Erzähl mir von Ladakh

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Erzähl mir von Ladakh
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Inhalt

Cover

Titel

Widmung

10500 m – Ohne Umschweife offenbarte sich mir Delhi

216 m – er Kaschmir sei unbestritten die schönste Gegend

218 m – Wiederum aus der Kategorie

1800 m – Im Deluxe-Bus nach Manali

2000 m – Als ich frühmorgens endlich losradelte

3900 m – Ich hätte es nicht tun sollen

3450 m – Die Straße passabwärts war total verwässert

2100 m – »Gigantische Erschütterung«

3000 m – Schotter. Gräben. Steine.

3100 m – »Ob’s Michael Jackson jetzt wohl gut geht?«

3750 m – Die ansteigende Straße war in steile Hänge gemeißelt

4890 m – Ich wurde von der Sonne geweckt.

4600 m – Der Morgen, den ich nach langer Strecke

3180 m - Der beengende Korridor der Unfallstation

5080 m – Hier! Was habe ich hier verloren?

5009 m – Weiterhin unter zermanschtem Bewusstsein

4500 m – Der Tag begann mit einem völlig übermüdeten Mädchen

4501 m – Aufregung im Gelände

3100 m – Hände ringend redete Sangmo

5360 m – Wir sattelten die Radtaschen

3500 m – Steve durchschaute meine Schliche

3900 m – Es war bereits Mittag, als ich das Dorf verließ

5020 m – Die ohnedies schon kahle Landschaft

3560 m – Es musste sich um eine Top-Adresse gehandelt haben.

3506 m – Wer sich noch nie in einen vollgepfropften Bus

3500 m – Es regnete, und der Boden wusste nicht

5000 m – Bis zum Basecamp stand uns heute

2981 m – Zwei gleichlaufende Lichtkegel stanzten sich

6125 m – Wo war der Morgentee?

5000 m (3600 m) – Ich saß auf der Dachterrasse meines Hotels

Impressum

Für Adéla, die auf mich wartete

Mit dem Fahrrad über die höchsten Pässe der Welt,

die Besteigung eines Sechstausenders –

bleibt da noch Platz für eine innere Reise?

Der Autor macht sich auf einen weiten Weg,

auf einen literarischen, über die Fiktion.

10 500 m

Ohne Umschweife offenbarte sich mir Delhi als eine einzige übelriechende Großstadtblähung – bei all der Langatmigkeit in den räumlichen Ausdehnungen nötigte einen das zu anhaltender Kurzatmigkeit. Der Gestank kursierte ohne Rücksicht auf die Tageszeit, diesbezüglich herrschte also absolute Tages- und Nachtgleiche. Halbe-halbe zudem in der Geruchszusammensetzung: einesteils der Geruch von Stadt, anderenteils der von Land. Für die Stadtluft waren die Autos verantwortlich, für die Landluft der Rest, beides zusammen ein nicht zu unterschätzender Anteil an der grellen Gewürzmischung Indien, die man nicht automatisch mögen muss. Ich mag sie sehr.

Im Taxi auf spätnächtlicher Fahrt zum Hotel. Menschen schliefen am Straßenrand und auf dem schmalen in Fahrbahnmitte befindlichen Grünstreifen, der bei näherer Betrachtung bestenfalls als Graustreifen durchging. Ihre Körpersprache war verstummt. Daran, dass sich manche hin und wieder bewegten, erkannte man, dass sie lebten. Sie hielten ihre Ellenbeugen schützend vor das Gesicht, als erwehrten sie sich der Schwüle der maroden Nacht. Hunde, die allem hinterherjagten, das laut und schnell war. Unschätzbarer Bonus für mich als Radfahrer, dachte ich. Wir erreichten das Hotel – bereits meine zweite Ankunft heute.

Da war noch die Ankunft am Flughafen. Ein stattlicher Mann unter einem Turban und in einer Uniform, die mindestens auf einen Aufseherstatus schließen ließ, fühlte sich bemüßigt, den Wert meines Fahrrades zu erfragen. Sogar schamloses Abrunden unter Verwendung leicht errechenbarer Bruchwerte ließ sein Interesse daran nicht geringer werden. Schließlich sagte ich, ich hätte nicht im Sinn, ein neues Fahrrad zu importieren, es sei ganz bestimmt alt. Das mache nichts, meinte er, und was ich hier überhaupt damit zu tun gedenke. In meiner zunehmenden Verzweiflung hatte ich mich das eben auch schon gefragt. Vorbei an Massen von Flughafenpersonal, das in seinem Nichtstun Geschäftigkeit vorzuschützen geübt schien, führte er mich zu einem abseits gelegenen Schalter, hier hätte ich das Fahrrad abzugeben. Im Gegenzug gab er seine Autorität ab, es erschien nämlich sein Vorgesetzter; dass der jetzt seinen Turban abgegeben hätte, wäre pure Fiktion, vielleicht hatte er überhaupt noch nie einen getragen. Jedenfalls war er Träger eines angeschwitzten Anzugs westlicher Provenienz und Arroganz, kaum abgemildert durch das dampfende rosa Hemd mit vergilbten Knöpfen. In der aufsteigenden Personalhierarchie waren kaum nennenswerte Fortschritte auszumachen, seine Fragen glichen denen des Turbanträgers bis aufs Hemd. Wie viel das, was ich, warum ich, und so weiter. Das durch Augenbrauen und Vollbart beschattete Gesicht blähte sich auf, drohte das gesamte Schalterareal einzunehmen – und pluff, überfallsartig stieß er die Luft aus und erschlaffte. Jetzt konnte er mich eigentlich nur mehr gehen lassen. Und genauso so passierte es.

Dann glorreicher Einzug als Radgladiator (mitnichten Radiator) in die Empfangshalle, erwartet von einer begierig lauernden Menschenanhäufung. Wie die Spinnen. Die Netze ausgeworfen, der Opfer harrend. Zum Glück entdeckte ich gleich meine persönliche Adjutanten-Spinne; sie war klein, wirkte kaum bedrohlich, hatte schlanke Arme – zum Fangen wenig geeignet –, eine harmlose Gestalt, sie erwiderte mein vorausgeschicktes Lächeln nicht, mutete dennoch bestürzend vertraut an, denn sie hatte ein Täfelchen in der Hand, und auf dem Täfelchen stand mein Name geschrieben. Sie war der vom Hotel vorbestellte Taxidriver. Selbstredend übernahm er das Pilotieren des Gepäckwagens, auf dem ich hurtig meine sechs Gepäckstücke verstaut hatte – das würde das letzte gewesen sein, was ich noch alleine machen durfte; ich zog dann nur mehr den Fahrradkarton vor mir her, was sogar für delhische Verhältnisse laut war und dementsprechend Aufsehen erregte.

Gepäck war also viel, der Fahrradkarton groß, das Spinnenauto klein, dafür war die Anzahl der Helfer – weitere Spinnen – wiederum exorbitant hoch. Und die Trinkgeldforderungen. Zuerst checkten sie meine Durchlässigkeit, dann pressten sie unverschämtes Bakschisch aus mir heraus. 15 Euro für ein Hello-hello-sir-May-I-help-you-Excuseme-sir-I’ll-take-it, für Gesagt Getan und für das Ausleben ihrer Hilfsbereitschaft. Ausnahmslos schienen die Leute hier am Helfersyndrom zu leiden. Ich trat ihnen 100 Rupien ab und dazu ein tiefgekühltes Lächeln – ganz d’accord mit Mahatma Gandhi, der das vom Geldschein herunter tat. Wobei gerade die Gandhis als Politiker letzten Endes nichts zu lachen hatten; fast schon gewohnheitsmäßig wurden ihre Regierungsphasen durch Morde beendet, als hätten sie’s den Kennedys abgeschaut. Gleichwohl fühlte sich mein Beitrag zu ein bisschen Umschichtung von Reichtum samt Pseudosolidarität mit den Armen gut an, und meinem Tiefkühllächeln ging langsam der Strom aus.

 

Die Spinne, die gar keine war, fuhr wie eine Sau, war aber auch das nicht wirklich. Es fuhrwerkten ohnedies nur Säue, die sie nicht wirklich waren, auf und neben der Fahrbahn herum. Straßen waren lediglich grobe, unverbindliche Hilfseinrichtungen zur Verkehrsbewältigung. Ob ich schon gehört hätte, dass Michael Jackson tot sei. Hätte ich.

Das vorbestellte Hotel Ringo war eine einfache Absteige, begehrt bei kommunikativen Backpackern und Reisenden mit erhöhtem Informationsbedarf. Im ersten Augenblick erweckte es wegen der am Eingang herumlungernden Hunde den Eindruck eines Schuppens für ausgediente Haustiere auf Gnadenbrot. Im zweiten Augenblick, als ich das Zimmer bezog, auch. Löchrige Moskitonetze verhängten die Fenster, ein Bett mit durchhängender Matratze, ein Tisch, ein Sessel. Eine Klimaanlage. Bei 38 Grad mitten in der Nacht ein Segen, wenn nur nicht andauernd Dinge, die gleich leicht oder leichter als Papierzettel waren, durch das Hotelzimmer gewirbelt wären. Ständig musste man irgendwas suchen, das gleich schwer oder schwerer als Papierzettel war, um diese Gegenstände zu beschweren. Sogar das Kartenlesen gestaltete sich etwas mühsam, so sehr Straßen und Wege, Flüsse, Erhebungen, Vertiefungen und ganze Gebirgsketten in Form von bunten Linien, Farbflächen und Schattierungen in meinem Zimmerchen umherflatterten wie nichts. Mein schweißdurchtränktes Gewand wiederum trocknete im Gebläse ganz formidabel.

216 m

Der Kaschmir sei unbestritten die schönste Gegend der Welt, und warum ich nicht dorthin wolle, fragte mich Samir. Samir reimt sich nicht zufällig auf Kaschmir. Es sei das am dichtesten von Muslimen besiedelte Indien, überhaupt nicht mehr gefährlich, die Kämpfe in den Grenzregionen zwischen Pakistan und Indien seien längst zum Erliegen gekommen. Die Anwesenheit von Zehntausenden indischen Soldaten mache das Gebiet zu einem der sichersten der Welt. – Das hatte Logik, indes, hochgerechnet auf die Straßenkilometer ergab das alle paar Meter einen bis an den Turban bewaffneten Soldaten, das war mir der Sicherheit denn doch zu viel und nahm mir womöglich auch noch die Aussicht. Außerdem war vor einiger Zeit von sporadisch aufflackernden Kämpfen zwischen muslimischen Rebellen und der indischen Armee zu hören.

Indien und Pakistan lieferten sich seit 1947, dem Jahr der Unabhängigkeit Indiens, immer wieder ein kriegerisches Zereißspiel um Ladakh, bis schließlich 2002, als sich eine Million Soldaten an der pakistanisch-indischen Grenze gegenüberstanden, beinahe ein Atomkrieg daraus wurde. Gekämpft wurde in den Bergen bis über 5 000 Meter Höhe; niemand wusste, ob Gewehrkugeln in diesen Höhen noch so wollten, wie es ihre Schützen angedacht hatten, und vielleicht fand der Konflikt ja deswegen kein Ende.

Samir könne einen Flug dorthin reservieren, mein bereits gekauftes Rückflugticket von Leh, dem Endziel meiner geplanten Radreise, nach Delhi sei problemlos umzubuchen. Ob ich das wolle? Nein, das wolle ich nicht. Leh sei aber gar nicht so schön, alles voller Touristen und Buddhisten. – Diese beiden Gruppierungen gemeinsam in einen Nebensatz gepfropft erschien mir kurz bemerkenswert. Anschließend an meine Rückkehr in Delhi könne er mir eine Reise zum Taj Mahal organisieren, dem selbstredend prachtvollsten Bauwerk Indiens, jenem islamischen Mausoleum, welches ein Mogul für seine Frau erbauen ließ – die mit Abstand schönste Tour von hier aus. Ich war verunsichert, ob ich Samir noch alles glauben konnte. Samir war Muslim. Wenigstens das konnte ich ihm glauben, er trug eine mit Stickereien verzierte, islamische Gebetsmütze als Ausweis. Und er war eine Ausgeburt an Freundlichkeit. Aber der erste vertrauenswürdige Eindruck, den er auf mich gemacht hatte, verwelkte schön langsam wie ein Blatt in einem Kranz aus Vorschusslorbeeren.

Darüber hinaus wollte er mir alles ab dem Zeitpunkt meiner Rückankunft in Delhi organisieren. Ich überlegte. Telefonnummer und E-Mail-Adresse seiner Reiseagentur standen in einem großen deutschsprachigen Indien-Reiseführer, das sollte doch Vertrauen spenden. Eine weitere Sicherheit: In Srinagar, von wo er herstammte, schwamm angeblich ein Hausboot auf seinen Namen. Das imponierte mir für einen Augenblick, der Reiseführer Made In Germany jedoch gab den Ausschlag, und ich sagte zu. Diese Zusage beinhaltete nach meiner Rückankunft den Taxitransfer vom Flughafen Delhi zu einem Hotel seiner Wahl, die Buchung zweier Nächte, die Tour zum Tadj Mahal und den Transfer vom Hotel zum Flughafen zwecks Antritts der Heimreise. Das bisschen Reisekomfort stellte ich einfach meinem Alter in Rechnung, dem Nimbus des Wilden Burschen sollte ich ohnedies längst abgesprochen haben.

Der Taj Mahal. Dort war ich nach meiner Rückkehr in Delhi tatsächlich. In einem monumentalen Bekenntnis zur Sitzfleischlichkeit ließ ich mich von einem Fahrer am krachledernern Beifahrersitz seines Mercedes in acht Stunden dorthin und wieder zurück führen. Jede Minute der Fahrt war anregend und aufregend zugleich. Beinahe alles, was ich sah, hatte ich niemals zuvor gesehen. De facto eine neue Kategorie des Wahrnehmens. Und die goethesche Hypothese, wonach man nur sieht, was man weiß oder kennt, pulverisiert wie von einem indischen Arbeitselefanten.

Auf der Ladepritsche eines vor uns herfahrenden Kleinlasters ein abgestelltes Motorrad, besetzt von einem Mann und einer Frau; als seien sie einsatzbereite Agenten, die jeden Moment in spektakulärer James-Bond-Manier die Ladefläche verlassen und die Fortbewegungsart wechseln. Familienlimousinen allerorten, beladen mit zwei, drei Menschengenerationen, vom Gepäckträger bis zum Tank, dazwischen unzählige Lärm und Gestank verbreitende Mopeds. In den Straßen der Dörfer immer wieder körperlich unvollständige Menschen, in ihrer Behinderung in Zwischenwelten abgeschoben, dem Tod näher als dem Leben. Überhaupt schien sich alles Leben in den Straßen abzuspielen, hier wurde geteilt mit den Autos, es gewann, wer unter mehreren oder stärker war. Ich war zwar nur ein Einzelner, dafür war der Mercedes umso massiver und mein Fahrer umso rücksichtsloser im Anvisieren von Menschen- und Autogruppen. Zusätzlich wurde ich exklusiv bequatscht, konnte teilhaben an so mancher Schelte für seine Frau, die im Moment so fürchterlich nervös sei – wie alle Frauen, sobald sie ein Kind erwarteten. Dabei sei das doch die natürlichste Sache der Welt. Oben auf im Fragenkatalog wieder einmal das Umkreisen meines Berufes (reines Täuschungsmanöver), dann: meines Gehalts. Vermutlich rechnete er sich die restliche Fahrt in Relation dazu sein Trinkgeld aus. Er verrechnete sich. Die abschließenden Diskussionen würden das belegt haben.

Dann aber der Taj Mahal. Er war ein willkommenes Ausgleichsprogramm zur Körpersäfte entladenden Hitze, so kühl seine marmornen Baustoffe, so streng seine Architektur. Ein Bauwerk, welches nicht einer Liebe im Sinne von Weichheit und Durchlässigkeit entsprang, sondern einer Liebe aus Reglement, Weisung, beinahe – so empfand ich es im harten Mittagslicht – aus Zurückweisung. Für mich demnach: in Liebesdingen ein Wolf im Schafspelz. Und dennoch diese Bekanntheit als ewiges Liebesglück verheißendes Symbol! Aber es gibt ohnehin Theorien, die eher auf den Größenwahn des Erbauers Shah Jahan schließen lassen denn auf seine Liebesfähigkeit. In dieses trübe Bild fügt sich, dass er sämtliche um den Thron konkurrierende Verwandten töten ließ, um seine Position als Großmogul abzusichern. Ein gigantisches Kunstwerk ist der Taj Mahal gewiss, endlos bestaunenswert in seinen ziersteinernen und kalligrafischen Details und als symmetrisches Gesamtes.

Schon das Schlangestehen zum Ticketkauf ließ eine gewisse Schroffheit erkennen, zumindest für die Inder. Für Amis und Euros wie mich gab’s einen kaum frequentierten Schalter. Der Guide, dem ich vom nun pausierenden Taxifahrer jäh überantwortet worden war, hatte eben noch in pennälerhafter Manier einen Taj-Mahal-Schnellkursus abgehalten, faktenintensiv, geschichtenarm, versteht sich. Nun blieb er außen vor, man duldete keine Fremdenführer in der Anlage. Er gab mir 30 Minuten für die Besichtigung; wenigstens ebenso lange ärgerte ich mich über seine Zeitvorgabe. Und mindestens um ein Dreifaches überschritt ich dann das Limit.

Nach der Besichtigung ging ich mit dem Führer und dem Taxifahrer in ein Touristenrestaurant essen; mehr oder weniger freiwillig auf meine Kosten. Der Fahrer hatte ordentlich Hunger, er bestellte aus der Speisekarte von oben nach unten, mit gelegentlichen Richtungsänderungen. Dankenswerterweise wurde ich über das kommende Programm informiert. Wir würden eine Teppichweberei besuchen. Nett. Dass wir anschließend aber noch einen Steinmetz, eine Stickerei, ein Ledergeschäft und eine Gewürzstube aufsuchen würden, in denen mir Verkäufer, die auf Kundenfang gecoacht waren (jedoch kontinuierlich an mir verzweifelten), ihre edelsteinernen Tischplatten, Tischdecken, Lederjacken und Gewürze anzudrehen versuchten, wurde verschwiegen beziehungsweise unter den Teppich gekehrt. Wenn ich zu Hause in Österreich etwas benötigte, würde ich ein entsprechendes Geschäft aufsuchen, war mein gerauntes Resümee, als ich verärgert wieder im Auto saß und wir die Heimreise antraten; anstatt Teppichen, edelsteinernen Tischplatten, Tischdecken, Lederjacken und Gewürzen dann doch ein klein wenig schlechtes Gewissen im Gepäck. Irgendetwas zu kaufen, hätte mir nicht weh- und ihnen nur gutgetan.

Das Trinkgeld könne ich mir gleich an den Hut stecken, meinte der Fahrer bei der Ankunft in Delhi. Als braver, durch heimatliche Gastronomie- und Gewerbebetriebe konditionierter 10-Prozent-Gabengeber hatte ich mich offensichtlich vertan, als ich, vom 100-Euro-Tourpreis ausgehend, 10 Euro in seine hohle Hand vergrub, die er unversehens wieder ausgrub, sie sofort auf meinen Oberschenkel klatschte, worauf ich den Schein wiederum auf seinen jetzt zurückweichenden Handrücken balancierte, bis er von dort auf die Gummibodenmatte flatterte, wo er besudelt und entehrt vielleicht heute noch liegt. Andererseits schließen sich Geld- und Ehrensachen ohnehin aus; kein Geld fungiert im Dienste wirklicher Ehre, folglich kann es auch nicht entehrt werden – es sei denn, man kommt mit einem von beiden nicht zurecht. Wie eben der Taxifahrer. Ich kam mit allen dreien nicht zurecht, und wir querelten den Innenraum des Taxis voll. Ich hasste den Taxifahrer mitsamt seiner europaanbiedernden Automarke, hatte genug von Delhi, verabscheute Indien. Aus Vergeltung ging ich Pizza essen.

Zu spät bemerkte ich, dass sich der Subkontinent auch damit an mir verging. Die Vergeltung schnellte zurück, als wäre Indien eine einzige, zu dicht gebuchte Squashkabine: Die Pizza schmeckte grauenhaft. Ich erhob mein Bierglas auf die zivilisierte westliche Welt, Ideale wie Gleichheit und Umverteilung gerieten zu Schaumbläschen; in einem einzigen Schluck spülte ich diese mit einem Schwall Heineken-Export hinunter.

218 m

Wiederum aus der Kategorie des neuen Wahrnehmens: Was ich niemals zuvor gesehen hatte …

Da war ein Uniformierter mit kaninchenjagdtauglichem Doppellauf-Schrotgewehr vor einem Juweliergeschäft. Englische Feudalherren konnten es weiland auf einer Kaninchenjagd verloren haben. – Ein Haus, voller unmissverständlicher Spuren des Bewohntseins, dem letzten Stock fehlte das Dach, was sich auf den Wohnkomfort niederschlagen musste. – Die unmittelbare Betrachtung der behäbig sinkenden Sonne in der Totalen, ohne Filter oder rußgetöntes Okular, dabei unterblieb das Augenflimmern – dem Smog sei’s gedankt! Alles, was unter der Leuchtkraft einer Sonne rangierte, verschwand im Morast des Großstadtdunstes, wurde von ihm verschluckt. Die Menschen hier hatten sich wohl mit dieser dauerhaften Unvollständigkeit abgefunden, fragten nicht mehr nach den fehlenden Dingen.

Ich kam aus dem Schauen und Staunen nicht mehr heraus, fühlte mich meinem Kindsein nahe. Nichts würde ich gegeben haben für diese ewige ewige Jugendhaftigkeit, dieses panische Anhaften an ihr, alles aber für das Schauen von einst und die Sammelsurium-Gefühle dahinter, absichtslos und zugleich voller Erwartungen. Dieses Kindsein holte mich beinahe ein, längst Vergessenes drängte sich vor, vermengte sich mit dem zu Sehenden, tönte, bereicherte es. Die zum Bersten gefüllte Sanduhr stob ihre Runden – am ersten Tag wähnte ich mich bereits seit Wochen hier. Indien erschien mir derartig prall gefüllt, ich übersättigte mich an ihm, bis zum Erbrechen, gleichzeitig konnte ich nicht genug davon bekommen. Eine fresslüsterne Krankheit, die niemals Erlösung fand, sie nährte und verstieß sich selbst zur gleichen Zeit.

Allein die Armut. Es machte betroffen, auf welch kümmerliche und erfinderische Weise hier manche Menschen ihr Geld verdienen mussten, wie sie es zuwege brachten, ihren Magen betriebswarm zu halten. Welten entfernt von ausufernden Essstörungen. Und dennoch – gerade deswegen – war es nirgendwo leichter, ein Lächeln zu fangen, man wurde förmlich zum Jäger des verlorenen Lachens. Dieses Lachen schien bei den Leuten irgendwo innen befestigt, vermittels Seelenverschraubungen und anderem Befestigungszeugs; den dazugehörigen Werkzeugschlüssel mussten sie, unsichtbar für uns, stets bei sich tragen. War es dieses Lächeln, wonach ich gierte? Feinkörnige Nahrung für die Seele, anstatt popcornig aufblähender Mageninhalte? War mir nach so einem Tauschhandel? – jagte ich durch die verkloakten Straßen Delhis, um einen Kuh-Coup zu landen? Um dabei den Leuten das Nichts oder das Beinahe-Nichts, ihre Armut also, die vielleicht doch etwas Essenzielles in sich barg, etwas, das mir fehlen mochte, auch noch abzuluchsen? Ich erbrach mich gedanklich an solch einem Unterfangen.

 

Ein kleines Kind saß in der Straßengülle, die sich teilweise bewegte, und bot sich an als Wirtstier. Das muntere, mikrobenkosmische Treiben hielt es nicht davon ab, an seinen Brotkrümeln zu nuckeln. Aus einem Gewürzladen daneben preschte eine junge Frau, wahrscheinlich die Mutter, packte ihr Wirtstier und verschwand wieder im Geschäft. Vor mir hatte sie Furcht, vor den Mikroben nicht.

Reis! Ich wolle Reis? Normalen Reis? Ja, ich wollte Reis zum südindischen Paneer Butter Masala, bestehend aus indischem Käse in Kokossoße, mit Dosai, das ist eine Art aufgeblähtes Fladenbrot aus Reismehl, gefüllt mit Kartoffelpaste, das zum Baumstamm gerollt vor mir lag, umgeben von einem Feuerkranz maxi scharfer Currys und Chutneys. Ich zerstörte ein auf Gaumenverzückung hin gearbeitetes, auskomponiertes Gericht und rüttelte gehörig an der Nobelrestaurantphilosophie.

Bereits von außen war dem Lokal seine elitäre Bestimmung anzusehen. Eine Menschenmenge, die sich ohne viel Aufhebens zu einer ansehnlichen Warteschlange zurechtgeringelt hatte, begehrte Einlass. Als ein in jeder Lebenslage zahlungspotenter Okzidentler war ich anscheinend über leidiges Kastengeplänkel erhaben und wurde vorgelassen, ohne es einzufordern. Oder sie hielten mich einer Geheimkaste zugehörig, von der ich selbst gar nichts wusste; Okzidentlerkaste oder so. Ich musste an meine Zusatzkrankenkasse denken. Ein Platzanweiser mit eigenem Standortbüro – das da war ein Schreibtisch, darauf ein imposantes Zettelwirrnis –, ein Uniformierter polizeilicher Herkunft und ein Uni-formierter fraglicher Herkunft führten eindringlich vor Augen, was Kaste ist: Sie ebneten mir den Weg durch all die reservierten und besetzten Tische bis zu einem Platz, den ich nicht reserviert hatte, dann aber trotzdem besetzen durfte. (Bei meinen exorbitanten Zusatzkrankenkassenbeitragszahlungen nur ausgleichend gerecht.)

Das Lokal war überschwemmt mit Personal. Ich rechnete hoch: Die vielen Arbeitsschritte von der Zubereitung der Speisen bis zu deren Auftafelung mochten locker ausreichen, um auf jeden Angestellten extra aufgeteilt zu werden; und selbst dann musste das noch herumstehendes Personal ergeben. Ich bangte, ob ich wohl noch für das Verspeisen alleine zuständig sei.

Während immer neue Kellner aus allen möglichen Öffnungen ins Lokal huschten, machte sich in mir eine leichte Beunruhigung breit, sie übertrumpfte gar meinen Hunger. Die Leute aßen mit der Hand. Ich saß also vor dem Baumstamm, an ein Zersägen oder wenigstens Zerteilen mit Esswerkzeug war nicht zu denken. Einer der vielen Kellner, der mir das Gericht empfohlen hatte, musste das mit Absicht getan haben; als zusätzliche Herausforderung hatte man einen einzigen Löffel aufgedeckt. Am Teller also die scharfen Currys und Soßen, ein Feuerring, der an den Baum wollte. Mit den Händen (also noch reinen Gewissens) brach ich ein Stück vom gerollten Fladenbrot ab, nahm es in die linke Hand, legte den Rest ab – vom esskulturellen Standpunkt aus wähnte ich mich gut im Rennen – nahm den Löffel in die rechte Hand, langte damit in die weiße Soße, die an einen bindungsarmen Holzleim erinnerte, träufelte sie auf das Brotstück in der linken Hand, führte es zum Mund … HALT! Umgekehrt. Ich befand mich in Indien! Hier isst man mit rechts, weil man mit links das tut, was man bei uns ganz anders macht. Damit sind wir aber ziemlich alleine; auch laut Koranauslegung ist die linke Esshand des Shaitans (»des Teufels« laut Bibelauslegung). Ich blickte mich um, niemand schien meinen Fauxpas bemerkt zu haben. Der Mann am Nachbartisch griff zwar zum Telefon, aber … kaum anzunehmen, dass ich ihm eine Denunzierung wert war.

Zweiter Anlauf. Mit den Händen brach ich ein Stück vom gerollten Fladenbrot ab, nahm es in die rechte Hand, legte den Rest ab, nahm den Löffel in die linke Hand, langte damit in die weiße Soße, die nach wie vor an einen bindungsarmen Holzleim erinnerte, träufelte diese auf das Brotstück, legte den Löffel ab und nahm das Brot in die linke Hand … NEIN, nicht schon wieder. Der Nachbar meldete sich laut brüllend am Telefon und ich erschrak ungemein.

Es schmeckte ausgezeichnet.

Als Musikbegleitung wurden einmal mehr Schlager kredenzt, geschluchzt von einer weiblichen Stimme, eng umschlungen mit einer männlichen. Das verhielt sich konträr zur Sangeskultur der westlichen Welt, die sich ja eher geschlechtssingulär zeigt. Hier wurde also Zweisamkeit demonstriert, man hatte sich gefunden. Bei uns sucht man sich noch.

Das Busticket nach Manali war unerklärlicherweise verloren gegangen; ich hatte es mir durch duldsames Zuhören quasi ersessen, Samir hatte bei der Ausstellung unaufhörlich geschwatzt. Entweder war es von selbstauflösender Konsistenz oder die Übergabe ging im Schwall der schwärmerischen Landliebesbezeugungen unter, kam nie zustande und keiner hat’s bemerkt. Anwesend war noch der Bruder Samirs. An ihn hatte ich verloren, gerne verloren:

1 000 Rupien (Bakschisch),

1 Kugelschreiber,

1 Schere.

Ehe ich mein Leben verloren hätte, hätte er seines gegeben, so hilfsbereit und aufopfernd hatte er sich gebart. Ein He-is-my-friend genügte, um dem Busfahrer ein zustimmendes Nicken abzugewinnen, und ich konnte bar jeglicher Fahrkarte vierzehn Stunden lang mit dem Bus himalajawärts fahren. Dort, von wo der Bruder herstamme – selbstredend Kaschmir –, hätten die Menschen riesige Häuser, erzählte er mir noch schnell vor der Abfahrt. Als Rechenexempel: Auf 21 Zimmer kämen sechs Personen, hier in Delhi auf drei neun. Im Kaschmir war eben alles besser, das wusste ich in der Zwischenzeit bereits. Dass Michael Jackson tot sei, hätte ich sicher schon erfahren, oder? Ja, hätte ich.