spiegel betrachte, sage ich mir: ‹Es ist aus, Nick.› Oben alles dritte», gesteht er und berührt seine Zähne.

Wir gehen über den Kies des Friedhofs, und ich wüsste gern die Geschichten aller Toten. Ein Raunen dringt aus den Grabkammern herauf.

«Der Gedanke, nicht dazusein, hat auch seinen Reiz», erklärt er.

Tja. Wer weiss, was sie über uns sagen werden, denke ich, während ich die steinernen Engel am Wegrand betrachte. «Ich kannte ihn vom Sehen», werden sie sagen. Oder: «Ich traf ihn immer Sonntag früh, wenn ich die Zeitung holen ging.»

«Glaubst du an Gott?», fragt er mich unvermittelt, während unsere Schritte das Raunen im Hintergrund übertönen.

«Wirklich an Gott … Jetzt stellst du mir eine zu schwierige Frage. Früher mochtest du Nick La Rocca. Trugst eine Schleuder aus Kornellkirschenholz in der Tasche. Da hast du mir nicht solche Fragen gestellt.»

«Ja, aber bleibt was von uns, danach?»

«Ich weiss es nicht. Meine Mutter sagte immer: ‹Man macht so lange weiter, bis man unter die Erde kommt.› Wichtig ist das Weitermachen.»

Wir sind etwas zu früh da, und so sehen wir uns noch das Blätterballett auf dem Platz mit den Karussells vor dem Friedhof an. Der Oktobersturm rüttelt an den Holzpferden. Erinnerungen tauchen auf.

«Als Junge putzte ich oft die Fahrbahn des Autoscooters, dafür bekam ich dann einen Jeton», sagt er.

Wir haben uns aus den Augen verloren, Nick und ich. In unserer Jugend strolchten wir immer durch die Bars und suchten irgendwas. Bis eines Tages Remo mit dem Kolpak aus Mailand kam: Er hatte es geschafft wegzugehen, in einem Untermietzimmer in Brera zu leben, zu malen wie Van Gogh und stolz die exotische Kopfbedeckung zu tragen. Wir … wir hatten die Instrumente unserer Kunst in einem Felsenkeller verstaut, in dem vorher Formaggini gelagert wurden, aber keiner von uns konnte spielen: nur Elia, der, der den Mädchen gefiel, stümperte ein bisschen auf Trommel und Becken des Schlagzeugs herum. Ich besass eine Posaune vom Anfang des Jahrhunderts, die ich unter dem Schutt auf dem Speicher ausgegraben und repariert hatte, indem ich eine Taste, die nicht mehr auf Fingerdruck reagierte, mit einem Gummiband befestigte, und Nick blies auf einem mit Seidenpapier bedeckten Kamm, einem Instrument aus den Anfängen der Jazz-Ära, das vermutlich auch Nick La Rocca auf den Dampfern in New Orleans gespielt hatte.

Jetzt treffen wir uns nur noch bei Beerdigungen. Und da kommt uns die Lust an, über letzte Dinge zu sprechen.

«Hast du schon jemanden sterben sehen?»

Es gelingt uns einfach nicht, uns auf das Leben zu konzentrieren, das muss das Alter sein. Nick hat noch nie im Leben etwas zustande gebracht. Das einzige: die dritten Zähne oben. Er ist ein Alternativer, aber nur potenziell. Ein schüchterner Alternativer, der sich nicht verwirklichen konnte. Einer, der die Reisen der anderen liebt. Er liebt es, Reiseerzählungen zu lauschen. Am Sonntagmorgen geht er mit einem Päckchen Marlboro in eine Bar und setzt sich vor den Fernseher. Er weiss nicht, was er tun soll. Ein Pessimist. Er sagt, wir leben in einer bürgerlichen Militärdiktatur.

Es kommen weitere Freunde, die ich lange nicht gesehen habe.

«Der Mauro ist angezogen wie Gianni Agnelli», sagt Nick. «Schau, eine Goldkette hängt ihm aus der Tasche.»

Alle erinnern sich noch, wie Mauro in den Nightclub ging und unter den Tisch pinkelte. Jetzt ist er Bankdirektor.

Der Tita kommt, Gepäckträger mit Zigarette im Mund, einer aus der proletarischen Schicht, die sich vor dem Krieg entlang der Grenze angesiedelt hat. Wenn du ihm ein Glas Weissen spendierst, erzählt Tita dir, dass er das Laster des Rauchens als Kleinkind angenommen hat: In San Fermo geboren, trug ihn sein Vater in eine Jacke gewickelt heim, und ihm wurde schwummerig – so sagt er, schwummerig –, dann hat er sich mit einer Prise Tabak erholt und ist für immer klein geblieben.

Aber die Lella erkenne ich fast nicht wieder. Lella, die ich eines Dezemberabends nach einem Lauf durch den Schnee geliebt hatte. Geliebt ist nicht ganz der richtige Ausdruck: gegen das Mäuerchen bei der Schule gedrückt.

Wir küssen uns auf die Wangen. Dann reden wir über die Tote, die zu begleiten wir hergekommen sind. Sie lachte immer, die Tote, als wir auf dem Lehrerseminar waren. Einmal war ich mit ihr zusammen Vespa gefahren, und wir hatten ein Päckchen Parisiennes super in einer Bar geklaut. Das ist meine Erinnerung an sie.

Nach der Beerdigung sehe ich Lella wieder. Sie ist aufgedunsen. Alkohol? Medikamente?

«Dein Blick ist nicht mehr wie früher», sagt sie. «Ich habe noch das Foto von damals, als du im Mittelfeld links gespielt hast und dir der Haarschopf in die Augen hing. Ein quer gestreiftes Trikot hattest du an.»

Wir bestellen ein Bier. Was werden sie über uns sagen? «Der mit dem quer gestreiften Trikot», werden sie sagen, «Das Mädchen mit dem Mondgesicht.»

«Wenn ich ins Lehrerzimmer komme und die Gesichter der Kollegen sehe, geht es mir schlecht», sage ich. «Und was machst du? Was ist aus dir geworden?»

Sie fängt zu lachen an und hakt sich bei mir ein. Wir nehmen die Strasse bergauf, wo ich sie an jenem Abend in den Schnee gedrückt hatte. Sie unterrichtete in der Grundschule der kleinen Stadt und liebte, ausser mir, den Astronauten Yuri Gagarin. Eines Tages hängte sie im Klassenzimmer ein Poster von ihm auf, und der Schulinspektor stellte sie in einer Sitzung öffentlich bloss. Sie wollten sie erledigen, sie, Gagarin und ihre kleine Hündin. Wir lachen.

«Da, jetzt hast du wieder diesen Blick», sagt sie.

«Die Schule hat mich schwermütig gemacht. Achte nicht darauf.»

Was werden meine Schüler über mich sagen? «Er fuhr mit dem Fahrrad in die Schule», werden sie sagen, «dann hat er sich eine gebrauchte Vespa angeschafft.» Der eine oder andere besitzt vielleicht noch, in einem im Keller aufbewahrten karierten Heft, das Klassenfoto, das der hinkende Fotograf bei Jahresbeginn auf dem Platz vor der Schule von uns geknipst hatte. Damals fuhr ich mit der Vespa zur Schule. Gemma hatte in einem Aufsatz geschrieben: «Wenn ich gross bin, will ich den Lehrer heiraten.» Und im Oktober hatte sie mir ein Kistchen Trauben in die Schule mitgebracht, als Vorschuss auf die Mitgift.

«Ich stehe auf der Seite der Minderheiten», sagt Lella. «Basken, Irländer, Flüchtlinge.»

«Früher hast du davon geträumt, Juliette Gréco zu sein.»

Ich sehe sie noch auf den Strassen der Peripherie von Locarno, wir waren poetische Rebellen. Wir dachten, ein Klempner könne auch Dichter sein. «Je est un autre», sagten wir. Also war ich Zigeuner, voyou, Dichter; ich lief von zu Hause fort und hatte heimliche Liebschaften. Sie war Schauspielerin, Geliebte, Kommunistin …

«Die Ungerechtigkeiten nehmen kein Ende», sagt sie.

«Das weiss man. Du hast ganz Recht, Kommunistin zu sein. Aber die Leute sterben trotzdem», philosophiere ich.

Sie sieht mich an und sucht meinen Blick.

«Das ist kein Grund, alles aufzugeben. Du hast verraten, hast auch aufgegeben.»

«Ich? Ich bin schwermütig geworden.»

Wir bestellen noch ein Bier, und plötzlich kommt mir jener Nachmittag in der Osteria wieder in den Sinn. Die Tapete fällt mir wieder ein und Lella, die am Tisch sitzt, mit den an Haken hängenden Zeitungen in einer Ecke. Sie hatte ihr Tagebuch herausgezogen an jenem Nachmittag und die Seite vorgelesen, auf der stand: «Ich habe Angst, dass sich niemand an mich erinnert, an die Sätze, die ich gesagt habe.» Es herrschte ein besonderes Licht – unmöglich, dass es keine Spuren hinterlassen hat, jenes Licht, ein biss­chen wie damals, als ich sie in den Schnee mitgenommen hatte. An jenem Nachmittag fühlte ich, dass etwas geschehen konnte. So werde ich mich an sie erinnern: mit dem Gesicht vor den blauen Blumen der Tapete. «Das Mädchen mit den blauen Blumen.» Und während die Frau am Tresen uns beobachtete, kam mit dem Licht das Versprechen auf Glück herein. Vielleicht besteht der Trick zu leben darin, in den Augen das Licht eines Tages zu bewahren, an dem man gespürt hat, dass man glücklich sein konnte. Aber wie aufgedunsen sie jetzt ist. Und wie wird sie mich in Erinnerung behalten? In meinem quer gestreiften Fussballtrikot?

 

«Ich habe gelernt, nur die zu lieben, die mir nahe stehen», sage ich. «Dieses Licht, das am Himmel verlöscht und nicht wiederkehrt. Du bist noch in der Ideo­logie befangen.»

«Du bist zur anderen Seite übergelaufen», sagt sie.

«Was heisst das? Zur anderen Seite übergelaufen sind die, die so tun, als gebe es keinen Schmerz.»

Ich sehe sie wieder in der Osteria im Licht, das durch die Vorhänge hereinfällt. Warum hat sie zu trinken angefangen? Warum hat sie versucht, sich umzubringen? Da sind wir und zertrampeln die Oktoberblätter vor den erstarrten Pferden.

«Man verbringt das Leben damit, Dinge tun zu wollen», sagt sie, ihrer alten Begeisterung nachhängend.

«Ich bin zum Beobachter geworden», sage ich. «Anstatt Dinge zu tun, betrachte ich sie.»

«Ich hab es ja gesagt, du bist zur anderen Seite übergelaufen.»

«Anstatt etwas zu tun, sage ich es mir innerlich vor. Ich spreche mehr zu mir selbst als zu den anderen. Manchmal kommen die anderen mir vor wie verblasste Schilder. Damit sie wieder lebendig werden, muss ich mir innerlich von ihnen erzählen. Denkst du nie an die Gefährten von damals?»

«Sie verändern sich. Ab und zu kommt ein Maler vorbei und überstreicht das alte Schild mit Barytweiss. Aber erzähl mir von denen, die in dir leben.»

«Die, die unter den grossen Zweigen der Zeder vor der Grundschule vorbeigingen. Weisst du noch? Da muss auch Yuri Gagarin in seiner Kapsel vorbeigekommen sein, als du noch unterrichtet hast.»

Ab und zu fallen sie mir wieder ein, die Schulkameraden. Das Leben hat sie entstellt. Rico zum Beispiel kommt mir in den Sinn: in der Turnhalle machte er im Schwung Handstand auf dem Barren und sah uns lächelnd an, dann rieb er sich die Handflächen mit Magnesium ein und setzte zur doppelten Riesenfelge am Reck an mit diesen langen weissen Hosen, die nur die «Aktiven» trugen.

«Du bist alt geworden, wie Nick. Du lebst von Erinnerungen.»

«Ich versuche zuzuhören, von den anderen zu lernen. Ich erzähle dir etwas. Kürzlich sass im Bus nach Como ein alter Mann mit gefärbten Haaren, der Selbstgespräche führte. Er murrte über das Personal, das seine Pflicht nicht ordentlich tut. Du weisst schon, diese übergeschnappten Einzelgänger, die im Alter vor sich hin schimpfen. An einem bestimmten Punkt ist der Fahrer – wer weiss, wie oft er ihn schon gesehen hat – sauer geworden und hat gedroht, ihn aus dem Bus zu werfen. Wirklich unverhältnismässig. Da hat der Alte ihm tief in die Augen geschaut und gesagt: «Danke Gott, dass ich ein Boxer in Pension bin. Ich kann dich nicht anrühren.»

Der Oktober treibt weiter Blätter auf dem Platz zusammen, Lella lacht. Alle anderen sind gegangen.

«Man muss aufhören zu beobachten, etwas nur tun zu wollen. Man muss es tun», sagt sie.

«Da gab es nichts zu tun. Es war ein einsamer alter Mann, der sich tröstete. Aber man kann etwas daraus lernen: ‹Danke Gott, dass ich dich nicht anrühren kann …›»

Ich betrachte die aufgedunsene Lella. Sie redet wie in alten Zeiten. Aber sie sammelt jetzt Nippes, nicht mehr die Fotos von Gagarin. Ein besiegter Boxer auch sie, genau wie ich und wie Nick, vom Herbstwind geschüttelt.

Die Stunde der Füchse

für Antonia

Auf dem Weg kommen mir alle diese Füchse entgegen, wenn ich meine Schicht in der Raststätte beende und allein nach Hause gehe. Es ist schon Nacht, eine kranke Helligkeit steigt von der Autobahn herauf, und von der Wiese hier in der Nähe tönt der Klang einer Glocke herüber: eine Ziege, eine verirrte Kuh, ein Engel, der sich im Septembernebel verlaufen hat, wer weiss. Dann tauchen auf der Schwelle zur Nacht die Füchse auf.

Begonnen habe ich meinen Dienst an einem schönen, azurblauen Nachmittag, einem Nachmittag mit dem Kastanienbaum vor dem Himmel, würde der Dichter sagen, den ich im Juni an der Matura behandelt habe: während die stachelige Schale auf die Wiese fiel und eine lachende Kastanie heraussprang, stand ich dort hinter der Theke. Wie ein Nachtfalter, ging es mir vor einigen Tagen durch den Kopf, ein Nachtfalter, der sinnlos um die Lampe flattert. So bewege ich mich hinter der Theke der Autobar und serviere Café crème und Cappuccini.

Der König der Autobahn ist der Café crème, hat Angelo gesagt. Und die Deutschen mögen Cappuccino so gern. Diese Deutschen mit dem Kassenbon in der Hand, die «Hallo» sagen oder mit der Faust auf den Tresen schlagen. Manchmal, wenn ganze Reisebusse kommen und man nicht mehr weiss, wo man anfangen soll, muss ich lachen.

Ich lache, um nicht zu weinen. Zum Glück ist Angelo da, der mir hilft. Er ist ein Proletarier und durchschaut die Lage immer sofort, er macht mir ein warmes Brötchen mit Nutella, und kürzlich, als wir am Abend von der Raststätte weggingen, hat er mir eine Traube gepflückt und mit den Worten überreicht, dass man von denen nehmen müsse, die haben, um denen zu geben, die nichts haben, er muss das Evangelium, das Kapital oder etwas Ähnliches gelesen haben, der Angelo. Ich habe mich gefühlt wie einer dieser Füchse, die um diese Stunde durch die Weinberge streichen.

Aber wir werden eine Revolution machen, ich und Angelo. Jetzt bleibe ich einen Monat hier, verdiene mir Geld, um nach Kuba zu fahren, und dort kaufe ich mir dann eine Baskenmütze mit dem Stern des Che und lerne Revolution machen, und wenn ich zurückkomme, werden wir den Aufstand der Tankwarte, der Verkäuferinnen, Putzfrauen und Kellner der Raststätte anführen. Die in den Schliessfächern der Banken versteckten Schmuckstücke werden wir beschlagnahmen, und auf der Autobar wird die Fahne des pueblo unido wehen.

Vor ein paar Tagen ist ein griechischer Lastwagenfahrer hereingekommen, der nur Griechisch sprach, er wollte ein Bier, aber wir verkaufen keinen Alkohol, also habe ich ihm ein alkoholfreies Bier gegeben, er war ein bisschen enttäuscht, und nur so, um ihn zu trösten, habe ich das einzige griechische Wort zu ihm gesagt, das ich kenne: ouzo. Der Grieche ist zu seinem Lastwagen gegangen, hat ein Fläschchen Ouzo geholt und es mir geschenkt, es gibt doch gute Menschen auf der Welt. Angelo dagegen sagt, dass alle böse sind.

Wenn er das sagt, wird er gute Gründe dafür haben. Er ist ein Grenzgänger, einer ohne Rechte, denn die Gewerkschaften halten zu den Unternehmern, sagt er. Hier in der Autobar, zum Beispiel, kommen die Bullen rein und trinken etwas, ohne zu bezahlen, essen ein Brötchen, ohne zu bezahlen, es besteht eine Abmachung zwischen dem Chef und den Polizisten, jedes Jahr lädt der Chef sie zum Abendessen ein, sie mögen sich. Auch die Männer, die auf der Autobahn arbeiten, die mit den orangefarbenen Anzügen, können hier umsonst essen, aber kürzlich ist ein Kroate hereingekommen und hat einen Kaffee getrunken, aber sein Brötchen wollte er bezahlen. Ich habe ihn darauf aufmerksam gemacht, dass ihm auch das Brötchen umsonst zusteht, wie den Polizisten: Aber er hat gesagt, die sind «was Besseres» als er. Auch des­halb werden ich und Angelo den Aufstand anführen.

Die Bullen im Dienst der Unternehmer. Manchmal tun sie mir allerdings auch Leid, wie der, der vor ein paar Tagen hereinkam, mit einem halb traurigen, halb gleichgültigen Gesicht und stark vorstehenden Augen. Ich habe mit ihm zu reden angefangen, und er gab mir sogar Recht und er tat mir ein bisschen Leid, auch sie haben mörderische Dienstzeiten. Dann hat er den Kaffeerahm-Deckel genommen und ihn sorgsam in seinem Portemonnaie verstaut, für seine Tochter, die so was sammelt.

Der Chef der Bar und der Tankstelle ist einer, der frühmorgens herkommt, einen Café crème trinkt und die Autos zählt, die auf der Autobahn vorbeifahren, er betet zum Herrgott, dass er ihm eine schöne Menge dröhnender Autos vorbeischickte. Die Autos sind sein Leben. Insgeheim jedoch ist er in Züge verliebt. Er hat eine tolle Spielzeugeisenbahn in seiner Villa «Mio sogno» oben auf dem Hügel, Miniaturlokomotiven, die einen Haufen Geld kosten, und wenn er nicht hier ist, um die Autos zu zählen, sitzt er ganz brav in seinem Wohnzimmer und schaut den Zügen zu, die am Bahnübergang halten, in die Tunnels einfahren, an den Weichen die Gleise wechseln und glücklich zwischen kleinen Seen und Bäumchen dahinfahren wie im Swissminiatur. Aber wenn ich aus Kuba zurückkomme, wird die Villa des Chefs in eine öffentliche Anlage mit Enten im Teich verwandelt, der Chef macht seine Schichten an der Tankstelle wie die anderen, und alle Kinder dürfen mit der Eisenbahn spielen, auch Angelos Tochter.

Keine Rechte. «Wenn du willst, ist es so, sonst kannst du ja gehen.» Und die Gewerkschaften schweigen, gehen mit dem Besitzer Eisenbahn spielen. Hier gibt es einen Haufen Arbeislose, die Angelos Stelle sofort nehmen würden. Aber er hat eine zehnjährige Tochter zu Hause, ein scheues Mädchen, die Mutter ist auf und davon, und er lebt jetzt allein mit dieser Tochter, die Silvana heisst, und in der Schule sagen sie Silvana, die Nutte, zu ihr, weil die Welt böse ist. Es gab zwar eine Nachbarin, eine Sechzigjährige, die kam und half Angelo und Silvana ein bisschen im Haushalt, aber jetzt hat sie einen Kerl gefunden, und plötzlich ist die Alte wieder jung geworden, hat angefangen sich zu schminken wie meine Mathelehrerin und lässt sich nicht mehr blicken. Silvanas Onkel ist gestorben, ihr Freund ist an einem Tumor gestorben, der Grossvater ist gestorben, die Grossmutter ist gestorben, sogar der Hund ist gestorben, Silvana ist allein geblieben und geht am Samstagabend mit ihrem Vater Angelo Walzer und Tango tanzen, um all diese Toten zu vergessen.

Er erzählt mir alles, der Angelo. Einmal ist er zum Chef gegangen, um zu fragen, ob er in der Zeit, in der auch seine Tochter Ferien hat, Urlaub nehmen kann, um ein bisschen mit ihr zusammen zu sein, aber der Chef hat zu ihm gesagt, wenn es ihm so passt, wie es ist, gut, sonst kann er ja gehen. Kurzum, die Unternehmerphilosophie. Aber auch die anderen im Dorf sind böse, sagt Angelo. Sie schauen ihn schief an, weil er getrennt lebt.

Wenn ich mit meinem Nachtfaltergeflatter um den Tresen fertig bin, kommen mir die Füchse entgegen hier auf dem Weg, der mich nach Hause führt: Da ist die Frau – die ehrbare Signora nennt Angelo sie –, die sich morgens im Motel mit ihrem Liebsten trifft; da ist die Kassiererin, die meiner Tante ähnlich sieht und nie lächelt, da ist diese gemeine Ziege, die sich als Chefin aufspielt und heute Mariangela zum Weinen gebracht hat, da ist der Typ im blauen Anzug, der einen Café crème bestellt und dann zu dir sagt, du sollst seinen draussen geparkten Mercedes anschauen, und dich fragt, ob du mit ihm abendessen gehst; da ist der schweigsame Taxifahrer, der am Spielautomaten sein Glück versucht, da ist die Putzfrau, die die Zimmer im Motel sauber macht und Gretel heisst. Gretel ist eine grosse, dicke Frau, die einen Haufen Unglück gehabt hat, aber sie erzählt es mit einem Akzent, der mich zum Lachen bringt. Erst hat sie mit dem Auto ihren Sohn angefahren, so eine Schnittwunde am Kopf. Dann ist sie beinahe in Flammen aufgegangen: sie stand mit der verdammten Alkoholflasche da neben dem Kamin, und plötzlich hat sie Feuer gefangen, Verbrennung dritten Grades, ihr Sohn nur zweiten Grades, zum Glück ist sie dick, und ihr Fettpolster am Bauch hat sie gerettet, sie hat mir die Katastrophe gezeigt, sie würde schon gern noch mit einem Mann gehen, aber sie schämt sich, so verbrannt, wie sie ist.

Dann gibt es noch die, die stehlen. Sie kommen rein, womöglich distinguierte Herren in Jacke und Krawatte, gehen an den Regalen mit den Waren entlang und lassen stangenweise Zigaretten im Regenmantel verschwinden. Und es gibt die, die dich beim Wechseln betrügen und dir falsche Schecks unterschieben, und dann musst du zahlen, die, die volltanken und dann abhauen, und einmal ist der Tankwart aus seiner Kabine gelaufen, um die Nummer des davonrasenden Autos zu sehen, aber in dem Augenblick ist einer zur Kasse gegangen und hat ihm sechstausend Franken geklaut: sobald du dich hier aus dem Käfig wegrührst, wird dir übel mitgespielt.

Wenn die Schicht zu Ende ist und ich dieses dunkle Strässchen entlanggehe, wo ich allein auch Angst habe und es mir immer so scheint, als wäre einer im Gebüsch versteckt und wartete auf mich, dann kommen mich die Füchse besuchen, die Nachtgedanken.

Einer sagt, man muss eine Revolution machen, um die Menschen zu verändern. Aber wie kann man das Böse auf der Erde zum Verschwinden bringen? Und die Narbe auf Gretels Bauch? Und die Tränen des kleinen Mädchens, zu dem die Schulkameraden Nutte sagen? Und die Deutschen, die Cappuccino bestellen nach dem «Hallo» und dich hinter dem Tresen anstarren, während du ihnen nicht ausweichen kannst, weil du dort eingesperrt bist wie in einem Schaufenster?

 

Da sind diese hungrigen Füchse, die mir entgegenkommen, wenn ich durch die dunklen Weinberge nach Hause gehe, ich höre eine vergessene Glocke auf der Wiese, und aus der Tiefe weht der gelbliche Atem der Autobahn herauf, alle Trauben haben die Farbe der Nacht, und auch ich bin ein Fuchs, pflücke eine Traube und nehme sie mit nach Hause: Denn man muss denen nehmen, die haben, um denen zu geben, die nichts haben.