Miló

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Foto Ayşe Yavaş

Alberto Nessi, geboren 1940 in Mendrisio, studierte an der Universität Freiburg Literaturwissenschaft und Philosophie. Er ist verheiratet und hat zwei Töchter. Er unterrichtete italienische Literatur in Mendrisio, schrieb für Zeitungen und verfasste Hörspiele. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Schweizer Grand Prix Literatur für sein Lebenswerk. Alberto Nessi lebt in Bruzella. Im Limmat Verlag sind von ihm lieferbar: «Nächste Woche, vielleicht», «Terra matta», «Schattenblüten», «Die Wohnwagenfrau», «Mit zärtlichem Wahnsinn / Con tenera follia» und «Abendzug».

Die Übersetzerin

Maja Pflug, geboren in Bad Kissingen, Übersetzerausbildung in München, Florenz und London, übersetzt seit über dreißig Jahren italienische Literatur ins Deutsche, u. a. P. P. Pasolini, Cesare Pavese, Natalia Ginzburg. Sie lebt in München und Rom und wurde mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Deutsch-Italienischen Übersetzerpreis für ihr Lebenswerk. Im Limmat Verlag sind von ihr Übersetzungen von Anna Felder, Alberto Nessi, Giovanni Orelli und Anna Ruchat lieferbar.

Alberto Nessi

Miló

Erzählungen

Aus dem Italienischen von Maja Pflug

Limmat Verlag

Zürich

Erster Teil

Miló

«Résistance n’est qu’espérance»

René Char

1

Vevey, 3. Februar 1934

Joséphine-Amérique eilt den windgepeitschten Genfersee entlang. An den Steinen am Ufer brechen sich die Wellen, das raue Rumoren der Brandung begleitet ihre Gedanken. Brandung, erbarmungsloses Gelächter: Die Arbeitslosigkeit ufert aus. Wie mag es dem armen Jungen im Gefängnis in Lausanne gehen? Wird er frieren? Er ist schon dreiundzwanzig, aber immer noch ihr Kind. Die Wellen überschlagen sich im Kopf der Frau, die gegen den Wind ankämpft. Sie hat die zwei wasserspeienden Steinlöwen am Brunnen der Place Orientale hinter sich gelassen, wo sie zwei Zimmer bewohnt. Allein, jetzt, da ihr Miló im Gefängnis sitzt.

Ihr Blick schweift zu den scharfen Zähnen der Berge hinter dem See, Drachenzähne, deren Schneespitzen tief hinunterreichen. Sie wird vom Wind gebeutelt und hat keine Augen für die himmeltanzenden Möwen über dem See. Sie hat nur Augen für Miló, bewacht von einem Wärter, der alles sieht. Er ist in einer Zelle eingesperrt, in der Festung Bois-Mermet, am Rand jener Stadt, die sie einmal auf dem Ausflug mit den Fabrikarbeiterinnen gesehen hat. Wie wird er das durchstehen, dieser lebenslustige Junge? Sie weiß noch, wie er mit der Schleuder in der Tasche die Gassen von Vevey unsicher machte, ihr kleiner David, der davon träumte, den in der alten Hausbibel abgebildeten Riesen Goliath zu Fall zu bringen. Was wird aus ihm werden? Was hat er nur im Blut, das ihn zur Rebellion drängt?

Joséphine ist eine mit dem Wind kämpfende Möwe auf dem Weg zur Arbeit. Wenn sie den Blick hebt, sieht sie den Schlot. Sie macht Zigarren bei Rinsoz & Ormond, so heißt die große Manufaktur jetzt. Sie beschleunigt den Schritt, damit sie nicht zu spät kommt. Sie lässt das Hôtel des Trois Couronnes hinter sich, eine gute Zielscheibe für Miló, Schmiedeeisen und Terrassen mit Säulchen, von denen schon die russische Zarin in der Sommerfrische auf den smaragdgrün schillernden Genfersee geblickt hatte. Mit zerzaustem Gefieder erreicht sie die Place du Marché: den weiten Platz, wo sie samstags auf dem Rückweg von der Fabrik ihre Kartoffeln kauft, wo Miló als Kind zwischen Karren, Hütchen und Spazierstöcken loslief, um aus den Körben der Marktfrauen eine Frucht zu stibitzen.

Joséphine kann sich nicht beruhigen. Einmal hatte sie dem verflixten Bengel verboten auszugehen, er hatte sich in einem Winkel der Wohnung versteckt und drei Tage dort ausgeharrt. Sie rief «Milóo …» Und er nichts, stur wie ein Esel, lieber verhungere ich … Eine Machtprobe. Woher hat dieser Dickkopf nur die herausfordernde Art, die ihn, als er noch kurze Hosen trug, die Schaufenster der Lingerie de Paris in der Rue du Centre aufs Korn nehmen ließ? Und jetzt mischt er sich unter Gewerkschafter, Kommunisten und Anarchisten. Dabei wollte er Pastor werden, Lernen gefiel ihm. Doch auch aus dem Internat ist er davongelaufen, ertrug die Disziplin nicht: Sein Gott verleiht ihm Flügel.

Grande Place. Das Ufer, wo sie zusammen mit anderen, ebenso armen Frauen zum Wäschewaschen hingeht. Die flachen Kähne für die Waren. Hier kommt der Tabak für die Zigarren an. Die Frau eilt am Schloss mit den Türmchen vorbei, in dem, sagt man, einst der große Baron gelebt hat, derjenige, der Händevoll Münzen in den See warf und belustigt zuschaute, wie die Buben ins Wasser sprangen, um sie wieder herauszufischen.

Da ist die Fabrik: Nun heißt es Zigarren rollen bis zum Abend, während die Gedanken forteilen aus diesem großen Raum voller Frauen, die vor Bergen von Tabakblättern sitzen, achtundvierzig Stunden pro Woche über die von breiten Fenstern beleuchteten Werkbänke gebeugt. Man muss dem Blick des Peinigers ausweichen: Als sie vor zwanzig Jahren angefangen hat, in der Fabrik zu arbeiten, war der dort, der Herr Aufpasser, imstande, dir eine Zigarre wieder aufzurollen, wenn du zu schnell warst, denn eine Zigarrenarbeiterin darf nicht mehr als zwei Franken pro Tag verdienen: Doch Joséphine ist schlau wie ein Fuchs und kann tausend Zigarren am Tag machen. Ab und zu hebt sie den Kopf und sieht durch die Scheiben die Savoyer Alpen jenseits des Sees. Die Drachenzähne. Ein Dampfer durchfurcht die Wellen. Wo mag das Aostatal liegen, das Dorf, das sie vor so langer Zeit verlassen hat, um in die Schweiz zu gehen?

Jetzt muss man den Kopf senken. Doch als junges Mädchen hatte sie auf den Straßen von Vevey den Demon­s­trationszug der Streikenden gesehen: Arbeiterinnen und ­Ar­bei­ter aus den Zigarren- und Schokoladenfabriken. Am Abend bei der Union ouvrière Louis Bertoni hören, am Tag beim Schokoladenkönig mit Steinen die Scheiben einschmeißen. Bis die Armee eingegriffen und auf die Menge geschossen hatte.

Was soll jetzt bloß aus dem Jungen werden, der den Hitzköpfen von Genf und Lausanne hinterherläuft? Und dann läuft er auch noch den Röcken dieser Landstreicherin hinterher, die durch die Bistrots zieht …

Roll, Joséphine, verlier keine Zeit

Die pouponneuse schiebt dir den poupon hin, das heißt die Puppe, das Innere der Zigarre, das mit den schönsten Blättern umwickelt werden muss, und du denkst an deinen Sohn im Gefängnis. Dein Wickelkind. Zu Hause in der Nachttischschublade hast du das Foto liegen, das mit dem leicht schräg aufgesetzten Strohhut – man sieht, dass du nicht an Hüte gewöhnt bist, die mit Trauben und Blumen geschmückt sind: Du hast sie vor ein paar Jahren auf dem Winzerfest gesehen, als die Grande Place sich mit Frauen und Männern in Tracht gefüllt hat, die sangen, tanzten, mähten und harkten, während sie mit Fässern beladene Karren begleiteten, die von Ochsen gezogen wurden: auf der einen Seite die Kinder der Herrschaften, herausgeputzt als Götter und Göttinnen, Bogenschützen der Sonne, Hundertschweizer mit Federbusch auf dem Helm und auf den Boden gestützten Schwertern, auf der anderen die Kinder der Armen, verkleidet als Bauern, Böttcher und Mistkehrer.

Roll, Joséphine, verlier keine Zeit

Auf dem Foto daheim sitzt du im Studio des Fotografen in der Rue du Centre: die Arbeiterin als Göttin, thronende Madonna mit schwieligen Händen, Mutter, Füchsin ne­ben dem Fuchsjungen im Matrosenanzug. An den Füßen hohe Schnürschuhe. Miló lehnt an deiner Schulter, so seid ihr gleich groß. Wie Wurzeln schauen die Finger deiner Hände aus den Spitzen deiner Bluse heraus, die am Hals mit einer Brosche geschlossen ist: Wie viel Tausend Zigarren hast du schon gerollt, seit dein Mann dich geschwängert und das Weite gesucht hat?

Roll, Joséphine, verlier keine Zeit

Der Aufpasser behält dich im Auge, und die Möwen kreischen vor den Fenstern der Fabrik. Sie haben dir deinen Miló gestohlen, diese Viecher, die sich am Ufer die gestran­deten Fische schnappen … Nun kommt wieder ein poupon zum Einwickeln, dein Wickelkind, und heute Abend wirst du gelbe, stinkende Finger haben.

Wie war denn dein Leben? Wie war das Dorf, das du als junges Mädchen verlassen hast, das ferne Dorf mit dem Vogelnamen, Fénis? Wie ein Phönix schwebt es durch die Erinnerung, ohne sich auf Beute zu stürzen wie diese ­Möwen, die über dem aufgewühlten See kreischen. Mit jenem nach Heu duftenden Namen, der in der Kindheit das Ende aller Übel versprach?

2

Lausanne, Gefängnis von Bois-Mermet,

6. Februar 1934

Emile Lexert, unehelicher Sohn von Joséphine, ohne fes­ten Wohnsitz, ledig, Maler und Gipser, Größe 1,69, mittlere Statur, Haare und Augenbrauen schwarz, Augen braungrün, Nase geschwungen, Schnauzbart dunkelbraun, Lippen dick, Gebiss gut, nicht vollständig, fliehendes Kinn, glattrasiert, ovales Gesicht, eine gerade, senkrechte Narbe von einem Zentimeter über der rechten Augenbraue zur Nase hin, ein Muttermal auf dem linken Nasenflügel, ein Mut­termal neben dem rechten Nasenflügel … Genügt euch das?

Es ist nicht wahr, dass ich im Zimmer von Madame Jaquenoud einen Damenmantel entwendet habe. Es war so: Toto hat mir diesen Mantel verkauft, grau mit Pelzkragen, zum Preis von zehn Franken. Seine Papiere waren nicht in Ordnung, deshalb hat er mir das Ding verkauft: Er brauchte Geld, um nach Italien zurückzukehren. Der Freund Toto hat eine Nacht in meinem Zimmer bei Madame Jaquenoud verbracht, aber ohne Madames Erlaubnis, sie hat ihn gar nicht gesehen. Ja, wahrscheinlich ist der Mantel gestohlen, wie soll man leben, wenn man nichts hat?

 

Seit ich aus Genf fort bin, bin ich arbeitslos. Am 16. Januar bin ich nach Lausanne gekommen. Seitdem habe ich immer in Prilly bei Anna gewohnt. Ihr kennt Anny nicht. Lasst die Finger von ihr. Nein, ich habe mich nicht bei der Einwohnerkontrolle angemeldet und auch meinen Pass nicht hinterlegt.

Meine Freundin ist Mädchen für alles bei einem Herrn, der in der Apotheke La Palud arbeitet. Dieser Herr hat mir erlaubt, bei ihm zu wohnen, wenn ich keine Arbeit habe.

Ich bin aus Genf ausgewiesen worden, weil ich ohne Genehmigung gearbeitet habe. Ich möchte klarstellen, dass ich Toto den Mantel abgekauft habe, in einem Café, im Beisein meiner Freundin Anny. Ich habe den Mantel mit zwei Münzen à fünf Franken bezahlt.

Am 17. Februar, zehn Tage nach dieser Erklärung, schreibt Miló einen Brief an Monsieur le Président. Er kann gut mit Wörtern umgehen:

Zurzeit bezichtigt die Justiz mich und meine Verlobte eines Verbrechens, das wir nicht begangen haben und für das wir uns vor einem Gericht verantworten sollen. Ich gebe zu, dass der Schein uns unrecht gibt, doch unser Gewissen ist rein, und was mich bedrückt, ist, dass wegen eines Fehlers und einer so geringfügigen Sache das Leben von zwei Menschen, die sich über alles lieben, für immer zerstört werden kann und dass ich gegen meine Entscheidung ausgewiesen werde.

Geringfügig, ja: ein Mantel für zehn Franken. Aber der Brief nützt nichts. Am 13. März wird er mit Anny in Lau­san­ne vorgeladen, vor den Richter, die Beisitzer, den Amtsschreiber und die Gerichtsdiener. Es erscheinen Berthe mit ihrem Hütchen, das Dienstmädchen von Madame Jaquenoud, und Jean, der Kellner des Cafés Ecusson Vaudois. Der Amtsschreiber beginnt ein Papier vorzulesen, in dem Miló der grivèlerie bezichtigt wird, das heißt, auf Kosten anderer zu essen und zu trinken. Dann wird er des Diebstahls angeklagt. Er und Anny. Doch das Gericht entscheidet, dass weitere Informationen benötigt werden, und ver­tagt die Sitzung: Sie haben nicht genügend Beweise gegen die beiden.

Eine Woche später stehen sie erneut vor dem Richter. Diesmal ist eine andere Berthe da, die für die Heilsarmee arbeitet, die Uniformierten, die Trompete und Trommel spielen und Gott ein Loblied singen, sie wollen die Menschheit vom Teufel befreien und haben eine Fahne, auf der sang et feu steht.

«Sie haben etwas entwendet, von dem sie wussten, dass es ihnen nicht gehört», schreiben die vom Gericht. Einen Mantel mit Pelzkragen.

So verurteilt der Gerichtshof sie zu drei Monaten Gefängnis, zu fünf Jahren Verlust der Bürgerrechte und zur Bezahlung der Hälfte der Gerichtskosten wegen einer Sache, die sie bei einem Dieb gekauft haben. Doch der Mantel mit Pelzkragen war wirklich schön: In diesem Mantel sah Anny wie eine richtige Dame aus, nicht wie ein Mädchen ohne festen Wohnsitz. Anna, die noch keine achtzehn Jahre alt ist.

3

Gefängnis von Bochuz, 21. März 1934

Miló ist nach Bochuz verlegt worden und wartet auf den Tag seiner Ausweisung aus der Schweiz. Die Polizei hat ihn als «unerwünscht» bezeichnet; er trägt das Wort in sich, als hätte man ihn angespuckt.

An der Umfassungsmauer des Gefängnisses Bois-Mermet, das er vor wenigen Tagen verlassen hat, hatte auch Benito Mussolini kurz mitgebaut, einer der sechstausend armen Schlucker, die damals in Lausanne arbeiteten: Als Gelegenheitsmaurer in Lausanne zu Beginn des Jahrhunderts musste er manchmal sogar auf einer Bank unter dem Grand Pont übernachten. Er war nicht nur Handlanger gewesen, sondern auch Gehilfe im Weinladen und in der Metzgerei, der aus der Romagna ausgewanderte Schullehrer, der jetzt Italien beherrschte. Eines Abends in der Maison du Peuple, bei einem Streitgespräch über «Christus als Befreier der Sklaven und Vorläufer des Sozialismus», hatte Mussolini die Größe Jesu geleugnet, was hatte der denn schon Denkwürdiges vollbracht? Ein paar Dörfer missioniert und ein Dutzend unwissende Landstreicher als Jünger geworben …

Diese Dinge hat Miló von seinen italienischen Freunden erfahren, und ab und zu denkt er daran. Jetzt in dem neuen Gefängnis wurde die Umfassungsmauer durch Stacheldraht ersetzt: eine moderne Strafanstalt in der ­Orbeebene. Ein Schandmal.

«Er war in Bochuz» ist ein Satz, der dich für immer brandmarkt.

In seiner Zelle eingeschlossen, wird Miló wieder zum Kind: In der Zweizimmerwohnung an der Place Orien­tale hat er sich nach den Vorhaltungen seiner Mutter hinter dem Vorhang versteckt. Er will nicht herauskommen, lauscht im Dunkeln dem Stundenschlag der großen Turm­uhr. Er hört sein Herz klopfen, der vaterlose kleine Fuchs … Er hat mit sich selbst gewettet: das Dunkel aushalten. Keinen Vater zu haben, ist besser, so kannst du ihn dir ausdenken, wie du willst. Ein Vater mit Schnauzbart, der mit mir auf dem See Boot fährt, meine Hand in seiner hält, mir beibringt, flache Steinchen über die Wellen hüpfen zu lassen …

Eines Tages trottet er nach der Schule mit seinem Klassenkameraden dahin. Am Seeufer bleiben sie nachdenklich stehen:

«Du hast überhaupt keinen Papa», sagt der Kamerad.

«Oh doch. Mein Papa ist Handelsvertreter. Er reist her­um und verkauft Sachen. Er ist reicher als deiner, mein Papa.»

«Das ist nicht wahr. Ich hab ihn noch nie gesehen. Wo wohnt er denn?»

«In Frankreich. In Paris.»

«Das ist nicht wahr. Du hast keinen Papa.»

«Und du weißt nicht mal, wo Paris liegt …»

Damit stößt Miló den Kameraden ins Wasser, damit er den Karpfen und Hechten des Genfersees Gesellschaft leis­tet.

In der Zelle in Bochuz fallen ihm die Dinge aus der Kindheit ein: Sie kommen und gehen wie die Wellen der Brandung. Nun bringen die Wellen das Buch mit dem blauen Umschlag aus der Grundschule: die Schöpfungsgeschichte, die Sintflut, das Kamel, die Wüste, der Turmbau zu Babel, die Landkarten in Grün, Ocker und Blau, das Blau des Meeres. Wie gern würde er einmal im Meer schwimmen! Was waren das bloß für Geschichten, die sie in der Schule lasen? Der Steinklopfer beklagt sich über die Anstrengung und will aufhören zu arbeiten, aber der Ochse hält ihm eine Predigt: Des Menschen Schicksal ist es zu arbeiten, zu leiden und auf den erlösenden Tod zu warten, und die Reichen werden den Elenden die Brosamen von ihrem Tische geben …

Nun bringen die Wellen seine Mutter. Sie ist aus der Fabrik zurückgekehrt, Miló geht pfeifend Brot holen, und es gefällt ihm, hinter dem Mann mit dem Stab herzugehen, der auf der Straße die Gaslampen anzündet. Dann erscheinen in der Brandung die kleinen Dinge des Alltags, die großen Schuhe, mit Stroh gepolstert, um die Füße warmzuhalten, die Frau, die ihm fürs Einkaufen zwei Franken gibt, das Räuber-und-Gendarm-Spielen auf der Gasse. Die Grande Place, der Herbstmarkt mit Rindern, Schweinen und Ziegen, Schießbuden, Karussellen, Marroniverkäufern zwischen den Säulen der Markthalle La Grenette, dem Duft nach gebrannten Mandeln und Lebkuchenherzen … Die Geschichten des Lehrers: Napoleon mit dem goldbetressten Zweispitz auf dem Kopf und dem Säbel an der Seite lässt die Männer auf dem Platz Revue passieren, bevor er zum Großen St. Bernhard aufbricht: Er reitet auf einer Berberstute, ist so groß wie die Welt, und ein Adler leitet ihn bei seinen Eroberungen.

Früh hatte er den Ungehorsam entdeckt, der Junge. Statt in die Schule zu gehen, sah er den Fischern am Bootssteg zu und betrachtete die in der Metzgerei an Haken aufgehängten Tierleichen. Einmal war er der Straßenbahn mit der Reklame für Suchard-Schokolade in der Rue de Lausanne bis zum Bahnhofsplatz gefolgt, wo die Wagen der Hotels halten, und hatte sich bis zu der großen Aufschrift Hôtel de Vévey vorgewagt. Auf dem Rückweg war er vor dem Pavillon stehengeblieben, wo am 1. August die Fan­fare spielt und lebende Bilder mit der weißgekleideten Mamma Helvetia inszeniert werden.

Jetzt in der Zelle erscheint ihm vor dem Einschlafen Anny. Mädchen gefallen ihm. Ihre Arme sind weich. Sie lächeln wie das Wasser im Wald: Man hört es fließen, und dann sieht man es, dieses Wasser. So ist es, wenn die Mädchen lächeln. Wenn sie dir in die Augen schauen. Das Wasser glitzert auf den Kieseln im Bachbett der Veveyse, und Anny zieht lächelnd ihre Bluse aus.

In Bochuz kennt man nach einer Weile die Geschichten aller anderen, wenn man in den Werkstätten oder auf den Feldern arbeitet. Miló sieht sich um: Wer mögen diese Männer sein, die hier hinter Gittern leben? Diese Mäuse in der Falle?

Der hier ist ein Alkoholiker, den seine Frau betrogen hat, er hat das Haus angezündet und zehn Jahre bekommen. Der dagegen hat mit dem Ordonnanzgewehr geschossen und auf dem Dorfplatz zwei Leute umgebracht. Der andere, der ins Leere starrt, lebte in Lausanne, Rue du Pré, mit drei Brüdern und vier Schwestern, er hat früh angefangen, nachts auszureißen, mit elf Jahren war er schon im Erziehungsheim. Dann ist da noch der Einbrecher, der das Geschäft seines Arbeitgebers ausgeraubt hat.

Im Zuchthaus hat Miló alle Zeit, sich zu erinnern. Nicht nur an Anny und die Brücke, wo sie sich verabredeten, im Schilf der Veveyse. Er erinnert sich auch an die Ferien in Fénis, die Wiesen, wo die Weidenröschen blühten, an die Füchse, an die Großmutter beim Heuen und beim Kochen von Polenta mit Käse und peilà, an die Sprüche: «Kuckuck, mein Kuckuck, wie viele Jahre gibst du mir noch zu leben?» Einmal hatte er das Schloss besichtigt, und der heilige Christophorus mit dem Kind auf der Schulter hatte sich ihm eingeprägt, auch er wollte ein Heiliger werden. Tja, die Dinge geschehen, damit man sich später daran erinnern kann, bevor sie der Kuckuck holt …

Die Tage, als er als Maler und Gipser in Genf arbeitete, kommen ihm in den Sinn, die Streifzüge über die Bau­stellen auf der Jagd nach Streikbrechern: Sie verraten die Brüder, wie Judas Jesus Christus verraten hat. Arbeitslose schliefen mal hier, mal dort, in einem Waggon, in einem Keller, in einem Heuschober am Rand der reichen Schweizer Stadt. Vagabunden. In seiner Gruppe gab es viele ritals: So wurden die Italiener genannt. Sie waren in den zwanziger Jahren über den Moncenisio gekommen auf der Flucht vor Mussolini.

Am Samstagnachmittag teilten sich die militanten Gewerkschafter in Gruppen auf und gingen nachsehen, ob der Feierabend eingehalten wurde. Ein Unternehmer weigert sich, den Kollektivvertrag zu unterschreiben? Dann geht man hin und demoliert die Baustelle, reißt alles wieder ein, hoppla! Und wenn der Vermieter einem Arbeitslosen fristlos kündigt und die Gemeinde ihm ein Rattenloch zur Verfügung stellt, geht man hin und demoliert das Rattenloch. Démolissons les taudis stand auf einem Plakat, das auf den Straßen der Stadt aufgetaucht war. Ein Teil der Gewerkschaft war für die direkte Aktion: Ganz einfach, man steht um fünf Uhr morgens auf, geht die Bruchbuden abreißen und schafft so Arbeit für neuen Wohnungsbau. Haben wir nicht das Recht, anständig zu leben? In Genf standen Tausende von Wohnungen leer, doch wer die Miete nicht zahlen konnte, flog raus. Der Gerichtsvollzieher kam mit seiner gelb-roten Schärpe und begann: «Im Namen des Gesetzes …»

Einmal, in der Rue Verte, erfand eine Gruppe von Rabauken ein neues Gesetz, das Gesetz der Jungs von Carouge: Man zieht dem Gerichtsdiener ein Leintuch unter den Achseln durch und hängt ihn wie eine Salami ans Fenster. Und ein andermal sperrten sie die flics in den Keller und brachten die Möbel aus den Wohnungen der Gekündigten weg, um zu verhindern, dass der Gerichtsvollzieher mit der Schärpe kommt und sie pfändet.

In Genf gingen die Streikbrecher in jenen Jahren unter Polizeischutz zur Arbeit und wurden abends bis zum Büro der Christsozialen, die ihre Beschützer waren, zurückbegleitet. Auf der Place du Molard gab es L’Ouvrier du Bois et du Bâtiment und Le Réveil Anarchiste zu kaufen. Manchmal wurden die Zeitungsverkäufer von den Faschisten angegriffen.

Miló las L’Ouvrier, der jeden Mittwoch herauskam. Ob er registriert war, wusste er nicht. Doch die Militanten standen auf der schwarzen Liste, das wusste er. Es herrschte Arbeitslosigkeit, und die Bosse nutzten es schamlos aus. Sie fragten den Arbeiter:

«Wie viel verlangst du pro Stunde?»

«Na ja, ein Franken fünfundfünfzig ist mir recht.»

«Nein, nein, ich finde für einen Franken Arbeiter, so viel ich will …»

«Aber wir wollen den Tariflohn. Der Tarif muss eingehalten werden!»

«Welcher Tarif denn? Nichts zu machen!»

«Wir haben unsere Gewerkschaft, die verteidigt uns.»

«Wir pfeifen auf eure Gewerkschaft …»

 

Den Franken fünfundfünfzig hatten die Maurer bei dem Streik 1928 erstritten. Miló war gerade neunzehn – er hat früh angefangen, mit Pinsel und Spachtel bewaffnet auf luftigen Gerüsten herumzuklettern. Damals führte Lucien Tronchet die Maurer an, in Samtjacke und schwarzer lavalliere:

«Die Herrschaften, die sich christlich nennen und mit ihrem Verhalten wegen drei Centimes ihr Paradies verspielen …»

Er sagte zu den Arbeitern:

«Lernt euer Handwerk gut. Wenn ihr euch unentbehrlich macht, könnt ihr den Bossen die Stirn bieten.»

Doch diese setzten die «trockene Guillotine» ein, das heißt, sie vereinbarten, keine Arbeiter zu beschäftigen, die Gewerkschaftsmitglieder waren.

Milós bester Freund war Amedeo, ein vor dem Faschismus geflüchteter Maurer aus dem Piemont. Arbeitslos geworden, half er hier und da aus, ernährte sich von den Abfällen der Restaurants, manchmal auch von streunenden Katzen. Man nannte ihn «den wandernden Juden». Sie trafen sich oft, und Miló lauschte seinen Geschichten.

In Genf lebten zu der Zeit mehr als zweitausend Juden, Georges Oltramare hasste sie und hetzte auf den Kundge­bungen gegen die geizigen Besitzer der Kaufhäuser der Stadt: «Die Verantwortlichen für die Oktoberrevolution in Russland sind alle Juden … Sie sind nicht einfach Bürger wie alle anderen, die Juden, sondern Terroristen, Zerstörer der Mittelklasse!»

Miló war ein junger Fuchs, der allmählich heranwuchs. Er begann zu begreifen, dass die menschliche Gesellschaft auf Lüge gebaut ist. Bei der Arbeit auf den Baustellen hörte er den Gesprächen seiner Kollegen zu; und an einem Novembernachmittag 1932 kommt einer und sagt, sie sollen sich bereithalten, am Abend alle nach Plainpalais zu laufen, um die Union Nationale ein bisschen aufzumischen; die, die mit gestreckter Hand den rechten Arm he­ben.

«Die sind wie die Nazis», sagen die Arbeiter, «wir gehen hin und hindern sie am Reden!»

«Sie haben die Banque de Genève in die Pleite getrieben …»

«Mit unserem Geld spielen sie an der Börse …»

«Hoch Nicole!»

«Hoch Dicker!»

«Gehen wir die Genossen verteidigen!»

«Bringt Stöcke, Pfeffer und Trillerpfeifen mit!»

Doch an jenem Novemberabend marschiert vor dem Palais des Expositions das Militär auf:

Rekruten aus der Infanterieschule

Jungs aus dem Wallis, der Waadt, dem Jura, aus Genf

können kaum die Waffen halten

mit Helm und Gewehr mischen sie sich unter die Menge

beziehen Prügel von den Arbeitern

ein paar Gewehre gehen zu Bruch

es sprechen Nicole und Tronchet

«Hoch die Sowjets!», «Tod den Schweinen!»

Man singt die Internationale

ist das die Revolution?

Nein, nur Krawall, Pfiffe, fliegende Steine

«Die Soldaten in die Kaserne!»

Ketten versperren den Zugang zum Gemeindesaal

die Menge durchbricht sie, zu Dutzenden stürmen sie

durch die Bresche

die Polizei jagt sie zurück

nur Krawall

bis die Trompete schallt

was hat das zu bedeuten?

«Un coup, visez bas, feu!»

schau diese Unglücksmenschen an, sie knien nieder,

zielen und schießen!

Maschinengewehre und Kriegsmunition!

in die Luft zielen verboten

nach dem Schuss eine tiefe Stille

in der Brasserie des Sports kommen erste Verletzte an

sie werden auf den Billardtisch gelegt

ein alter Mann wiederholt immer wieder

«Sagt es meiner Tochter, sagt es meiner Tochter …»

Erinnerst du dich, Miló? An alles erinnerst du dich, auch an Blanche, deine Gewerkschaftsgenossin: Sie hat ihren Bruder in der Rue de Carouge besucht und sieht nun auf dem Heimweg die Leute auf dem Platz, sie hört, dass es schon zwei Tote gegeben hat. Zuletzt werden es dreizehn Tote sein – darunter auch der Vater eines der Rekruten, die geschossen haben –, von den Verletzten zu schweigen.

Aber die Kaufleute können beruhigt sein, ihre Geschäf­te haben überlebt, nur das Schaufenster des Bäckers hat ein Loch, die Feuerwehrleute werden in der Nacht mit ei­nem Wasserschlauch die Blutspuren tilgen, und was soll die junge Blanche anderes tun, als in der Manteltasche die Fäuste zu ballen? Es ist kalt heute Abend in Genf, die Bise treibt die dürren Lindenblätter vor sich her, wer es sich leisten kann, geht ins Capitol in den Film La foule hurle mit Jean Gabin oder ins Central-Sonore, um die Beine der Marlene Dietrich zu bewundern.

In Bochuz denkt Miló wieder an die Szene mit Ramón ­Novarro und dessen akrobatische Flugkünste in dem Film La flotta del cielo, den er eines Nachmittags im Cinéma Oriental gesehen hat: Draußen schneit es, und Ramón springt hinaus in den Himmel, weil er seine unglückliche Liebe vergessen will, die schöne Sirene, die ins Meerwasser eintaucht. Die Flugzeuge dröhnen, Miló ist Ramón Novarro, er fliegt aus der Zelle davon und erlebt eine Liebesgeschichte mit der Sirene, küsst sie tief und lange.

In der Schwärze der Einsamkeit bevölkert sich die Stille mit Gespenstern, und der Gefangene sieht seine Helden wieder vor sich: Ramón Novarro, Bartolomeo Vanzetti, Nicola Sacco.

Eines Tages erschien auf den Straßen ein Plakat, auf dem stand: Sacco et Vanzetti sont innocents, liberons-les. Die Arbeiter in Genf demonstrierten. Einer von der Gewerkschaft zog einen Zeitungsausschnitt aus der Tasche, der die beiden mit Handschellen aneinandergefesselt zeigte: Vanzetti hat einen Schnauzbart, Sacco einen stolzen Blick und eine Fliege. Beide tragen einen Mantel mit Pelzkragen: genau wie der Mantel, den Toto gestohlen hat, der Mantel, der ihn ins Gefängnis gebracht hat. Unter der Fotografie die Worte, die Vanzetti vor dem elektrischen Stromstoß gesagt hat, schwarze Binde über den Augen, Metallring um den kahl rasierten Kopf:

«Hier vor dem Tod wiederhole ich: Ich bin unschuldig. Sicherlich habe ich auch Unrecht begangen, aber ein Verbrechen nie. Ich danke allen, die mit uns gekämpft haben. Ich bin ein unschuldiger Mann, wie auch mein Genosse im Unglück, Sacco, unschuldig war. Ich verzeihe den Menschen, die mir das angetan haben.»

Und dann das im Gefängnis geschriebene Gedicht:

An den Füßen tragen wir Ketten

zur Buße.

In schmutzigen, dunklen Gefängnissen erleiden wir jede Qual

Zur Buße

Doch ihr, ihr da draußen

zerreißt die Ketten, holt uns heraus.

Die Gefängnistür geht auf

und wir hören den Schrei, den einzigen Schrei

Die Welt ist frei – ist frei – ist frei!

An einem dieser Tage hatte Amedeo ihm eine Zeitungsseite mit einer unfassbaren Nachricht mitgebracht:

Heute gegen zwölf Uhr erschien über Mailand plötzlich ein italienisches Flugzeug am Himmel und warf Flugblätter von Giu­stizia e Libertà ab. Die sprachlose, staunende Bevölkerung las sie mit Freuden. Die Flugblätter fordern zur Rebellion auf, um den Faschismus zu stürzen. Die Po­li­zei griff ein, als das Flugzeug schon wieder aufgestiegen war und am Horizont verschwand.

Es ist ein Samstag im Juli 1930, Miló fantasiert. Zerreißt die Ketten! Dieser Irre ist ein Grundschullehrer aus Ao­sta: Bassanesi heißt er. Kommt aus dem Aostatal wie seine Mutter, ein Lehrer, ein sturköpfiger Fuchs, der gelernt hat, einen Eindecker zu fliegen. Um Platz für die Stöße von Flugblättern zu schaffen, verzichtet er auf den Fallschirm: zu schwer. Und über dem Domplatz von Mailand werfen Bassanesi und sein Freund die Flugblätter ab, die zur Revolte aufrufen, Tausende und Abertausende rote, grüne und gelbe Vögel flattern am lombardischen Himmel. Genau dann, wenn die Arbeiter und Angestellten aus den Käfigen der Büros und Fabriken kommen, in den Straßen den bunten Vögeln nachlaufen können und die Worte lesen: Revolte! Revolte!