Gottesflüsterer

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Gottesflüsterer
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ALBERT DAMBLON

Gottesflüsterer

Annäherungen

an ein Geheimnis

ALBERT DAMBLON

Gottesflüsterer

Annäherungen

an ein Geheimnis


Gott ist im tiefsten unmodern.

(Robert Musil)

Inhalt

Auftakt

Kriegsfolgen

Das große Ja

Der tröstende Gott

Verlassenes Kind

Gottesgeschichten

Trotz allem

Der geschlagene Kannitverstan

Die Strafe folgt auf dem Fuß?

Eine Liebesgeschichte

Mit kindlicher Allmacht

Der leise Gott

Der ehrfurchtsvolle Schrecken

Zwei Ratzinger als Stoßdämpfer

Die Ewigkeitsversicherung

Das Angesicht

Hoch oben

Der Name des Schafes

Der gute Hirt

Tanz und Leben

Die Sehnsucht, Gott zu sehen

Der Schrei

Der fernnahe Gott

Der geduldete Halbmond

Gott ist da

Der eine und einzige Gott

Anfang und Ende

Fußwaschung in der Raststätte

Wer betet, erkennt Gott

Gebetsbedingungen

Quengelndes Gebet

An der Küste

Gottes Tiefschlaf

Der offene Himmel

Gottes Wohnung

Der andere Tempel Gottes

Mystik

Falsche Gleichung

Gottes Mathematik

Unterschiedliche Gottesbilder

Ein weiteres Gottesbild

Gnaden-Ort

Überfließende Barmherzigkeit

Am Gnadentropf Gottes

Gottes Markt

Bekenntnis

Meine Lebenswahrheit

Antwort auf die große Frage

Das vorweihnachtliche Geschenk

Weihnachten und Gott

Gott und Kind

Alles ist Geschenk

Nachklang

Quellenverzeichnis

Auftakt

Schon seit Wochen quälte mich die Hüfte. Dieses Mal versagte die Spritzkunst meines Orthopäden und die Schmerzen hielten mich fest im Griff. „Wir röntgen einmal. Besser ist besser.“ Nachdem ich aus der Strahlenkammer entlassen war, präsentierte er mir das Ergebnis. Sein Medizinerlächeln war verflogen. „Ja, die Aufnahme zeigt am Oberschenkelknochen eine Verdickung. Da sitzt etwas, das dort nicht hingehört.“ Der Arzt hielt die Aufnahme gegen das kalte Neonlicht. „Sehen Sie es auch?“ Er half mit seinem Stift nach, um mir die Konturen einer Ausbuchtung zu zeigen. Wie ein Kropf hatte sich am Knochen etwas Unbestimmtes festgekrallt. „Auf keinen Fall gehört es hier hin. Es kann alles Mögliche sein. Eine Ablagerung. Kalk. Ein altes Hämatom. Ich weiß es nicht. Dafür ist eine Röntgenaufnahme zu ungenau.“ Er hatte das durchsichtige Bild noch in seinen Händen. „Ich schicke Sie in eine radiologische Praxis. Knochenkrebs wollen wir auf jeden Fall ausschließen.“

Das für mich entscheidende Wort war gefallen. Knochenkrebs. Mich beschäftigte nur noch das Röntgenbild, auf dem ich jetzt deutlich einen Tumor sah. „Also, ich schicke Sie zum Kollegen Dr. Kranz. Er macht ein CT des Oberschenkels. Danach wissen wir exakt, um was es sich handelt.“ Im Moment wollte ich es gar nicht wissen. Mir gingen Menschen durch den Kopf, die ich seelsorgerisch betreut hatte und die qualvoll an Krebs gestorben waren. Brustkrebs, Hautkrebs, Darmkrebs, Magenkrebs, Prostatakrebs und Knochenkrebs, ich zählte innerlich die Krebsarten auf. Noch in der Praxis malte ich mir aus, wie es mir ergehen würde. Der Doktor munterte mich auf, aber ich überhörte ihn. „Es wird alles ganz harmlos sein. Sie hatten doch früher mit Kalkablagerungen zu tun.“

Auf dem Nachhauseweg kam dem Priester Gott in den Sinn. Auf der Straße, mitten im lebhaften Verkehr, schlich er sich wie von selbst an mein Ohr. Wie oft hatte ich die Gottesfrage an Krankenbetten gehört. Wie bedenkenlos hatte ich geantwortet. Jetzt stand ich selbst einen Schritt vor dem Abgrund, obwohl es nur ein Zebrastreifen war, den ich überqueren musste. Innerlich redete ich mir zu. „Du bist 47 Jahre alt.“ Besser hätte ich gefragt, weshalb lässt er dann Jüngere sterben? Gott lässt sterben, Gott lässt qualvoll sterben, Gott berücksichtigt kein Alter. Für ihn gibt es kein Warum. Was bilde ich mir ein, von ihm besonders beschützt zu sein.

Ein paar Wochen später lag ich beim Radiologen in der Röhre. Der enge Schlund machte mich nervös. Lebensangst schlug in Platzangst um. Den Bericht erhielt ich ein paar Tage später. „CT-morphologisch handelt es sich unter Berücksichtigung der bisherigen mikrobiologischen und zytologischen Ergebnisse um ein altes, abgekapseltes und am Rande verkalktes Serom.“ Die Auskunft im alten Gesundheitsbuch war eindeutig. „Serom: Wundflüssigkeit bildet eine Ausbuchtung und schließt sich ab.“ Der Radiologe punktierte sofort den lästigen Zuwachs und versprach mir, dass die Schmerzen innerhalb von Stunden verschwinden würden.

 

Auf dem Weg nach Hause lief es sich bedeutend leichter und schneller als vor Wochen. Das Leben auf der Straße machte Spaß, und ich genoss es, den Zebrastreifen aufmerksam zu überqueren. Den Oberschenkel spürte ich schon nicht mehr. Irgendwie fing mein Leben wieder an. In drei Jahren würde ich meinen 50. Geburtstag feiern. Gott hatte ich verdrängt. Dabei durfte ich ihn nicht so einfach davonkommen lassen. Heute hatte ich gewonnen, aber wie werde ich reagieren, wenn ein Arztbericht anders schließen wird: „Die CT-Aufnahme und die zytologische Untersuchung ergaben einen schnell wachsenden Tumor. Sofortige operative Entfernung ist angezeigt.“ Eine solche Diagnose steht mir noch bevor. Während ich damals nach Hause hüpfte, schlichen andere Patienten tieftraurig von dannen. Ihnen galt das, was ich befürchtet hatte. In ihrem Interesse muss die Frage nach Gott wachgehalten werden. Vielleicht hätte ich sie anders stellen müssen. „Warum hat Gott mich jetzt verschont und die anderen ans Messer geliefert? Warum bin ich noch einmal davongekommen?“

Letztlich sind es die Fragen, die ich in meinem Beruf zu beantworten habe. Zumindest sind sie mir vertraut, obwohl alle meine Antworten bisher Versuche blieben. Als Prediger gehe ich sonntäglich mit Gott um, und ich tue so, als ob er mir vertraut wäre. Dabei bleiben die offenen Fragen: Wer ist überhaupt Gott, wie ist Gott und wo ist Gott? Was finde ich über ihn in der Bibel? Was erzählt Jesus von Gott? Jeder Schritt zum Ambo vermehrt die Fragen, deren Bearbeitung für einen Theologen Pflicht ist. Schließlich sollte die Theologie eine Antwort auf die Gottesfrage versuchen. Als ich die Stichwortzettel meiner gehaltenen Predigten auf das Thema ‚Gott‘ hin durchlas, fielen mir Lebensgeschichten ein. In ihnen passierte nichts Außergewöhnliches, mein Alltag verlief in normalen Bahnen. Trotzdem kamen sie mir in den Sinn, und ich bin davon überzeugt, dass sie mit Gott zu tun haben, ohne ihn ausdrücklich zu benennen. Die Predigten will ich aufschreiben, die Geschichten erzählen und die Bibel sprechen lassen, damit meine Beschäftigung mit Gott nachhaltig wird und ich mich gegen Ende meines Lebens nicht selbst vergöttern muss. Ich gebe zu, mein Gottesbild ist einseitig, aber welches Gottesbild ist das nicht. Gestrenge Dogmatik wird viele Aspekte vermissen. Bei mir hat es gereicht, um ein wenig zu glauben und zu hoffen.

Kriegsfolgen

Der Krieg war noch nicht lange vorbei. Vielleicht lag er zehn, elf oder zwölf Jahre zurück. Ich war acht, neun oder zehn Jahre alt. Meine Mutter hatte einen Wunsch. Sie wollte unbedingt einmal nach Malmedy. Als Aachener hatte ich den Namen der belgischen Kleinstadt öfters gehört. Sie liegt jenseits des Hohen Venns. Dort sprechen die meisten Einwohner Französisch, nur wenige Deutsch. Von daher galt das Städtchen für mich als Ausland. In Malmedy waren der Krieg und die Grausamkeit der deutschen Besatzung unvergessen, und uns Deutschen fehlte dort nicht nur die Sprache, mit Vergebung konnten wir genauso wenig rechnen. Nachbarschaftlichen Respekt hatte Deutschland schon zu Kriegsbeginn verloren.

In der Stadt angekommen, suchte meine Mutter sofort eine bestimmte Adresse. Wie sie daran gekommen war, wusste ich nicht. Viele Straßen gab es im Zentrum nicht. Auf jeden Fall hing der Wunsch meiner Mutter nicht an der Stadt, sondern an der Straße und einer bestimmten Hausnummer. Sie musste gefunden werden. Vorher wollte sie nicht zurückfahren. Stotternd fragte sie sich durch und fand ihr Ziel, die rue la vaulx, eher eine Gasse, die von geduckten, schmalen Häusern gesäumt wurde. Mit zwei Stockwerken und manchmal mit einer Dachgaube zwängte sich ein Haus an das andere. Ohne Frage, sie waren in Ordnung und wirkten durch eine Schieferabdeckung sauber. Langsam zählte meine Mutter die Hausnummern ab. Dichte Gardinen und trübe, ungeputzte Scheiben verhinderten den Blick in das Wohnzimmer. Plötzlich blieb meine Mutter vor einem Häuschen stehen. Sie hatte auf dem Klingelschild einen Namen gelesen: „Hier ist es.“ „Was ist hier?“, fragte ich naiv. „Hier wohnt Eugen!“ „Du meinst, hier war Eugen zu Hause?“, ergänzte mein Vater. „Genau!“ Ich hörte nur Eugen. Ihn kannte ich nicht. Zu Hause war nie von ihm gesprochen worden. Ein Nachname fiel nicht. Ob Eugens Eltern noch leben, überlegte meine Mutter, ohne den Klingelknopf zu drücken. Mein Vater und ich standen mitten auf der Straße und beobachteten die Szene. Hinter den Tüllgardinen schien sich nichts zu rühren. Die schweren Vorhänge hingen ruhig, und Gummibäume rankten sich hoch. Alles blieb still. „Es scheint keiner zu Hause zu sein“, meinte mein Vater. „Ich wollte sowieso nicht klingeln.“ Ich verstand Mutter nicht. Zuerst wollte sie unbedingt nach Malmedy, dann fand sie, was sie suchte. Aber das reichte ihr.

Jahrzehnte später stöberte ich im Fotoalbum meiner Mutter. Sie hatte es mir überlassen in der Hoffnung, dass ich die Schwarz-Weiß-Bilder einmal sortieren würde. Es gab viel zu entdecken, spannend jedoch wurde es, als mir ein Bild auffiel, auf dessen Rückseite mit Bleistift der Name „Eugen“ gekritzelt war. Der Eugen meiner Kindheitserinnerung? Ich wurde neugierig. Das Foto zeigte einen jungen Mann in Uniform, die ich von belgischen Zöllnern an der Grenze kannte. Vermutlich hatte man Eugen während seines Dienstes in der belgischen Armee fotografiert. Seine Spuren hatte sie damals in Malmedy gesucht. Jugendlich stolz hat er das rechte Bein vorgestreckt, mit dem linken steht er auf festem Grund. Sein Blick wandert in den Himmel, ohne sich darin zu verlieren. Die typische Schirmmütze spendet seinen Augen Schatten. Der junge Mann weiß, was er will. Für sein Vaterland Belgien hatte er zu kämpfen. Seine Geschichte ist weitergegangen, so wie die Weltgeschichte weitergegangen ist. Ein, zwei oder drei Jahre nach dem Foto brach der Zweite Weltkrieg aus. Belgien wurde von der deutschen Wehrmacht überrollt.

Ein paar Fotos weiter entdeckte ich eine junge Frau im Arm eines Soldaten. Es war meine Mutter, die zu Beginn des Krieges 19 Jahre alt war. Sie strahlte ihren Partner an. Mir schien, dass sie glücklich war. Das Liebespaar wollte im Moment seines Glücks den Krieg vergessen. Von Bombern und Panzern sah man nichts. Krieg war tatsächlich irgendwo anders. Ich hatte den deutschen Soldaten im Album doch schon gesehen. War es nicht der Belgier Eugen, jetzt in deutscher Uniform? Auf die Rückseite hatte meine Mutter mit Bleistift aufgeschrieben: „Mein Verlobter Eugen“. Also hatte sich meine Mutter im Krieg verlobt. Aber ihr Verlobter war nicht mein Vater, sondern Eugen. Eugen aus Malmedy. Sein Andenken hatte meine Mutter gesucht. Vor dem Krieg gehörte seine Heimatstadt zu Belgien. Deshalb wurde er selbstverständlich dort zum Wehrdienst eingezogen. Das erste Foto zeigte den belgischen Soldaten. Im Krieg annektierte Nazideutschland Belgien. Plötzlich wurden alle deutschsprachigen Belgier zu Reichsdeutschen. Nun hatten die jungen Männer für Deutschland zu kämpfen. Aus dem belgischen Soldaten Eugen wurde ein deutscher Unteroffizier. Er siegte, verlor und starb für ein Vaterland der Feinde. Welcher Friedhof war für ihn zuständig? Die Belgier mochten keine deutsche Leiche, und auf deutsche Erde gehörten keine toten Belgier.

„Hierhin wäre Eugen zurückgekehrt“, flüsterte meine Mutter vor einer engen Holztür in Malmedy. „Er wollte unbedingt wieder nach Hause.“ „Wer weiß, ob er als deutscher Soldat nach Belgien zurückgedurft hätte“, meinte mein Vater. Dann hörte ich das entscheidende Wort. „Ja, Eugen ist gefallen.“ Als Kind wusste ich nicht, was gefallen hieß. Ich war oft gefallen, aber bis auf ein offenes Knie und ein paar Schürfwunden an den Armen blieb nichts zurück. Eugen, das ahnte ich, war nicht wieder aufgestanden, um sich das Knie zu verbinden. Er war liegen geblieben, verreckt, tot. Gestorben ist ein falsches Wort, um diesen Tod zu beschreiben. Gerne hätte er weitergelebt in seinem Heimatstädtchen Malmedy, in dem winzigen Haus seiner Eltern. Und dann hätte er geheiratet. Ob meine Mutter daran dachte? Doch was interessierte den Krieg, ob ein Belgier oder ein Deutscher starb. Der Wahnsinnigste aller Diebe nahm keine Rücksicht. Auch an den Wünschen von Verlobten ging er vorbei. „Eugen ist gefallen“, wiederholte meine Mutter. Welche Gefühle sie bewegten, ahnte ich nicht. Dafür war ich zu jung. Schluchzte sie um ein verlorengegangenes Leben? War sie dankbar für ein anderes, neues Leben?

Ohne den Verlobten Eugen ist ihre Geschichte anders verlaufen. 1946 heiratete sie meinen Vater, 1947 wurde ich geboren. Es begann meine Geschichte.

Das große Ja

Gott aber, der voll Erbarmen ist, hat uns, die wir infolge unserer Sünden tot waren, in seiner großen Liebe, mit der er uns geliebt hat, zusammen mit Christus wieder lebendig gemacht. Aus Gnade seid ihr gerettet. Er hat uns mit Christus Jesus auferweckt und uns zusammen mit ihm einen Platz im Himmel gegeben. Dadurch, dass er in Christus Jesus gütig an uns handelte, wollte er den kommenden Zeiten den überfließenden Reichtum seiner Gnade zeigen. Denn aus Gnade seid ihr durch den Glauben gerettet, nicht aus eigener Kraft – Gott hat es geschenkt (Eph 2,4–8).

Unsere Pfarrkirche ist eine Hochzeitskirche. Inzwischen habe ich mich an die aufwendigen Feiern gewöhnt, und mit dem häufig gesungenen Ave Maria kann ich leben.

Ein Moment packt mich jedes Mal. Wahrscheinlich werde ich mich nie daran gewöhnen. Ich zucke zusammen, sobald sich die Brautleute ihr Trauversprechen geben. Diese Zusage lässt mich verstummen. Zwei junge Menschen schauen sich in die Augen, sie sprechen sich an und behaupten: „Ich nehme dich an und verspreche dir die Treue in guten und in schlechten Tagen, in Gesundheit und Krankheit. Ich will dich lieben, achten und ehren, solange ich lebe.“ Egal, was kommen wird, ich bleibe bei dir. Egal, was kommen wird, ich werde dich mögen. Egal, was kommen wird, ich werde zu dir halten. Keiner der beiden weiß, was kommen wird. Die gemeinsame Zukunft ist offen. 30, 40 und 50 Jahre können lang und schwer werden. Trotzdem versprechen sich die beiden die Treue, und sie meinen es ernst, sonst wären sie nicht in die Kirche gekommen. Denn es gibt heute andere Möglichkeiten, zusammenzuleben, ohne sich ausdrücklich die Treue versprechen zu müssen, und gleichzeitig erleben die Hochzeitspaare, wie in ihrer Umgebung Ehen geschieden werden. Aus diesen Gründen beeindruckt mich jedes Trauversprechen.

Dennoch vermute ich, dass jeder Mensch feste Zusagen für sein Leben braucht. Er ist auf das Ja anderer angewiesen. Deswegen nehmen Vater und Mutter ihre Kinder in den Arm, um ihnen zu zeigen: Ja, du bist gewollt, wir sind froh, dass du da bist, wir mögen dich. Oma und Opa machen es genauso. Ohne Anerkennung und ohne Zusage eines anderen erkrankt der Mensch. Die Seele spielt verrückt, und sie steckt den Körper an. Der Mensch geht buchstäblich ein ohne das Ja anderer Menschen.

Nach alter Lehre ist das Versprechen der Eheleute ein Bild für die unverbrüchliche Zusage Gottes zum Menschen. Für ihn ist der Mensch kein Zufallsprodukt der Natur oder der Geschichte, auch wenn es für uns manchmal so aussieht. Er ist von ihm gewollt und bejaht. Zwar kennt er mich durch und durch und könnte nein zu mir sagen, aber er verspricht mir trotzdem sein Ja, gleichgültig, was passiert. Sein Versprechen hält er, und er wird mir niemals untreu. Ich brauche diesen Gott, der mich absolut bejaht und mein ganzes Leben trägt.

Martin Walser schreibt: „Wenn ich von einem Atheisten, und sei es von einem ‚bekennenden‘, höre, dass es Gott nicht gebe, fällt mir ein: Aber er fehlt. Mir.“ Ja, er würde mir fehlen. Gott würde den Menschen fehlen. Sein Ja braucht der Mensch. Gott sagt mir zu: Du bist mein geliebtes Kind. Ich verspreche dir die Treue, in guten und in schlechten Tagen, in Gesundheit und Krankheit. Ich will dich lieben, achten und ehren in Ewigkeit. Sein Versprechen gilt nicht nur heute und morgen, Gott bejaht mich bis in die Ewigkeit.

Der tröstende Gott

Freut euch mit Jerusalem!

Jubelt in der Stadt, alle, die ihr sie liebt. Seid fröhlich mit ihr, alle, die ihr über sie traurig wart. Saugt euch satt an ihrer tröstenden Brust, trinkt und labt euch an ihrem mütterlichen Reichtum! … Wie eine Mutter ihren Sohn tröstet, so tröste ich euch; in Jerusalem findet ihr Trost (Jes 66,10 f und 13).

 

An einem Sonntag half ich in einem Eifeldorf aus. Nach der Messe bedankte sich ein Mann bei mir. Sonntag für Sonntag ginge er in die Kirche. Aber in der Predigt würde er immer nur ausgeschimpft. Er sei nie getröstet nach Hause gegangen. Seit dem Gespräch habe ich gelernt, dass Menschen im Gottesdienst Trost erwarten. Deshalb versuche ich, in meinen Gottesdiensten Trost zu spenden.

Der Gott der Bibel ist oft ein tröstender Gott. Er hat ein Herz für die trostlosen, einsamen Menschen. Wie eine Mutter ihren Sohn tröstet, so tröstet Gott die Menschenkinder. Er schenkt ihnen sogar einen Ort des Trostes. Seine himmlische Stadt Jerusalem ist keine autoritäre Vaterstadt. Als Mutter bietet sie trostbedürftigen Menschen ihre Brust an. Daran können sie sich sattsaugen. Die Muttermilch Jerusalems ist ein unübertroffener Trost.

Wir finden Zugang zu dem tröstenden Gott über unsere Muttersprache. In ihr sind Trost und Treue miteinander verwandt. Gott wird zum Tröster, weil er den Menschen treu ist. Wer also Trost sucht, liegt bei ihm richtig. Treu steht er zu seinem Versprechen. Jeder Gottesdienst feiert den getreuen Gott, damit die Menschen von ihm getröstet werden.

Trost ist nichts Spektakuläres. Er macht keine Toten lebendig und heilt keine Krankheit. Das Karzinom überwuchert den Trost. Getröstet jedoch lebt der Kranke weiter und kann den Kampf gegen Krebs und Tod aufnehmen. Getröstete Menschen wissen, was tröstet:

–„die Tränen des Arztes, als er von meiner sterbenden Tochter Abschied nahm“;

–„meine Tochter, als sie etwa mit vier Jahren nach der Scheidung von meinem Mann mit ihrem Hamster spielte. Sie kam zu mir und sagte: ‚Mutti, du brauchst nicht mehr zu weinen, mein Hamster weint auch nicht mehr‘“;

–„wie ein Freund mich herzlich und fest in die Arme genommen hat“;

–„die Anteilnahme von Türken beim Anblick meines behinderten Sohnes“.

Menschen, die trösten, vermitteln Gottes Trost. Ihre Anteilnahme verweist über das eigene Handeln hinaus. Auch einfache Worte und Zeichen im Gottesdienst können trösten. Eine Lesung aus der Heiligen Schrift öffnet das Herz. Oder es ist die Hand, die der Banknachbar zum Friedensgruß reicht, oder das Brot, das am Altar geteilt wird. Tröstlich ist es, am Schluss des Gottesdienstes gesegnet zu werden und dann nach Hause zu gehen. Trösten wir im Namen Gottes die nicht getrösteten Menschen.