Zwischen Zuversicht und Zweifel

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Zwischen Zuversicht und Zweifel
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ALBERT DAMBLON

Zwischen
Zuversicht
und Zweifel

Nachdenken über Ostern


Inhalt

Frage

Gekritzelte Auferstehung

– Aufstehen

Liebevolles Ostern

– Erste Liebe

Erstes Erzählen

– Ein hoffnungsloser Osterwitz

Erzähltes Ostern

– Die Frauen und das Leben

H-e-u

– Schmetterlinge

– Ein überraschender Nachschlag

Ein kleines Osterlied

– Gesprengte Ketten

Trunkenes Ostern

– Einladung

Verrutschtes Ostern

– Lebensbaum

Die Auferstehung des Daniel

Gelöschtes Leben

– Lebenszeit

Hälfte des Lebens

Feuerpanik

– Wo ist das Leben?

Die Ölige

– Salbende Frauen

Sie hat aufgehört zu schlagen

– Das letzte Stündlein

Früh am Morgen

– Licht

Mühselige Arbeit

Abtritt oder Auftritt?

– Erschrecken und Zweifel

Letztes Warten

Antwort

„Brannte uns nicht das Herz in der Brust, als er unterwegs mit uns redete und uns den Sinn der Schrift erschloss?“

(Lk 24,32)

Frage

„Sag mal, wie hältst dus mit Ostern? Bisher habe ich kaum etwas verstanden von dem, was du zu Ostern predigst. Oder glaube ich nur nicht daran? Ich würde ja gerne glauben, dass ihr recht habt. Nein, mir ist in meinem Leben schon so viel dazwischengekommen, ich weiß es nicht, wie ich anfangen soll. Hat dich nichts im Leben gestört? Bist du immer glatt durchgekommen?

Du bist jetzt vierzig Jahre Priester. Jahr für Jahr wirst du die Osternacht gefeiert haben. Jahr für Jahr ein Halleluja oder mehrere, der Herr ist angeblich auferstanden. Wirklich auferstanden, meinst du? Glaubst du wirklich an das ‚wirklich‘? Darf ich dich als Zeugen nehmen? Legst du die Hand dafür ins Feuer, meinetwegen ins Osterfeuer?

Nicht erst seit gestern hast du dich mit Ostern beschäftigt. Sicher an die vierzig Osterpredigten hast du vorbereitet. Vierzigmal bist du auf eine Geschichte gestoßen, die von einem lebendigen Toten erzählt. Vierzigmal warst du mit den Frauen an einem angeblich leeren Grab und vierzigmal klärte dich ein sogenannter Engel auf. Du musst wissen, was mit der Osterbotschaft gemeint ist. Glaubst du jetzt stärker als am Anfang deiner Karriere? Gehst du nach vierzig Dienstjahren in den Ruhestand in der festen Überzeugung, Jesus Christus lebt? Und dann, wartest du gelassen auf deinen Tod oder beunruhigt er dich noch? Sag es mir, sage es mir jedoch so, dass ich es nachvollziehe und auch gelassener werde.

Hilf mir, ich will glauben, ich kann nicht.“

Seine Frage hatte mich gepackt. Sie war berechtigt. Ich musste mich ihr stellen. Mir kam eine Idee. In meinem Arbeitszimmer sortierte ich die Stichwortzettel meiner Osterpredigten. Mehr als vierzig eng beschriebene Seiten, geordnet nach Datum und Evangelium. Eigenartigerweise fand ich jedes Jahr und jeden Entwurf, und als ich von einigen die Stichworte las, erinnerte ich mich nicht nur an die vielen Ostergottesdienste, sondern mir fielen auch spontan Geschichten ein, die mich mit Ostern verbanden. Leise habe ich sie mir erzählt und manchen eine Predigt zugeordnet. Hat in den Jahren tatsächlich eine Entwicklung stattgefunden? Bin ich heute fester und stärker in meinem Osterglauben verwurzelt als vor vierzig Jahren? Ich habe mich intensiv auf die meisten Osternächte vorbereitet. Hat mir die Arbeit genützt, um an Ostern zu glauben? Was bringt es, Ostern zu predigen, was bringt es, Ostern Predigten zu hören?

„Genau! Was hätte es mir gebracht, dir Osternacht für Osternacht zuzuhören?“

Gekritzelte Auferstehung

Ich war fertig. Nein, nicht mit den Nerven, im Gegenteil, ich war fertig, um endlich anzufangen. Das Theologiestudium und das praktische Jahr im Priesterseminar hatte ich beendet. Endlich fertig mit 26 Jahren. Vielleicht wäre es sinnvoll gewesen, sich mehr Zeit für das Studium zu nehmen, um das Leben richtig zu lernen. Aber was heißt Leben lernen, ich meinte es zu beherrschen. Also trat ich am 17. März 1973 meine erste Stelle als Kaplan am Rand einer niederrheinischen Großstadt an. Mein Vorgänger lebte noch in der Dienstwohnung, sodass an einen Umzug nicht zu denken war. Sowieso musste zuerst renoviert werden. In der Dachstube des geistlichen Studienrats kam ich unter. Es machte mir nichts aus, weil es endlich losging. Jugend, Alte, Kinder, Gottesdienste – alles, was ich mir einmal gewünscht hatte, war plötzlich Wirklichkeit. Ich fing unbescheiden an. Denn tief in mir drin hatte ich die Fantasie, alles besser zu machen als meine Vorgänger. Was sollte falsche Demut. Nur weil ich anfing, sollte sich das Blatt in der Kirchengeschichte wenden.

Darüber vergaß ich die Fastenzeit. Ostern war nah, nur ein paar Wochen entfernt. Trotzdem stürmte so viel Neues auf mich ein, dass Ostern für mich persönlich weit weg war. Die Jugendlichen rannten mir die Tür der Dachkammer ein, der neue Kaplan musste getestet werden. Trinkt er wie der Alte? Ist er genauso ein Langschläfer? Jugendliche vergleichen. An den Alten hatten sie sich gewöhnt, der Neue musste sie erst noch gewinnen. Ich wollte gewinnen. Vor Ostern sammelte die katholische Jugend jedes Jahr Altpapier. Die Papierpreise waren in diesem Jahr günstig, sodass die Aktion auf jeden Fall durchgeführt werden sollte. Der Einsatz lohnte sich. Wie mir die Jugendlichen erzählten, ging für die Sammlung ein ganzer Samstag drauf. Mein Vorgänger hatte sie immer mitgemacht. Er stand oben auf dem Anhänger eines Schleppers und fing die schweren Papierbündel auf. Ich sah mich dort oben und ahnte vor allen Dingen, was an Arbeit auf mich zukam. Meine Armmuskulatur war schreibtischtrainiert, von Altpapier hatte sie keine Ahnung. Und Schnappen musste sie können, keinen Ball, sondern einen Stapel alter Zeitungen und Prospekte. Geworfenes Papier wiegt schwer.

Irgendwie ergab es sich, dass der letzte Bauer am Stadtrand seine Traktoren nur am Karsamstag verleihen konnte. Einen Tag vor Ostern standen sie unbenutzt im Hof. Vielleicht hatte der Bauer die Grabesruhe Jesu Christi begriffen, ich war nicht im Rhythmus des Kirchenjahres angekommen. Karsamstag war in meinem Denken noch kein herausgehobener Tag. An die Vorbereitung meiner ersten Osterpredigt dachte ich überhaupt nicht. Es blieb mir keine Wahl. Ich musste mitmachen, weil der Vorgänger ebenfalls mitgemacht hatte. Wer neu anfing, machte alt weiter. Traditionen bleiben im Recht. Die Theologie des Kirchenjahres war in meinem Kopf endgültig abgehakt, die sogenannte Praxis hatte das Kommando.

 

Was nutzte die abstrakte Dogmatik, die ich lange verdächtigt hatte, zu dürr zu sein, um mein Leben zu beflügeln. Zwar hatte mir mein Predigtlehrer eingebläut, wie wichtig die Vorbereitung der Osterpredigt sei, aber beim ersten Mal drückte ich mich davor. Genauso wenig störte mich die sogenannte Grabesruhe. Eine Altpapiersammlung hatte damit wenig zu tun. Während ich das Papier stapelte, ging mir auf, dass ich die Sammlung am Karsamstag hätte absagen müssen. Aber welcher Anfänger traut sich eine solche Entscheidung zu! Die Papiersammlung hatte doch immer kurz vor Ostern stattgefunden. Hoch auf dem Wagen wurde gelacht, gestöhnt und geschuftet. Obwohl das Wetter österlich kühl war, schwitzte ich. Wahrscheinlich wäre eine Vorbereitung der Osterpredigt weniger schweißtreibend gewesen. Mit hochrotem Kopf hatte ich sie vergessen. Weder die schwarzen Ränder der Todesanzeigen noch die Unfallberichte in den Zeitungen erinnerten mich daran. Einem 26-Jährigen konnte der Tod gestohlen bleiben. Spätnachmittags, gegen halb sechs, war der letzte Packen aufgeladen. Das Ergebnis war hervorragend. Einen Tag vor Ostern wollten die Leute ihren Müll wegbekommen. Zumindest die Keller sollten frei sein, wenn es schon der Kopf nicht war.

Bis zur Osternachtfeier blieb wenig Zeit. Sie reichte unmöglich, um eine Osterpredigt vorzubereiten. Nachdem ich mich geduscht hatte, überflog ich die Osternachtliturgie. Mein Pfarrer hatte mir den Entwurf bereits am Palmsonntag in den Briefkasten geworfen. Ich wollte wenigstens wissen, wann ich liturgisch an der Reihe war. Sonst hätte ich vielleicht nach dem anstrengenden Tag meinen Einsatz verschlafen. Als ich dann nach der Feier am Osterfeuer stand, fielen mir fast die Augen zu. Meine „Frohe Ostern“ klangen lahm und ohne Freude. Endlich, nach Mitternacht, saß ich am Schreibtisch. Morgen früh musste ich im Osterhochamt predigen, koste es, was es wolle. In den Prüfungen an der Universität wusste ich viel über Ostern, aber in jener Nacht am Schreibtisch rührte sich nichts. In meinem Hirn herrschte Totenstarre. Kein Stein wurde weggewälzt. Alles blieb verschlossen. Als mein Kopf schwer auf den Schreibtisch fiel, schreckte ich auf. Zwei Uhr und 45 Minuten, noch kein Wort auf dem Papier, das nächstes Jahr vielleicht auch auf dem Anhänger landen wird. Ich musste Worte und Sätze erwecken, damit meine Hörerschaft zum Leben erweckt wurde – so überheblich dachte ich noch in jener Nacht. Da mich persönlich kein Tod belagerte, fehlte mir auch die Hoffnung zum Leben. So verfehlt jede Predigt ihr Ziel.

Irgendwann tauchten die ersten Worte auf. Bis heute erschreckt mich der Stichwortzettel meiner damaligen Osterpredigt. Nur handgeschriebenes Gekritzel! Ohne Struktur und Übersichtlichkeit verkam Ostern auf diesem Schmierpapier zu hoffnungslosen Schriftzeichen. Es wundert mich, dass ich dieses Blättchen bis heute verwahrt habe. Wenn ich ehrlich wäre, gehörte es in das Altpapier. Gerade kann ich die Stichworte: endgültig, absolut, glücklich entziffern. Dabei vermitteln bloße Steigerungen keine Wahrheit. Superlative wirken wie Floskeln. Wie wenig achtete ich meine Hörerinnen und Hörer! Ein paar sprachliche Taschenspielertricks, die Fragen und Zweifel umgehend. Am Ende meines ersten Osterfestes wusste ich: Mit Aufstehen, dem Aufstand zum Leben und für das Leben hatte meine erste Osterpredigt wenig zu tun. Damals erst begann meine Geschichte mit Ostern, die ich in Kindertagen und in Studienzeiten verschlafen hatte.

Aufstehen

„Er beugte sich vor und sah die Leinenbinden liegen, ging aber nicht hinein.“ (Joh 20,5)

Schauen Sie sich im Fernsehen Boxkämpfe an? Plötzlich ein fester Schlag mit der rechten Faust, der Getroffene fällt zu Boden. Der Ringrichter eilt herzu und zählt. Aber er kommt nur bis acht. Der Getroffene wird nicht ausgezählt. Er steht mühevoll wieder auf und kämpft weiter. Ob er so reaktionsfähig ist wie vor dem Schlag, das bleibt die Frage. Ist das die Auferstehung eines Boxers?

Ihr Kind liegt mit einer schweren Grippe danieder. Wann es aufstehen darf, entscheidet der Arzt. Nach drei Tagen spielt es wieder wie vorher. Ist das Auferstehung?

Unsere Sprache vergleicht die Auferstehung Jesu mit dem Aufstehen eines Boxers oder eines Kranken. Sie versteht vieles unter dem Begriff „aufstehen“ und mengt es zusammen. Von daher ist für unsere Ohren Auferstehung missverständlich. Unser Osterbekenntnis klebt an dem einen Wort: aufstehen. Umgangssprachlich meint aufstehen den Übergang von einer liegenden zu einer stehenden Haltung. Der Mensch, der sich stellt, steht auf.

Zu einfach für Ostern. Das Aufstehen eines Boxers und die Auferstehung Jesu Christi sind zwei grundverschiedene Ereignisse, die unsere Sprache jeweils anders benennen müsste. Es reicht nicht, eine Silbe wegzulassen. Das Neue Testament versucht es mit anderen Begriffen. Es spricht von Erhöhung, Herrlichkeit und Verwandlung. In der deutschen Sprache haben die Begriffe nicht gezogen. Es bleibt dabei, dass Ostern das Fest der Auferstehung Jesu Christi ist. Damit weckt unsere Muttersprache die häufigste Fantasie: Ein Mensch, der in einem dreitägigen Todesschlaf geruht hat, ist aufgestanden, um in das normale Leben zurückzukehren. So außergewöhnlich dies wäre, es lohnte sich nicht, dafür Ostern zu feiern. Da die menschliche Ordnung bzw. Unordnung nicht durchbrochen worden wäre, hätte sich nichts Wesentliches ereignet. Der wieder aufgestandene Christus hätte ein zweites Mal sterben müssen. Und der zweite Tod wäre endgültig gewesen. Nichts hätte sich geändert, damit nachfolgende Generationen Hoffnung schöpfen könnten.

Das Wort „Auferstehung“ muss im Zusammenhang mit Jesus Christus tiefer ausgelotet werden. Die Auferstehung Jesu muss mit Endgültigkeit zu tun haben. Sie ist ein Ereignis, das unumkehrbar ist und bis in Ewigkeit Geltung besitzt. Was zu Ostern geschieht, muss im Zusammenhang mit dem wahren menschlichen Leben stehen, mit dem Leben, das seine Bezeichnung verdient. Es ist ein Leben, dessen Glück keine Grenzen kennt: ein endgültiges, absolutes, ewiges Leben!

Gott ruft den Menschen in dieses Leben. Er wird selbst in der Auferstehung Jesu Christi initiativ, um den Menschen Jesus, seinen Sohn Christus, vor dem Tod zu retten. Ostern, Auferstehung bedeutet: Gott wird uns in ein neues, endgültiges, glückliches Leben berufen. Ich weiß, dass in dieser Rede eine Gefahr besteht. Ein altes Schlagwort wird durch ein neues ersetzt. Dennoch ist mir das neue lieber, weil es mich nicht an Boxring und Krankenbett denken lässt. Nach so einem Leben sehne ich mich. Deshalb habe ich mir klargemacht, was hinter dem Wort „Auferstehung“ steckt. Ja, es ist in dem einen Satz alles gesagt, was ich sagen kann.

Jesus ist auferstanden.

Liebevolles Ostern

Ich spürte es, ich war angekommen. In meinem ersten Jahr in der Jugendarbeit gelang es mir, bei den Jugendlichen die notwendige Annahme zu finden. Wie jeder Mensch brauche ich sie. Wie das tägliche Brot. Für mich war es wichtig, zum ersten Mal ohne meinen Vorgänger zitiert zu werden. Einmal nicht zu hören, wie Kaplan Müller es gemacht hatte! Obwohl ich nichts gegen Müller hatte, belastete mich der eine, immer wiederholte Satz: „Kaplan Müller hat es aber so gemacht.“

Jetzt endlich konnte ich machen, was ich für sinnvoll hielt. Beruhigt lehnte ich mich zurück und beobachtete die Mädchen und Jungen. In der Disco gab es viel zu beobachten. Nicht dass die Aufsicht über Bier oder Schnaps ein Problem gewesen wäre, es knüpften sich erste zarte Bande an. Ich wurde zum Zeugen. Bei meinem Vorgänger waren diese Jugendlichen zu jung, um ihre erwachten Gefühle auszuleben. Es entstand ein Beziehungsnetz, in dem es alte und neue Knoten gab. Wer tanzte mit wem? Und wie lange? Wer verschwand mit wem und zu welcher Zeit? Wer trank was mit wem? Als Außenstehender sah ich, registrierte ich und schwieg. Kirchliche Jugendarbeit gewährte damals Einblicke in die Jugendseelen. Die Jungen testeten „ihren Marktwert“, wie es mir einmal eine besorgte Mutter sagte.

Carla, 15 Jahre und ein paar Monate alt, war geeignet, sich selbst zu testen. Sie war spritzig und immer in Bewegung. Franz, der Intellektuelle, der keineswegs so schüchtern war, wie er aussah, erprobte sich und war „hinter ihr her“. Immerhin ging sie kein einziges Mal alleine an die Bar, um sich ihre Cola zu holen. Die eher stille Katharina mit den wachen Augen stand hinter der Theke und Markus ließ sie keine Minute unbeobachtet. Im Gegensatz zu Katharina konnte trotz lauter Musik jeder sofort hören, wo sich Markus gerade aufhielt. Kein Ohr konnte sich vor seiner dröhnenden Stimme schützen. Deshalb war sein Standort immer navigationssicher. Mehrmals holte er sich einen feuchten Putzlappen, um angeblich die schmutzigen Tische zu säubern. Beim wilden Scheuern rutschte manchmal seine Hand aus und wie von selbst berührte sie Katharinas Arm. Dabei waren die Tische gar nicht so schmutzig. Katharina und Markus gehörten schon im Vorbereitungsteam zusammen. Sophia und Luca hockten an der Kasse. Dort saßen sie genau richtig, um sich immer anzublinzeln. Denn Sophia stellte ihr lockiges, fülliges Haar zur Schau, das der blonde Luca offenkundig anstarrte. Ansonsten war er ein Fußballspieler, der seine Kraft auf dem Platz abtrainieren musste. Unter den Besucherinnen und Besuchern stellten sich Charlotte und Christian abseits, aber eng zusammen. Charlotte war ein pfiffiges Mädchen, das den hageren Christian aus der Reserve lockte, vorsichtig und immer ein wenig näher. Sie tasteten sich heran, Mädchen zu Junge und Junge zu Mädchen.

Ich selbst musste aufpassen, nicht in den Sog der Atmosphäre hineinzugeraten. Immerhin war ich erst 27 Jahre alt, also im richtigen Alter, um mein Alleinsein zu hinterfragen. Die Studentinnen aus der alten Jugendgruppe hatten ihren Reiz. Sie schauten oft am Wochenende in ihrer alten Pfarre vorbei. Zwar war der Zölibat versprochen und auf einer Urkunde feierlich unterschrieben, aber bekanntlich macht Gelegenheit Liebe. Für mich galt genau wie für die Jugendlichen „All you need is love“.

Obwohl im ersten Jahr keine richtigen Liebesgeschichten begannen, ahnte ich die Sehnsucht der jungen Menschen. Ihrer ersten Freundschaft wollten sie Ewigkeit verleihen. Sie stellten sich vor, dass ihr reizendes Spiel niemals beendet sein könnte. Ein unbedenklicher Hauch von Ewigkeit umwehte die Beziehungen. Den Jugendlichen dämmerte nicht, was Alter war. Treue und Verlässlichkeit waren die Worte, die ihre erste Verliebtheit immer im Schlepptau hatte. Österliches lag in der Luft. Vielleicht drängte sich deshalb die Liebe als Thema für die Osterpredigt auf. Das Evangelium des Ostersonntags liegt auf der Linie. Der Jünger, den Jesus liebte, lief zum Grab. Wie gut hätte ich ihn einbringen können! Aber ich lief vorbei. Vielleicht war ich zu sehr mit meinen Sehnsüchten beschäftigt. Meine zweite Osterpredigt blieb wieder bibelfrei. Ihr Jesusbezug wirkte wie ein Feigenblatt.

Auf jeden Fall habe ich später drei Paare aus der Jugendarbeit getraut. Sie sind bis heute zusammen. Ihre Osterliebe hat gehalten.

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